Französische Gartenpflege deutscher Dramatik

von Ute Nyssen

Paris, Mai 2008. Deutschsprachige Autoren können sich in Paris nicht über mangelndes Wohlwollen beklagen, obwohl das französische, erst recht das Pariser Publikum, insbesondere aber das Theatersystem so ganz anders ist als in Deutschland. Der Weg zur Métro, in das Théâtre des Abesses am Montmartre zu Ernst Tollers "Hop là, nous vivons!" (Hoppla, wir leben!) in der Inszenierung von Christophe Perton, führt durch den 370 Jahre alten Jardin des Plantes. Wenn man die aufwendige Pflege dieses zauberhaften Lehrgartens beobachtet, begreift man, dass das Verhältnis zur Vergangenheit und deren Schönheit ebenfalls ein anderes ist.

Entdeckerlust auf deutsche Autoren

Und dieses andere Verhältnis zur Vergangenheit steckt wohl auch hinter der Entdeckerlust des Regisseurs Perton, inspirierte ihn, frei von der Besserwisserei des Nachgeborenen, zu der unbefangenen Wahl eines vergessenen deutschen Stücks. Sein Vertrauen auf das Wort eines Autors scheint mir symptomatisch für eine französische Haltung, und seine fulminante Toller-Inszenierung brachte eine überraschende Lebendigkeit des Textes zutage.

"Was, immer nur Arbeit? Ich will leben, hier und jetzt", schmettert der Held Karl Thomas den Genossen entgegen, und gerade seine diffuse Kritik an den Verhältnissen, das Verlangen, etwas zu tun ohne Parteiprogramm, trifft die heute verbreitete Stimmung genauer als sein Zeitgenosse Brecht. Die Regie lässt Szenen sozialer Gegensätze krass wechseln, mit Filmeinblendungen, Licht- und Farbsignalen schafft sie über Collage-Effekte auch stilistisch ein nervöses Kolorit der 20er Jahre. Ohne jede äußere Aktualisierung war in der Figur des machtgeilen Ministers, mit dem sprechenden Namen Kilmann, die Ära Sarkozy präsent.

Anderes System

Die Aufführung wurde nominiert für den "Molière 2008" als beste Produktion eines subventionierten Theaters (Théâtre Public) in dieser Saison. Teilsubventioniert muss es genauer heißen, denn subventioniert wie die deutschen Stadt- und Staatstheater ist hier ausschließlich die Comédie Francaise.

Dazu ein kurzer Exkurs: Das französische Theater kennt kein Ensemble; Teilsubventionen erhalten einige Truppen; die Probenzeit finanziert die staatliche Arbeitslosenunterstützung; die Pariser Häuser sind meist nur Stationen eines Koproduktions- und Tourneebetriebs; gespielt wird grundsätzlich en suite, ca. vier Wochen lang. Auf die eminente Bedeutung der 40 großen Privattheater kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. So etwas wie das deutschsprachige Regietheater mit seiner oft publikumsfernen Experimentierfreude – das sicher im Netz der Subvention aufgefangen wird – kann sich hier niemand leisten. Will auch niemand, denn das Verständnis von Theater ist ein anderes, stärker publikumsbezogenes.

Drang zu Texten, die woanders ihre Feuerprobe bestanden haben

Es gibt pro Abend in Paris 500 Sprechtheaterangebote. Das Publikum liebt die Schauspieler. Ein riesiger Markt erlaubt haargenaue Besetzungen und, mit Verlaub, die meisten Schauspieler wirken individueller und einprägsamer als ihre deutschsprachigen Kollegen inzwischen, die, als "Material" eingesetzt leider oft wie zweitrangig anmuten.

Der En-suite-Spielplan hat zur Folge, dass nur wenige französische Autoren den Aufstieg schaffen. Es war und ist das voll subventionierte deutschsprachige Repertoiretheater, das von Ibsen bis Pinter, unterstützt von 120 Sprechtheatern mit ihren Nachspielmöglichkeiten, als Amme für die Etablierung der internationalen Dramatik fungiert. Ein ästhetisch ungewohntes, innovatives Stück kann sich nicht innerhalb von vier Wochen durchsetzen. Yasmina Reza und Eric-Emmanuel Schmitt, Zöglinge der Privattheater, beweisen, dass es nicht am mangelnden französischen Talent liegt, nein, es liegt am System.

Um nicht von neueren dramatischen Entwicklungen abgehängt zu werden, stürzen sich inzwischen die hiesigen Theatermacher auf neue Stücke aus dem Ausland – denn die haben ihre Feuerprobe im eigenen Land schon überstanden.

Vorliebe für den Expressionismus

Ein weiteres Wagnis mit einem abseitigen deutschen Text muss wenigstens erwähnt werden. Der Regisseur Bruno Meyssac zeigte im Théâtre de la Colline "Kräfte" von August Stramm und holte ein geniales, konsequent modernes Stück von 1915 ans Licht. Sein Versuch spiegelt die typische Vorliebe für den deutschen Expressionismus. Das ästhetische Nachholbedürfnis gegenüber der deutschen Vor- und Nachnazizeit, das sowohl einer neuen politischen Einstellung als auch dem Abbröckeln des französischen Kulturchauvinismus zuzuschreiben ist, beschränkt sich jedoch nicht auf Deutschlands verborgene Schätze, sondern führte zu einer umfassenden Beschäftigung der Theatermacher mit deutschsprachiger Dramatik.

Seit den 70/80er Jahren, als an den Pariser Theatern noch vornehmlich die boulevardeske Meterware das Bild prägte, haben sich viele Spielpläne radikal verändert. Von den anspruchsvollen modernen oder heutigen deutschsprachigen Stücken, die etwa während der letzten vier Jahre in Paris zu sehen waren und die früher (so wie heute noch in England) so gut wie keine Chance hatten, das Publikum zu erobern, liste ich der Einfachheit halber nur die Namen der Autoren auf:

Brecht und Horváth als Dauerbrenner; dazu Wedekind, Schnitzler, Georg Kaiser, Karl Valentin, Dürrenmatt, Frisch, Tabori, Weiss, Hildesheimer; Thomas Bernhard, Fassbinder, Heiner Müller, Schwab, Dorst, Handke, Strauß, Lutz Hübner, Mayenburg, Loher, Bauersima, Falk Richter oder David Gieselmann; seltener schaffen es Autoren wie Rainald Goetz oder Elfriede Jelinek, denn deren Theater erzählt keine Geschichte. Und das wirkt hier bislang noch fremd.

Theaterverlag l'Arche als Exportartikel

Dennoch brachte in der vorigen Spielzeit der Regisseur Marcel Bozonnet Elfriede Jelineks "Jackie" heraus. Auf einem blumenübersäten Friedhof sehen wir sie zunächst als die antike Witwe Andromache (hier denkt man dabei an Racine), vom Chanel-Kostüm wird sie in das Medienidol verwandelt, und dann schrumpft sie zur Ikone einer trauernden Präsidentengattin. Die harte Kritik dieser Prinzessin am American Way of Life war bezeichnender Weise gestrichen, aber die anmutige französische Schauspielerin legte die weichen, anrührenden Schichten frei. Das Théâtre du Rond Point war immer ausverkauft.

Ein Teil des Wandels der Pariser Bühnen verdankt sich einem deutschen "Exportartikel": Rudolf Rach und Katharina von Bismarck führen seit rund 25 Jahren ihren Theaterverlag l'Arche, lassen auf eigene Kosten Übersetzungen anfertigen und sorgen für Buchausgaben (nicht nur von deutschsprachigen Stücken). Theaterverlage, im deutschsprachigen Raum für die Vermittlung von Theaterstücken selbstverständlich und lebensnotwendig, waren bis dahin in Frankreich unbekannt.

Die regelmäßigen, stark besuchten deutschen Gastspiele mit Marthaler-Inszenierungen und Produktionen der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz tragen das Ihre zum Erhalt der französischen Neugier auf das so "andere" deutsche Theater bei, und diese ist anhaltend stärker, als das umgekehrt der Fall ist.

Das Theater und die Realität auf der Straße

Auf dem nächtlichen Heimweg, nach dem Besuch des Théâtre Gérard Philipe in Saint Denis, wo Lukas Hemleb eine wunderbare Synthese aus deutscher Regiearbeit und eleganter, sprachlich virtuoser französischer Schauspielkunst zustande gebracht hatte (mit einem Klassiker, dazu im nächsten Theaterbrief), muss ich, allein, eine längere Strecke durch eine Fußgängerzone zurücklegen. Nur schwarze Jugendliche, die aggressiv mit leeren Blechdosen herumkicken, sich was Ordinäres zurufen, lachen. Ich wünsche mir eine Tarnkappe, denn diese für mich eher bedrohliche Gegenwart, bringt mir ein wieder ganz anderes Frankreich vor Augen, hier in der berüchtigten Banlieue, wo 2005 massenhaft die Autos brannten. Aber heute habe ich nur jugendliches Straßentheater gesehen, flüstere ich mir beruhigend zu und steige schnell in die Métro.

 

Ute Nyssen
Dr. phil., Bühnenverlegerin, mit Jürgen Bansemer Gründung eines eigenen Theaterverlags. Herausgeberin mehrerer Buchausgaben, u.a. mit Stücken von W. Bauer, E. Jelinek, B. Behan, Th. Jonigk. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Rundfunk.