Fragmente aus dem abgründigen Künstlerleben

von Sarah Heppekausen

Recklinghausen, 30. Mai 2015. Milan Peschel steht da wie in einem Magritte-Bild. Im Anzug, die Melone vorm Gesicht, hinter ihm der Wolkenvorhang. Er sagt: "es ist ja ein stück über mich, also nicht ich, sondern ich als figur." Darüber müsste man jetzt eigentlich erst mal nachdenken. Über den Schauspieler als Abbild, über den Surrealismus und das Wundersame der Wirklichkeit, über Mensch-Sein und Rollen-Spiel.

Muenchhausen 560 ArnoDeclair uMünchhausen mit Melone vorm Wolkenvorhang: Milan Peschel   © Arno Declair

Schnelles Spiel mit der Wahrnehmung

Aber dafür bleibt gar keine Zeit. Weiter im Text. Oder im echten Leben eines Schauspielers? Ohne lange Pause erzählt Peschel von seinem Kollegen, dem "Zalando-Franzosen", auf den er wartet, mit dem er "Münchhausen" spielen soll, der aber zu spät zur Vorstellung kommt. Weil der noch für Zalando arbeiten muss? Weil dessen Zwillinge verwechselt wurden? Oder weil er sich selbst verwechselt hat?

Das macht mächtig Spaß. Dieses schnelle Spiel mit der Sprache, mit der (Selbst)Wahrnehmung, mit den Bezugsebenen. Armin Petras hat mit "Münchhausen" einen Monolog geschrieben, der auf knapp über 30 Seiten theatertheoretische und lebensphilosophische Themen kurzschließt ("schön ist wenn man sone figur gefunden hat und dann nicht mehr weiß woher die eigentlich gekommen ist", "das leben ist ja eh so ne art krisenüberprüfungsanordnung"). Einen Monolog, der in einem Satz vom Künstlerpech leerer Zuschauerreihen und von der verlogenen Vierten Wand erzählt. Und der für das Theater folgende Beschreibung vorschlägt: "da ist die begegnung zwischen dir und dem material und wieder dir und dann gibt's da noch nen kollegen". So funktioniert das Spiel aus der Sicht des Spielers.

Für seine Fragmente aus dem abgründigen Leben einer Künstlerexistenz bedient sich Petras bei Genets "Der Seiltänzer" und Nietzsches Seiltänzer-Parabel aus dem Zarathustra. Aber in Jan Bosses Uraufführung bei den Ruhrfestspielen spielen die Gedankengeber offenkundig bloß noch als Textlieferanten eine Rolle. Milan Peschel trägt ein Reclamheft in der Jackentasche, um mehr oder weniger zusammenhanglos aus dem Zarathustra zu zitieren ("ist ja auch ne dienstleistung ne form von einem transport von so texten / von so figurengedingse").

Die Eitelkeit der Rampensau

Und Peschel zitiert sich selbst, also sich selbst als Schauspieler. Wenn er Szenen von Tschechow und Büchner spielt und aus Tolstois Anna Karenina, die Bosse 2008 bei den Ruhrfestspielen inszenierte, dann ist das ein durchaus furioses "Figurengedingse". Dann ist die Sprache im Fluss. Spricht Peschel als Figur seiner selbst, dann setzt er auch mal Pausen innerhalb einzelner Wörter, als müsse er die nächste Silbe erst noch denken. Für einen Schauspieler ist eben alles Material, selbst die eigenen Gedanken.

Und Peschel zelebriert dieses Materialfest. Er imitiert den Regisseur als Scheinriesen, er animiert das Publikum zum Armheben für das Gemeinschaftsgefühl, er gleitet durch ein unbekanntes Bühnenbild hinterm Vorhang als könne er einfach jeden Stuhl besetzen, jedes Requisit stilsicher in Stellung bringen. Peschel zelebriert die Eitelkeit der Rampensau. Und die Unsicherheit eines Darstellers, der in eben dieser Eitelkeit verletzt wird. Es ist eine Freude, ihm dabei zuzuschauen.

Verzweiflung im Absurden

Meistens jedenfalls. Manchmal droht der Abend auch zu zerfasern. Wenn der "Zalando-Franzose" (Martin Otting) als Münchhausen zum Ende doch noch auf die Bühne tritt, lässt Bosse ihn die ersten Zeilen des Monologs noch einmal aufsagen. Soll das die Lüge, den Kern des Spiels entlarven? Das wäre nicht nötig gewesen. Peschel spricht von der Lüge als Produktivkraft, von der Lüge als Utopie. Wofür diese Doppelung?

"Man ist kein Künstler, wenn nicht ein großes Unglück mit im Spiele ist", heißt es in Genets "Seiltänzer". Dieser destruktive Ansatz findet bei Peschel einen weniger deutlichen Ausdruck. Gedankentiefe wirkt hier immer auch leichthändig-verspielt. Das passt gut in unsere heutige Zeit. Aber wenn Peschel sich im Vorhang ein- und verwickelt, dann ist da doch auch eine Verzweiflung spürbar. Eine Verzweiflung im Absurden. Es ist wie bei Magritte. Seine Wolken-Mensch-Bilder haben bei all ihrer Sachlichkeit immer auch etwas Trauriges.

 

Münchhausen
von Armin Petras
Uraufführung
Regie: Jan Bosse, Ausstattung: Kathrin Plath, Dramaturgie: Ulrich Beck.
Mit: Milan Peschel, Martin Otting.
Dauer: ca. 1 Stunde 40 Minuten

www.ruhrfestspiele.de
www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Der Fast-Monolog "Münchhausen", den Armin Petras Milan Peschel "auf den Komödiantenleib" geschrieben habe, nutze "den charismatischen Lügner eher als Referenz für ein selbstironisches, philosophisches Spiel über das Theater selbst", meint Stefan Keim auf Deutschlandradio Kultur (Zugriff 1.6.2015). Peschel steigere sich "zu explosiven Momenten, wirbelt, tanzt eine Musicalnummer, animiert das Publikum, holt einen Zuschauer auf die Bühne und erzählt ihm alte Witze. Zwischendurch sackt die Energie immer wieder in den Keller, natürlich mit Absicht, denn es geht ja darum, die Leere zu spüren, die dann der Schauspieler, der Narr, der bezahlte Lügner füllen soll." Das Ganze sei ein "geisteswitzsprühendes Sahnehäubchen, ein gedankenverspieltes Gourmetdessert für Kenner und solche, die es werden wollen. Es wird nicht allzu tief gegründelt an diesem Abend, aber das Publikum wird oft überrascht, intellektuell angestupst und bestens unterhalten."

"Münchhausen" sei "eine Liebeserklärung an das Theater, scheinbar aus dem Stegreif improvisiert", schreibt Kai-Uwe Brinkmann in den Ruhrnachrichten (1.6.2015). "Als Bewusstseins-Strom eines Spielers, der plaudert und plappert, sich in Fragmenten von Tschechow, Tolstoi, Dostojewski (?) verheddert und davon schwärmt, mit dem Spielen gar nicht mehr aufzuhören." Was "auf dem Papier verkopft" klinge, werde mit Milan Peschel "farbig, unterhaltsam und gewitzt, auch weil Jan Bosses Inszenierung (...) mit amüsanten Ideen nahe am Slapstick aufwartet." Immer wispere "auch die zweite reflektorische Ebene mit: Was machen wir am Theater? Für wen machen wir es? Wie fühlt sich ein Mime, der ständig in Rollen schlüpft?"

Nach der Berlin-Premiere dieser Produktion im September 2015 schreibt die Hauptstadtpresse:

Eigentlich wollte er wie üblich eine Kritik verfassen, bekennt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (19.9.2015). "Stattdessen denke ich über mich als Zuschauer, als Kritiker, als Jetztzeitbewohner nach." Dieser Theaterabend sei "mehr als eine Putzigkeit. Er ist unerhört mutig, weil nicht durch die üblichen Reflexionsseile abgesichert. Peschel spielt Peschel als einen, der sich selbst nicht über den Weg traut." Das "Verführungsangebot dieser Inszenierung" ist für den Kritiker: "einfach so lange sich selbst und diesem Spieler zuschauen, bis das Spiel seine Drolligkeit verliert. Es geht um das Theater hier und heute. Es geht um ihn. Es geht um mich."

Wie "eine kleine Fingerübung" mutet dieser Abend Christine Wahl vom Tagesspiegel (19.9.2015) an. "In überraschende beziehungsweise überhaupt tiefere Regionen wird hier definitiv nicht vorgedrungen. Vielleicht ist Milan Peschel ja deshalb in jenen Szenen am besten, in denen er sich improvisierend vom Text entfernt. Seine Verbeugung als kaugummikauende Frank-Castorf-Kopie – nach einer stilechten Musicalnummer mit Schirm und Melone – darf als Höhepunkt des Abends gelten."

 

Kommentare  
Münchhausen, Berlin: Hut ab
Gestern war Münchhausen am Deutschen Theater zu sehen, ein vergnüglicher und kurzweiliger Abend, wenn auch manchmal ein bisschen 'wenig auffe Hacken'. Den ziemlichen Textberg - wenn man da jetzt die ganzen Zitate und Bezüge verstehen würde ("SCHWARZE FAHNEN") - bewältigte Milan Peschel mit links und größtenteils komisch, Hut ab.
Münchhausen, Berlin: Spiel des Lebens
Peschel zitiert eigene Rollen, rezitiert sich durch Tschechow und Büchner und Tolstoj – zunächst noch klar begrenzt, später dann in einem textlichen Amoklauf kaum mehr trennbar durcheinander geworfen und mit – vermeintlich – eigenen Geschichten und Gedanken durchwirkt. Mensch und Spieler, Wahrheit und Lüge, Realität und Fantasie sind da nicht mehr auseinanderzuhalten und die existenzielle Frage, wer man ist unter all den Rollen, die man spielt, steht im Raum und wirkt über die Bühne hinweg. Und plötzlich steht hier Existenzielles auf dem Spiel, die ganze Idee des Ichs, der definierbaren Identität und Individualität, der Kern unserer Vorstellung, was es heißt, ein Mensch zu sein. Peschel gibt keine Antworten, vielleicht aber Otting, der zum Ende die scheinbar persönliche Eingangsansprache des Kollegen wortgenau als seine eigene wiederholt. Da bleibt Peschel nichts anderes, als davon zu laufen. Nur um gleich wieder hinter dem Vorhang hervorzulinsen. Das Spiel des Lebens erlaubt es nicht, ihm zu entfliehen. Und so spielen wir einfach weiter, bis uns nichts mehr peinlich ist.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/10/12/bis-nichts-mehr-peinlich-ist/
Münchhausen, Berlin: zu lang
Milan Peschels „münchhausen“: Mit Schirm, Charme und Melone, aber zu wenig Tiefgang

Ein vertrautes Gesicht kommt zurück auf die Bühne: Milan Peschel, eine der Größen vergangener Volksbühnen-Zeiten (1997-2008) und ein Eckpfeiler des Gorki der Petras-Ära, der zuletzt eher auf der Kinoleinwand zu sehen war, linst hinter dem mit kitschig-blauen Wolken bedruckten Vorhang hervor. Mit Schirm, Charme, Melone und einer kleinen Verspätung kommt er auf die Bühne. Da sein Bühnenpartner, ein Franzose, der mittlerweile bei „Zalando“ arbeitet, um die Familie zu ernähren, nicht auftaucht, plaudert Peschel erst mal los.

Einige Anekdoten dieses münchhausen-Solos, zu dem erst kurz vor Schluss Martin Otting hinzustößt, sind ganz hübsch anzuhören: an Champions League-Abenden spielen einige Kollegen extra schnell, um noch rechtzeitig zu Bier und Chips auf die Couch zu kommen. Die Frauen sind davon genervt und spielen provozierend langsam. Milan Peschel erzählt mit seinem charakteristischen schelmischen Grinsen, dass er an solchen Abenden dann gerne mit Tempo-Variationen noch zusätzliche Verwirrung stiftet. Auch seine Frank Castorf-Parodie sorgt für einige Lacher: Peschel malt sich aus, wie sein alter Kumpel ihn demnächst wieder anrufen wird, dass er doch dringend einspringen müsse, da einige Kollegen die Exzesse der Berlin-Premiere der siebenstündigen „Brüder Karamasow“ nicht überstehen.

Für eine gute Stunde könnte so ein Abend wunderbar funktionieren. Aber die fast zwei Stunden nehmen leider Kurs auf seichte Gewässer: Zwischen Zigarettenqualm und Bierkonsum tigert Peschel durch das Gerümpel auf der Hinterbühne und bittet einen älteren Herrn auf die Bühne, dem er Uralt-Kalauer erzählt. Sehr verständlich, dass ein älteres Ehepaar zum Ausgang flüchten will, dabei aber in die falsche Richtung irrt. Peschel ist so charmant, eine kurze Pause in seinen Monolog einzulegen und den beiden anzubieten: „Gehen Sie doch einfach hier vorne vorbei“. Er vergisst auch nicht, den beiden noch ein „Schönes Wochenende“ zu wünschen.

In den Monolog streut er Ausschnitte aus alten Tschechow-Aufführungen und vor allem aus der „Anna Karenina“-Inszenierung, die er mit Fritzi Haberlandt in der Regie von Jan Bosse am Haus von Armin Petras spielte. Petras und Bosse waren auch an diesem „münchhausen“-Abend beteiligt: der eine schrieb die Vorlage, der andere führte wieder Regie.

Als dritten Themenstrang hat Peschel einige Reflexionen über den Theaterbetrieb eingeflochten. Zwischen Slapstick, einem „Aufhören!“-Zwischenruf, den Peschel mit einem knappen „Neee, geht noch weiter!“ an sich abprallen lässt, und dem nächsten Schluck Bier finden sich zwar immer wieder auch ein paar nachdenkliche und nachdenkenswerte Sätze, „Was zum Mitnehmen“, denn das Publikum soll ja „nicht nur Faxen konsumieren“. Aber die Durststrecken dieses Abends sind zu lang, so dass es keine Überraschung ist, dass einige Peschels Parole „Da müssen wir gemeinsam durch!“ nicht länger folgen wollen.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/26262-26262.html
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