Schöne bunte Leitkultur

von Sophie Diesselhorst

25. September 2018. Kulturschaffende schreiben einen Offenen Brief, in dem sie Heimatminister Horst Seehofer zum Rücktritt auffordern. "Die Zeit, in der man passiv sein konnte, ist für alle vorbei", sagt der Pianist und Twitterer Igor Levit in einem Interview mit der taz. Und tatsächlich hat selbst die breitenwirksame Schlagersängerin Helene Fischer, die wahrscheinlich auch AfD-Wähler*innen zu ihren Fans zählt, auf Facebook den Hashtag #WirSindMehr benutzt, der in Reaktion auf die rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz entstanden ist.

Desintegriert euch!

Man aktiviert sich also, es werden grelle Plakate geklebt – und darüber sollte ich speziell in dieser Kolumne mit ihrem aktivistischen Titel doch glücklich sein. Stattdessen habe ich, wenn ich überlege, was ich denn auf mein eigenes Plakat schreiben sollte, zunehmend das Gefühl, an einem kaputten Radio zu sitzen. Es rauscht und knackt, und es lassen sich manchmal Fetzen vernehmen, aber sie setzen sich nicht zu ganzen Sätzen oder gar Parolen zusammen.

Kolumne 2p diesselhorstDas nervt. Wo ist der Aus-Knopf bei diesem Radio? Der Berliner Lyriker und Politikwissenschaftler Max Czollek, der 2017 am Maxim Gorki Theater "Radikalische jüdische Kulturtage" kuratierte, hat einen Vorschlag: "Desintegriert euch!", ruft er. Verabschiedet euch vom deutsch-jüdischen "Gedächtnistheater", in dem Deutsche die Regie führen und Jüdinnen und Juden bis heute auf eine Opferrolle reduziert werden. Was erstaunlich gut funktioniert als kleinster gemeinsamer Empörungs-Nenner einer "großen Öffentlichkeit", die es so wohl ohnehin nicht mehr gibt, deren Illusion trotzdem immer noch erweckt wird, wenn es politisch opportun ist.

Der, die, das Andere

Verabschiedet euch auch vom Integrationsparadigma, schreibt Czollek, das zusammen mit diesem Gedächtnistheater einem Normalisierungsbedürfnis der Deutschen dient, einem Bedürfnis, die Schuld der Shoah zu vergessen. Dieses Integrationsparadigma habe den metapolitischen Strategien der Neuen Rechten den Boden bereitet, indem es in vorauseilendem Gehorsam Begriffe wie "Leitkultur" hervorgebracht hat.

Ich kann Czolleks Argumentation hier nur sehr verkürzt wiedergeben, finde sie aber sehr einleuchtend. Ganz nebenbei hat der Begriff "Integration", so wie er in Deutschland geprägt worden ist, jahre- und jahrzehntelang einen strukturellen Rassismus gefördert, der sich zeigt in einem viel zu normalen Überlegenheitsgefühl Menschen gegenüber, deren kulturelle Prägung gerade als die "andere" ausgemacht wird – das Archiv des "anderen" ist groß und wird immer weiter ausgeweitet. Das ist alles nicht neu, scheint aber immer wieder gesagt werden zu müssen.

Denn was ist das omnipräsente #WirSindMehr anderes als Max Czolleks Integrationsparadigma in Hashtagform? "Wir sind mehr" heißt "ihr seid weniger", klebt also auch an der Idee einer Leitkultur, auch wenn es eine bunte ohne Hass sein soll. Da habe ich keine Lust mitzufeiern. Da bleibe ich lieber an meinem Radio sitzen und lerne dem Rauschen zu lauschen.

 

Sophie Diesselhorst ist Redakteurin bei nachtkritik.de. Vorher hat sie mal drei Wochen in einem Call Center gearbeitet, wo sie dazu angehalten wurde, möglichst schnell "Ich aktiviere Sie jetzt!" zu nuscheln, um krumme Deals zu besiegeln, ohne dass der arme Mensch am anderen Ende der Leitung es merkt. In ihrer Kolumne versucht sie deutlich zu sprechen.

 

In ihrer letzten Kolumne las Sophie Diesselhorst die Kreuzberger Proteste gegen einen im Kiez geplanten Google-Campus als immersives Theater.

 

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Kommentare  
Kolumne Diesselhorst: Zustimmung
Eine sehr schöne Kolumne. Ich erlebe das genauso. Auch ganz praktisch in der Arbeit.
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