Lieben Sie Wagner?

von Matthias Schmidt

Dresden, 29. März 2018. Es beginnt mit Nebel und fetten, pathetischen Streichern. Und Rennen und Strampeln und Lautsprechen. Mit einer weißen Riesen-Leinwand auf einer leeren Bühne. Mit ruhelosen, gehetzten, leicht hysterisch wirkenden Kreaturen, die sich selbst und die Liebe suchen in einer irgendwie verqueren Welt, dabei stets zwischen dem Dostojewski-Universum und diversen Diskursen über die Kunst und das Theater herummäandernd, zwischen Komik und Alberei und Drama und Angst. Fast drei Stunden werden sie im Halbdunkel herumgeistern und dabei spielen und sprechen, als ginge es um ihr Leben. Am Ende stehen sie, nass und verschmiert und redlich geschafft, in einem in Dresden lange nicht dagewesenen Gebrodel aus Beifall und Jubel einerseits sowie Buhrufen und frustriert wirkenden Herauseilern andererseits.

Aus Leipzig kommend, möchte man den Dresdnern, auch denen, die vorzeitig den Saal verlassen und denen, die am Ende nach Kräften gebuht haben, zurufen: Jauchzet, frohlocket, denn jetzt habt auch ihr einen echten Hartmann. Jetzt könnt ihr selbst erleben, wie es sein kann, das Theater, wenn es die Konventionen sprengt, frei und wild, respektlos und verrückt und, ja, auch anstrengend. Was wirklich ganz und gar nicht hämisch gemeint ist, im Gegenteil.

erniedrigte2 560 Sebastian Hoppe u Im Bühnennebel des Daseins: Moritz Kienemann, Eva Hüster, Yassin Trabelsi, Viktor Tremmel, Nadja
Stübiger, Lukas Rüppel, Torsten Ranft, Fanny Staffa © Sebastian Hoppe

Zudem erklärt diese Inszenierung mehr als alle Leipziger Inszenierungen zusammen (und die Berliner und Frankfurter, die ich kenne) den Regisseur Sebastian Hartmann und seine Arbeitsweise: Sie erläutert – so man nicht auf Ablehnung geschaltet hat, weil sie so weit vom Wege abschweift, wie es unter Wilfried Schulz in Dresden meines Wissens nie vorkam – wie der Text und die Einsprengsel (unter anderem von Wolfram Lotz), wie Romantext und Improvisationen und Bühne und Bildende Kunst (unglaublich, was Tilo Baumgärtel hier abliefert – Kunstgeschichte, groß gesagt) und Musik und Bewegung ineinandergreifen, sich ergänzen und überlagern. Gesamtkunstwerk klingt seltsam, ist kaum aussprechbar, trifft es aber. Diese Inszenierung ist, gibt man sich ihr hin, wie eine Droge. Tut man es nicht, kann sie einem, zugegeben, ziemlich auf die Nerven gehen.

Erst recht, sollte man erwartet haben, eine Sankt Petersburger Geschichte erzählt zu bekommen. Die ist, was bei Hartmann noch nie anders war, nur eine von vielen Ebenen der Inszenierung. Lokal- oder Zeitkolorit? Fehlanzeige. Narrative Linien? Lange nicht erkennbar. Erst nach einer Stunde wird, beispielsweise, der Romananfang gesprochen, chorisch. Doch etwas ist anders als sonst bei Sebastian Hartmann. Er scheint zum Publikum zu sprechen, teils mit der Hamburger Poetikvorlesung von Wolfram Lotz, teils ganz direkt. Sinnlich will er verstanden werden und nicht mit dem Verstand, hören wir. Nicht um den Roman geht es, sondern um die Zuspitzung von Alltagserfahrungen, nicht um die Handlung, sondern um den Sound.

Wirklichkeitsbombardement

Vor allem um den Sound! Hier soll keine Geschichte erzählt werden, hier werden Konventionen gebrochen. Die Metaebenen jagen einander. Exkurse über Exkurse, die – folgt man ihnen – ein Manifest des Hartmannschen Theaters ergeben. Surrealismus, Psychoanalyse, Dramaturgie, die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft, die "Sozialfunktion des Asozialen". Alles hat mit allem zu tun, Dostojewski wird "denaturalisiert" und einem "Wirklichkeitsbombardement" unterzogen. Auch selbstironisch geht es zu: immer mal wieder fallen Sätze, die das Ganze auf die Schippe nehmen. "Wollen wir dieser Szene nicht ein Ende machen?" (zustimmender Szenenapplaus).

Für alles zusammen aber gilt: der will nur spielen, und zwar ganz und gar. Dafür ist er gebucht, und also macht er es. Der hat auch Selbstzweifel, das klingt an, aber er bezwingt sie. Kompromisslos. Wahrscheinlich ist diese gedankliche Freiheit wirklich nur mit einer Portion Größenwahn zu erreichen. Nichts anderes ist es, was in Dresden zu sehen war, vor den Augen vieler Fans aus Berlin und Leipzig: großes, größenwahnsinniges Theater. Apropos, Frank Castorf saß Reihe 10 Mitte, sozusagen platzhaltend auf dem Regieplatz. Hätte er noch ein Theater und suchte er eine neue Sophie Rois – Nadja Stübiger wäre sicher auf der Liste. Torsten Ranft, um im Bilde zu bleiben, agierte streckenweise hübchenhaft. Wie überhaupt das Ensemble auf der Bühne einfach nur sehr sehenswert war. Sehr!

 Erniedrigte4 560 SebastianHoppe uWesentlicher Hintergrund: der Bildende Künstler und sein großes Werk © Sebastian Hoppe

Das beste Sinnbild für diesen Abend aber ist das Gemälde von Tilo Baumgärtel, das auf der anfangs leeren Leinwand entsteht. Es wird gesprayt und gemalt, dann immer wieder übermalt und verfeinert. Schicht für Schicht wird aufgetragen, mit Projektionen aufgefüllt – bis alles einen Sinn ergibt. Erst am Ende ist es ein fertiges Bild, das hin- und hergeschoben und gedreht wird, als suche es seinen Platz auf der Welt(bühne) und schließlich ganz vorne an der Rampe zu stehen kommt. So wie auch das Stück erst am Ende und in all seinen Schichten und Übermalungen und Exkursen als Stück erkennbar ist. Einer der letzten Sätze, die gesprochen werden, ist eine Frage: "Was ist das?" – Kein Dostojewski, ein Hartmann.

Im Anschluss wabert, gefühlt genau auf dem Grat zwischen Respekt und Abscheu, das Wort "Volksbühne" durch die Foyers. Die Legende lebt, und Dresden hat eine neue Sehenswürdigkeit.

Erniedrigte und Beleidigte
Nach dem Roman von Fjodor M. Dostojewski
Unter Verwendung der Hamburger Poetikvorlesung von Wolfram Lotz
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Bild/ Installation: Tilo Baumgärtel, Chorleitung: Christine Groß, Lichtdesign: Lothar Baumgarte, Dramaturgie: Jörg Bochow.
Mit: Luise Aschenbrenner, Eva Hüster, Moritz Kienemann, Torsten Ranft, Lukas Rüppel, Fanny Staffa, Nadja Stübiger, Yassin Trabelsi, Viktor Tremmel.
Länge: 2 Stunden 45 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

"Passionierter Jubel und ebenso leidenschaftliche 'Buh, Geld zurück'-Rufe halten sich die Waage. So ein Hallo erlebt man tatsächlich nicht mehr oft im Theater", bemerkt Christine Wahl auf Spiegel Online (30.3.2018). Hartmann gehe es mit seinem "außergewöhnlichen" Abend mehr um Grundmotive, um Assoziationen statt um Handlungslinien. "Der 'Sound' dieser Inszenierung, also der Grundton, ist eine Art hastig erregter Überdruck: Der Regisseur überträgt die Seins-, Habens- und Liebesproblematik der Vorlage praktisch in die Grundaufgeregtheit eines nervösen Zeitalters, das vielleicht sogar unseres ist."

An diesem Abend könnte man weinen vor Ergriffenheit oder auch sich ärgern über das Chaos und die Abwesenheit einer nachvollziehbaren Erzählung, schreibt Johanna Lemke von der Sächsischen Zeitung (31.3.2018). Sie erlebte "drei Stunden Bilderrausch". Sebastian Hartmann fahnde nach dem, "was das Leben hält – und das kann eben niemals stringent, vielleicht nicht mal nachvollziehbar geschehen". Theater wie diesem werde oft vorgeworfen, es schätze den Ursprungstext nicht wert. Dabei nehme wahrscheinlich kaum jemand die Essenz des Stoffs so ernst wie Hartmann.

"Polyfon, choreografisch, oft in sich wiederholenden Textschleifen, doch vor allem mit geradezu selbstverleugnendem, bewundernswertem schauspielerischen Einsatz", beschreibt Bernhard Doppler von Deutschlandfunk Kultur (29.3.2018) den Abend. Und weiter: "Egoismus als eigentlicher Altruismus, verdrängte und dadurch offenkundige Todesängste, Egoismus des Leidens, Zynismus als Humanismus: Dostojewskis Paradoxa entfalten so theatralische Kraft: als epileptische Anfälle, Hysterien, bisweilen als polyphones Konzert." Hartmann zitiere den 'Dostojewski-Theaterpapst Frank Castorf', doch gleichzeitig verbinde er diese Tradition mit einem ambitionierten Entwurf eines Theaters der Installation.

"Verwehte Figuren in gewaltigen, mystischen Soundgewittern" sah Thomas Petzold von den Neuesten Dresdner Nachrichten (31.3.2018). "Postdramatisches Theater also, Collage, Event, Spektakel, Party, einerseits mit allem zur Genüge strapazierten Beiwerk, andererseits konsequent und diszipliniert." Trotz aller Anspielungen, Bezüge und aller schillernden Ironie sei der Abend alles andere als eine (Castorf-)Parodie, "sondern im Grunde die geniale Extraktion eines Schlüsselwerks aus dem 19. Jahrhundert ins 21., auch wenn sie hier vielleicht buchstäblich eine Bruchlandung erlebt".

"Wer Dostojewski will: ab unter die Leselampe! Hier ist Hartmann! Und Hartmann ist 'Sound'", jubelt Hans-Dieter Schütt im Neuen Deutschland (3.4.2018). "Theater ist für Hartmann eine Installation eigenen Rechts: Texten wird nicht gehuldigt, sie werden hergenommen für derbe, düstere, dräuende Laut-Malereien." Zu sehen seien neun fulminante Spieler, die durch den Roman preschten. "Düster, undurchsichtig, heiterst, schrill, hilflos, aufgeheizt, selbstvernichtend, beladen nachdenklich." Hartmann porträtiere das ungesunde Fiebern unserer Existenz, erzähle in zuckenden Aufblendungen die 'Vergrimmung' des Menschen – der nicht wisse, was weiser sei: "vom Romantiker zum Weltveränderer oder vom Weltveränderer zum Romantiker zu werden".

Den Mantel des Schweigens hätte Jan Küveler von der Welt (22.5.2019) in seinem Theatertreffen-Resümee gerne über Hartmanns Inszenierung gebreitet. "Aber das geht nicht, dafür brüllten die Schauspieler, die dazu vertraglich verpflichtet waren, zu laut." Besonders schlimm fand es der Kritiker, "diesen Ketchup-Dostojewski, in dem jede Zartheit zugekleistert war, an historischer Stätte zu sehen, nämlich in der Volksbühne, wo Castorfs Fassung desselben Stoffes seit bald 20 Jahren unvergessen ist".

 

Kommentare  
Erniedrigte und Beleidigte, Dresden: Abspielstätte
In Dresden ist das neu. Aber für mich sah es aus wie ein Reenactment aus Berlin Alexanderplatz, Dostojewksi in Frankfurt... . Jetzt ist Dresden die Abspielstätte für andere Theater (siehe Rasches Woyzeck, der in Dresden Das große Heft heißt)...
Erniedrigte und Beleidigte, Dresden: schön
SCHÖN
Erniedrigte und Beleidigte, Dresden: Kaisers neue Kleider
Im Drogenrausch sieht man anscheinend des Kaisers neue Kleider. Krawall ist vielleicht doch nur im umnachteten Zustand als Kunst zu erkennen
Erniedrigte und Beleidigte, Dresden: irre
WAS FÜR EIN IRRES DING!
wie sebastian hartmann es schafft, alle brennenden fragen unserer zeit zu stellen (gerade in dresden), ohne sie direkt und piep-cieee aufs Papier zu bringen, ist einfach riesig! ein Ereignis!!
Erniedrigte und Beleidigte, Dresden: Großes Theater
Sehr geehrtes Tal der Ahnungslosen. Gestatten Sie eine Frage: Abspielstätte wofür? Die Handschrift eines Regisseurs ist, wie die jedes Künstlers einzigartig und unverwechselbar. Warum dürfen diese Regisseure Ihrem Stil nicht treu bleiben? Warum sollten sie Ihre Stücke nicht in verschiedenen Städten erarbeiten?
Es zeichnet Sie als interessierten Theatergänger aus, wenn Sie Arbeiten der o.g. genannten Regisseure bereits in anderen Städten sehen konnten. Dem Großteil des Dredener Publikums ist dies, aus welchen Gründen auch immer, bisher vielleicht nicht möglich gewesen. Umso schöner ist es doch, wenn sie etwas Großes und Spannendes in ihrer Stadt erleben können. Und hier ist es, wie Sie richtig bemerken, durchaus neu. Was ist so verwerflich daran? Sind Sie von der Einfallslosigkeit gelangweilt? Dann könnten sie sich vielleicht in der Zwischenzeit, in der Ihrer Meinung nach "nichts Neues" passiert, eine treffendere und vielleicht nicht so erniedrigede und beleidigende Bezeichnung für das Dresdener Publikum einfallen lassen, als "Das Tal der Ahnungslosen". Denn diese Zeiten sind, mit Verlaub, schon längst vorbei und der Ausdruck an sich auch alles andere, nur nicht neu.
Dresden, Erniedrigte und Beleidigte: weiterentwickelt
Hartmann hat sich konsequent weiterentwickelt. Im Gegensatz zu seinen Berliner Arbeiten, die mir immer seltsam konserviert erscheinen, sieht man hier die "Frische", die in seinen Stuttgarter und Frankfurter Inszenierungen stets zu spüren war, fortgesetzt.
Freue mich auf den nächsten Dostojewski 2019 in Dresden!!
Erniedrigte und Beleidigte, Dresden: viel Blendwerk
Provokation der Provokation wegen. Viel Blendwerk. Kein Spiel auf der Bühne, da kein Zusammenspiel. Alle Schauspieler*innen überschreien sich gegenseitig an der Rampe, um Gehör zu finden. Wer zu leise ist, kommt nicht zu Wort, bekommt auch keine Szene, darf malen gehen. Natürlich schwarz auf weiß und umgekehrt. So funktioniert das seit mehreren Monaten auf den Bühnen dieses Landes - die Zukunft des deutschen Regitheaters... es dominieren schwarz, weiß, rot; bei Borgmann, Hartmann, Thalheimer und Co, während im Publikum alle wegknacken oder den Saal verlassen. Kunstkacke haben das einige schlaue Theatermacher mal genannt, die jetzt dem Regisseur dieses Abends hier beherzt auf die Schulter klopfen. Tschüüüüüssss - mich seid ihr los!
Erniedrigte und Beleidigte, Dresden: nackter König
Sie haben recht. Was für ein leeres Theater. Brüllen, Nebel, Pinselstrich. DIESER König ist splitterfasernackt. Und nachtkritik jubelt, weil es irgendwie nach Gottvater Castorf aussieht und er in der Premiere saß. WOW!!!
Erniedrigte und Beleidigte, Dresden: blind für Unterschiede
#8: "weil es irgendwie nach Gottvater Castorf aussieht"
Haben Sie schon einmal eine Castorf-Inszenierung gesehen? Wer die Unterscheide zwischen Castorf und Hartmann nicht sieht, für den ist eben alles "schwarz-weiß-rote Kunstkacke", wie bei #7 zu lesen ist. Warum nachtkritik und andere Kritiker jubeln, könnte man leicht herausbekommen, wenn man sich die Mühe machte, die Kritiken zu lesen.
Erniedrigte und Beleidigte, Dresden: zeitgemäß
Für jene, die sich das Stück mit Gewinn ansehen möchten, empfehle ich als Vorbereitung, sich überblicksartig mit den Dostojewski-Interpretationen Michail Bachtins vertraut zu machen und etwas zur Theorie der Dekonstruktion Jacques Derridas - insbesondere seine Schrift über Vergebung - und der Theorie der Intertextualität Julia Kristevas zu lesen. Dann sollte es ohne Zweifel möglich sein, Hartmanns Inszenierung sowohl ästhetisch als auch intellektuell zu genießen. Denn es lohnt sich! Hier wird ein Schauspiel geboten, das auf der geistigen Höhe der Zeit steht und seine Zuschauer einerseits durch reine Intensität förmlich überwältigt, andererseits durch eine Fülle an philosophisch-literarisch-politischen Gedanken, starken Bildern und vor allem einem existentiell spielenden Ensemble weit über den Abend hinaus inspiriert.
Man mag einwenden, dass Theater ja nicht nur ein intellektuelles Vexierspiel sein sollte, und dies mit Recht. Diese Gefahr besteht hier nicht, da ist die handwerkliche Kunst der allesamt herausragenden Schauspieler vor, welche zu keinem Zeitpunkt den Zuschauer in bloß konsumistische Distanz zum Geschehen auf der Bühne entlassen. Es ist nun aber auch so, dass eine bestimmte Tiefe des Denkens nicht ohne Anstrengung zu haben ist. Wer diese zu leisten bereit ist und sich in Geduld übt - der Abend ist lang und ohne Pause -, wird die zerschlagenen Bruchstücke aus Dostojewskis Roman und Wolfram Lotz "parasitär" eingepflanzten Text als mitlaufende Meta-Ebene in einem Monolog Nellys (großartig: Luise Aschenbrenner) als archimedische Fuge zusammengeführt finden. Hartmann bietet in Dresden seine ganz eigene textegrediente Lesart Dostojewskis an, die in ihrer Aktualisierung den in "Erniedrigte und Beleidigte" verhandelten Seinsfragen treu bleibt, und auch in ihren komischen Momenten unendlich entfernt ist vom inhaltsleeren Klamauk andernorts. SO geht Theater heute!
Erniedrigte und Beleidigte, Dresden: Kerr-Preis-Favorit
In seinen besten Momenten öffnet sich Sebastian Hartmanns Adaption „Erniedrigte und Beleidigte“ hin zum Tanz. Dann verstummen die Sprachfetzen kurz, die Hartmann im Stil seines Lehrers Frank Castorf aus Dostojewskis Roman herausdestilliert hat. In epileptischen Zuckungen wälzen sich die Spieler*innen am Boden, während im Hintergrund Tilo Baumgärtel an seinem überdimensionalen Bild malt.

Auf einer zweiten Ebene hat Hartmann seine Dostojewski-Fragmente mit der Hamburger Poetik-Vorlesung von Wolfram Lotz überschrieben. Yassin Trabelsi bricht in die improvisierten Szenen seiner Mitspieler*innen ein und trägt die Thesen sehr engagiert vor: „Nix Idee, nix Meinung zu irgendwas, nix interessanter Gedanke, nix psychologisches Problem, sondern Sound“. Auf der Dostojewski-Ebene kommen die „Erniedrigten und Beleidigten“ aber kaum über die bekannte Castorf-Ästhetik ausufernder Textpassagen, die im Nichts versanden, hinaus. Mit seinem Epigonentum geht Hartmann sehr selbstironisch um: Viktor Tremmel wirft diesen Vorwurf als Wutbürger mit Wiener Schmäh kurz vor Schluss in die Runde und provoziert seine Mitspieler*innen damit, dass man all das vor zwanzig Jahren von einem Herrn aus Berlin schon viel besser gesehen habe.

Bemerkenswert ist die fiebrige Energie, mit der sich Moritz Kienemann in die Rolle des Romanerzählers Wanja wirft. Mit seinen nervösen Zuckungen transportiert er die Dostojewski-typische „Nadryw“-Grundstimmung, die Castorf so oft beschworen hat, ähnlich gut wie Volksbühnen-Vorbilder. Da er auch in der zweiten Dresdner Inszenierung „Das große Heft“ mit einem zentralen Part überzeugt, ist er der heißeste Anwärter auf den Alfred Kerr-Darstellerpreis, den Franz Rogowski am Ende des Festivals vergeben wird.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/05/12/erniedrigte-und-beleidigte-sebastian-hartmann-dresden-theatertreffen-kritik/
Erniedrigte und Beleidigte, Berlin: Für heute
Ein Totaltheater ganz im Sinne Frank Castorfs, der bei der Premiere im Publikum war und recht angetan gewesen sein soll. Und der, wie es einmal heißt, „den Dostojewski“ schon viel besser gemacht habe. Auch diese Ebene spielt hier mit, das Vergangene ist präsent, das bereits Versuchte Teil der neuen Experimentieranordnung. Die unterschiedliche Ausdrucksformen verschränkt: Wie etwa auch in Hunger. Peer Gynt wird auch hier über die gesamte Vorstellungsdauer ein Bild gemalt, wird projiziert und überblendet, bevor am Schluss ein surrealistisches – ein zentraler Exkurs kurz vor Schluss widmet sich dieser Bewegung – Porträt präsentiert wird, ein leidens- und sehnsuchtsbild in schwarz und weiß, sich assoziativ mit dem Theatralen verbindend und eine eigene Geschichter erzählen. Wie auch der „Sound“, die Musik, die das Geschehen in Ekstasen, Räusche, Albträume treibt, selbst Erzähler wird, das „Geschehen“ auf- und ablöst, es transformiert im Lotzschen Sinne, zu rastlos rasenden Tableaux menschlichen Suchens. Am Ende die Frage: „Habt ihr noch was?“ Nein? Dann beenden wir das hier. Für heute. Denn das Spiel ist noch nicht zu Ende, seine Betrachtung ebenso wenig, weil sich, was den Menschen ausmacht und zum Monster gegen sich selbst, weiter zu ent- und verrätseln ist. Ein Perpetuum Mobile wie dieser Abend, der sich im Kreis dreht wie das Krankenhausbett und die fahrbare Leinwand, wie der Text, der sich in endlosen Wiederholungsschleifen verloopt, der nur deshalb nicht immer wieder an seinem Anfang landet, weil es diesen nicht gibt, weil alles Gegenwart und Jetzt und Anfang und Mitte und Ende ist. Immer. Keine Atempause, Gegenwart wird gemacht, der Nebel durchbrochen und erneuert. Dieses Theater entgrenzt sich, weil es Leben und Welt und Menschsein meint. Und bleibt doch Theater, weil es das sonst nicht könnte. Welch ein Rausch, welch ein Kater.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/05/14/menschheit-im-nebel/
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