Selber Kälber

von Wolfgang Behrens

19. Juni 2018. Als ich noch ein Kritiker war, dachte ich, die schärfsten Kritiker des Theaters seien die Kritiker. Und vielleicht stimmt das ja auch, je nachdem, was man unter dem Begriff "scharf" subsumieren möchte. Die eine oder andere scharfsinnige Beobachtung schleicht sich schon ab und an in eine Kritik ein; und wer unter Schärfe die Bereitschaft zum Verriss versteht, wird natürlich auch hie und da in Kritiken fündig.

17 Kolumne behrens k 3PKritiker sind allerdings in einer bestimmten Hinsicht völlig ungeeignet, die schärfsten Kritiker zu sein: Sie kennen nämlich den Arbeitsprozess nicht, der zu dem letztlich zu beurteilenden Produkt der Inszenierung führt. Naturgemäß beschreiben und bewerten sie daher nur das, was sie in der Premiere sehen und erleben. Und dabei sind sie oft viel höflicher als die Beteiligten untereinander, die auch um den Weg wissen, der zu dieser Premiere geführt hat. Im Theater gilt daher wohl eine präsentisch abgewandelte Form des schönen F.W. Bernstein-Satzes: "Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche", nämlich: "Die schärfsten Kritiker der Elche sind die Elche selber" (oder, um des Reimes willen: "Die schärfsten Kritiker der Kälber sind die Kälber selber").

Die Unbarmherzigeren

Umgekehrt jedoch sind die beteiligten Künstler oft nicht mehr in der Lage, vom Arbeitsprozess zu abstrahieren. Ist für die Schauspieler zum Beispiel – aus welchem Grunde auch immer – irgendwann einmal ausgemachte Sache, dass es sich bei einem Regisseur um eine, ähm, sagen wir mal: "Flachzange" handelt (das sollte mal ein Kritiker schreiben!), so werden sie sich in ihrem Urteil über die Aufführung auch nicht mehr aus der Zeitung belehren lassen.

Ein Freund von mir war mal als Musiker an einer Produktion beteiligt, die zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Angeblich rieb sich das gesamte Team noch in Berlin verwundert die Augen, da sie alle die Inszenierung schon bei der Generalprobe auf dem Schrotthaufen der zu Recht vergessenen Theaterabende abgeladen hatten. Natürlich haben sie sich über die Theatertreffen-Einladung trotzdem gefreut, aber es blieb beim Ensemble das Gefühl eines Riesenmissverständnisses haften: Hatten die Juroren eine andere Aufführung desselben Stückes gesehen und sich in der Stadt geirrt?

Schauspieler können unbarmherzige Kritiker ihrer Regisseure sein. Und tatsächlich habe ich als Dramaturg mit die treffendsten Charakterisierungen der Mängel von Regisseuren aus Schauspielermund gehört. Andererseits ist die Perspektive der Schauspieler immer eine spezielle, denn selbstverständlich ist sie auch egoistisch motiviert: Wie komme ich am besten zur Wirkung? Und manchmal vielleicht sogar: Wie komme ich am bequemsten am besten zur Wirkung? Aber auch mit dieser Einschränkung gilt, dass Schauspieler mit die wachsten Kritiker ihrer eigenen Produktion sind.

Die Allerunbarmherzigsten

In der Schärfe aber sind sie nichts – gegen die Regisseure, die über andere Regisseure urteilen. Geht man nach den Ansichten der Regisseure, dann gibt es eigentlich nur schlechte Regisseure. Regisseur A sagt über Regisseur B, dass der auf der Probe nichts mache – wirklich nichts! – und am Ende holen es dann die Schauspieler raus. Regisseur B sagt über Regisseur C, dass der am Anfang seine Schauspieler einmal durchstelle und ab da die Arbeit verweigere – und am Ende holen es dann die Schauspieler raus. Und Regisseur C sagt über Regisseur A, er habe nicht einmal das Stück gelesen – und am Ende holen es dann die Schauspieler raus. Und so weiter. Das häufigste Wort in den Beschreibungen der Regisseure über andere Regisseure ist: "Schreeeeecklich!"

Jajaja, das ist alles etwas pauschal und zugespitzt, ich weiß! In der Summe freilich habe ich nie so viel Schlechtes übers Theater reden hören wie unter Theaterleuten. Wenn ich zur Abwechslung einmal etwas Positives übers Theater hören möchte, dann muss ich mich an die Kritiker halten. Ach, Kritiker müsste man sein! Das sind doch in Wahrheit die freundlichsten Menschen!

Um einer nach dem Sprachgefühl des Autors in diesem Falle unangemessenen Fülle von Gendersternchen zu entgehen, kommt diese Kolumne ausnahmsweise durchgehend mit dem sogenannten generischen Maskulinum aus.

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit dieser Spielzeit Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er u.a. in seinem reichen Theateranekdotenschatz.


Zuletzt fragte sich Wolfgang Behrens in seiner Kolumne als Dramaturg, wie sein Arbeitgeber zum Theatertreffen kommt

 

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