Ein Mann auf einem Stuhl

von Falk Schreiber

Hamburg, 23. August 2018. Bis ins bürgerliche Lager hält sich die Legende, dass das Deutsche Reich eigentlich ein ganz umgängliches Kolonialreich gewesen sei. Überhaupt habe es nur wenige Kolonien gegeben, denen man vor allem die Zivilisation gebracht und sich ansonsten ordentlich aufgeführt habe. Dem steht allerdings entgegen, dass die Deutschen ab 1903 die Herero und Nama (aus Südafrika nach Norden gezogene Khoi) in einem (seit 2015 vom deutschen Auswärtigen Amt als solchem anerkannten) Völkermord nahezu ausrotteten – das heutige Namibia ist nicht das Kolonialparadies, als das es im 21. Jahrhundert touristisch vermarktet wird, es ist ein Friedhof, über den sich blutige Spuren der deutschen Herrschaft ziehen.

Reise zum Verbrechen

Die Hamburger Band Kante und die Kapstädter Band Khoi Khonnexion reisten gemeinsam durch das südliche Afrika, auf den Spuren des Völkermords, aber auch, um Märchen und mündliche Überlieferungen zu sammeln. Aus dieser Reise ist gemeinsam mit der namibischen Performerin und Autorin Nesindano "Khoes" Namises und dem Showcase-beat-le-Mot-Mitglied Nikola Duric das Musiktheater "Das Haus der herabfallenden Knochen" entstanden, uraufgeführt beim Internationalen Sommerfestival Hamburg auf Kampnagel. Wobei: Musiktheater ist der Abend eigentlich keines, eher ein szenisches Konzert. Mit dieser Kategorisierung ist man freilich schon in die postkolonialistische Falle getappt.

HausderherabfallendenKnochen2 560 Anja Beutler uIn der Geschichte verschlungen © Anja Beutler

Denn natürlich ist solch eine klare Genrezuordnung ein europäisches Konzept, das für den transkulturellen Charakter der Produktion nur eingeschränkt tauglich ist. Ja, es werden Songs gespielt, nein, es gibt keine stringente Dramaturgie, nein, eine Handlung gibt es auch keine, aber, ja, es gibt eine narrative Struktur, in den Spoken-Word-Performances von Namises und Sänger Jethro Louw (bei denen allerdings eine zuverlässigere Übertitelung aus dem Afrikaans, Nama und manchmal auch aus dem Englischen hilfreich gewesen wäre).

Zudem wissen gerade die Kante-Musiker um die performative Kraft eines Rockkonzerts – die Band hat konsequent wie kaum eine andere die in den Nullerjahren vor allem in der Hamburger Musikszene verbreitete Hinwendung zum Theater vollzogen, nicht zuletzt als regelmäßige Bühnenmusiker bei Friederike Hellers Inszenierungen an der Schaubühne und am Burgtheater. Entsprechend bringt es nichts, beim "Haus der herabfallenden Knochen" die Theaterferne der Beteiligten zu bemängeln: Die ist erstens gar nicht gegeben und zweitens hier nicht das Thema. Und doch fehlt dem Abend etwas.

Die Musik von Khoi Khonnexion – perkussive, hauptsächlich auf dem einsaitigen "Musical bow of the Khoisan"  gespielte Stücke, zu denen Louw zwischen Sprechgesang, Rap und Poetry performt – und der warme Kante-Sound, der sich vom Rock mal zum Jazz, mal zur Elektronik und mal zum Postrock hin öffnet, harmonieren gut, vielleicht zu gut. Weil das Konzert so nämlich vor sich hinschaukelt, ohne für den Schmerz und die Wut, die insbesondere in Namises' Passagen angedeutet werden, eine Form zu finden.

HausderherabfallendenKnochen3 560 Anja Beutler uMusik als Mittel der Aufarbeitung © Anja Beutler

Nur an einer Stelle traut sich der Abend zu einem Schlenker ins Unversöhnliche vor: als Kante-Sänger Peter Thiessen auf einen Stuhl steigt und betont, mit dem Vergangenheitsbezug und der Betonung familiärer Determinierung der südafrikanischen Kollegen nichts anfangen zu können. "Fuck ancestors. Fuck bloodlines. Fuck heritage." Das ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil dieses Bild, ein Mann auf einem Stuhl mit giftigem Blick ins Publikum, auch das einzige des gesamten Abends ist, das eine gewisse szenische Qualität besitzt.

Nikola Duric wird auf dem Abendzettel als Regisseur geführt, was durchaus nachvollziehbar ist – man kennt diese zurückhaltende, andeutungsreiche Ästhetik von seiner Arbeit mit Showcase beat le Mot (die im übrigen auch schon bemerkenswerte Videos für Kante gedreht haben). Bei den Gießener-Schule-Postdramatikern aber ist diese Ästhetik immer gebrochen durch eine ganz eigene Ironie, die Distanz zum Gezeigten schafft, eine Ironie, die an diesem Abend völlig fehlt.

Erst zum Schluss, bei der Zugabe, wird das Problem aufgelöst, dass hier etwas Musiktheater sein will, das doch kein Musiktheater sein kann. Die Musiker spielen den schönen Song "Every House is a haunted House", und alle Schwere fällt von ihnen ab: Niemand gibt mehr vor, mehr zu sein als das, was er ist, das hier ist ein Konzert, und eine spannende Bandkopplung spielt noch ein letztes Lied. Applaus.

 

Das Haus der herabfallenden Knochen
von Khoi Khonnexion und Kante
Regie: Nikola Duric, Recherche, transnationale Vermittlung: Claude Jansen, Recherche: Edda Sickinger, Kostüm: Ruth May, Outside Eye: Anta Helena Recke, Produktion: Olaf Nachtwey, Produktionsassistenz: Johanna J. Thomas.
Mit: Khoi Khonnexion, Kante, Nesindano "Khoes" Namises, Nikola Duric.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.kampnagel.de

 

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