Therapie wider Willen

von Katharina Alsen

20. November 2018. Es kommt nicht so oft vor, dass Künstler*innen von Veranstalter*innen das Mikrophon abgedreht wird. Aber wenn, dann muss man aufmerken. Weil eine fundamentale Grenze erreicht wurde, weil eine Performance offenbar an den Grundfesten dessen rüttelte, was unsere Kultur ästhetisch und ethisch vertretbar findet. So geschehen beim eben zu Ende gegangenen Festival Save Your Soul an den Berliner Sophiensælen.

Sich in eine "Sherapy Session" zu wagen, birgt Risiken. Hinter dem Zungenanstoßer stecken die interaktiven Performances der US-amerikanischen Künstlerin Ann Liv Young, die als konstruiertes Alter Ego namens Sherry Vignon pseudotherapeutische Formate der Extreme anbietet. Sherrys Kommunikationsstil feiert die verbale und gestische Provokation, ihr Erscheinungsbild ist eine hyperrealistische white trash-Maskerade: mit weißblonder Perücke, grell-akzentuiertem Make-up und textilen Entgleisungen in Pink und Pastell. Der Verzicht auf sensible Sprache ist Gütesiegel ihrer Therapie unbedingter Konfrontation. Sie klopft dort an, wo es wehtut, manchmal sticht sie auch mitten hinein: Sie haben Kinder? Wie viele? Und wie viele Abtreibungen waren dabei? - Kulturelle Normen von Nähe und Distanz verflüchtigen sich, Sherrys Befragungen nutzen das kommunikative Brecheisen, nie das Skalpell. Ade Common Sense, ade Schamgrenze.

good sherry c diethild meier presseSherry Vignon mit Assistentin Lani  © Diethild Meier

Zum Auftakt des Festivals "Save Your Soul" wurde Youngs neueste Arbeit "Good Sherry" also an die Berliner Sophiensæle geladen, während der Premiere jedoch durch besagte Intervention der Kuratorin beendet. Dieser Eingriff zeichnet sich dadurch aus, dass sie unterbrechende und vermittelnde Geste zugleich ist. Das Beenden einer unaushaltbaren Situation muss nicht immer gleich "Zensur" schreien. Manchmal ist auch das Programmmachen keine souveräne Position, sondern kann entgleiten in ein unlösbares Wirrsal, wenn Künstler*innen Grenzen des Sagbaren überschreiten. Was ging der Intervention voraus?

Die Situation

Close-up: Sherry performt den Song Be Careful der US-amerikanischen Rapperin Cardi B für einen Zuschauer, der in der arenaartig arrangierten Bühnenarchitektur in den Inner Circle gebeten wird. Dieser Stuhlkreis der Eingeweihten, der vermeintlich Privilegierten, ist mit hellen Neonbirnen ausgeleuchtet, für alle Anwesenden einsichtig.

In der musikalischen Rezitation des Songs fällt wiederholt das N-Wort (bittere Kostprobe: "But if I did decide to slide, find a n***, fuck him, suck his dick, you would've been sick [...]. Don't make me sick, n***"), während die Performerin und ihre Assistentin Lani (Marissa Mickelberg) dem Zuschauer auf den Leib rücken, den Rap ins Ohr dröhnen lassen. Dieser versucht, die Situation zu verlassen, auch andere Besucher*innen springen auf, um die Darbietung zu unterbrechen. Es gelingt nicht. Plötzlich wird die Rollenfiktion der "Sherry" unscharf, als die Performerin beginnt, in der Ich-Perspektive von Ann Liv Young zu sprechen. Wer spricht da? Wer vergreift sich im Ton? Sherry? Young? Ist dies noch trennbar? – Das Kurator*innenteam kappt die Mikrophone, die Künstlerin verlässt die Bühne, im Foyer findet sich spontan ein Gros des sichtlich bewegten Auditoriums ein, um das Erlebte zu diskutieren. Cut.

Vorgeschichten

Der Vorfall erinnert an die Aufführungsabsage von "Leopardenmorde" des schweizerischen Kollektivs K.U.R.S.K. ebenfalls an den Sophiensælen im November 2016. Eine damals nicht unumstrittene Entscheidung. Doch eine konsequent rassismuskritische Aufmerksamkeit prägt die Programmgestaltung des Hauses. Das ist richtig und wichtig, markiert es doch eine Haltung jenseits eines konsequenzlosen Wischiwaschis à la "irgendwas gegen Ausgrenzung" im Ringen um politische Korrektheit: Die Unterzeichnung der "Berliner Erklärung der Vielen" gegen völkisch nationale Gesinnung zeigt sich so nicht nur als papierne Theorie, sondern als gelebte Praxis.

Auch beim letztjährigen Theatertreffen setzte der Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, ein sprachliches Veto durch: Bei Claudia Bauers Inszenierung 89/90 wurde das N-Wort kurzfristig durch die Lautmalerei "N-Beep" ersetzt. Die Freiheit der Kunst, so der Eindruck, steht immer öfter mit kuratorischen Prinzipien im Widerstreit. Was ist legitim, was nicht mehr? Was regt nachhaltig an, was ist einfach nur schlechte, reißerische Kunst?

good sherry c diethild meier presse2"Good Sherry": auf die Pelle rücken gehört zum guten Ton im Hause Ann Liv Young. © Diethild Meier

Die Situation um "Good Sherry" birgt dabei doppelt explosives Potenzial: Das N-Wort fiel in der Eins-zu-eins-Anspielung eines Zuschauers, nicht von der Guckkastenbühne herab. Im Modus direkter Ansprache statt als Diskriminierung auf Distanz, hinaus ins Dunkel der gemütlichen Theatersitze.

Verwandte Formate

Auch andere interaktive Formate wie die immersiven Settings des Kollektivs Signa sehen sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, durch intensives Spiel an den Rändern psychischer und physischer Verträglichkeit zu agieren und dabei Besucher*innen ohne Triggerwarnung traumatisierenden Situationen auszusetzen. Wie reagieren, wenn man Gewalttaten zusieht, sie selbst ausüben soll oder eindringlich eingeladen wird, diese zu erleiden? Soziale Ausgrenzungstendenzen werden am eigenen Körper erprobt.

Während Signa-Performer*innen über einen Zeitraum von bis zu mehreren Stunden jedoch individuell auf die Besucher*innen eingehen und deren persönliche Grenzzonen austesten, handelt es sich bei der "Sherapy" um ein schnelles Stakkato harter Repliken. Die indiskret Befragten und verbal Beleidigten bleiben nach wenigen Sekunden im Scheinwerferlicht allein zurück, werden darüber hinaus vom Performance-Team filmisch aufgezeichnet, ohne zu wissen, was mit den Aufnahmen geschieht: Wie beim Reality-TV hält die Kamera gnadenlos drauf, alles wird eingefangen. Sensationsgeilheit goes theater.

Heuvolk SIGNA2 560 Erich Goldmann uEs geht auch anders: "Das Heuvolk" von Signa bei den Schillertagen 2017 in Mannheim © Erich Goldmann

Cut. Zurück zur Szene. Statt einer Absage der zweiten Vorstellung von "Good Sherry" wird Ann Liv Young im Kontext des Festivals ein weiteres Forum zugestanden. Eine vermittelnde Geste statt Kommunikationsabbruch, Vertrauensvorschuss statt Ausschluss.

Zweite Vorstellung

Hinweisplakate vor dem Festsaal der Sophiensæle warnen die Zuschauer*innen indes vor dem verstörenden Wirkpotenzial der Performance, entschuldigen den Vorfall kultureller Appropriation und kündigen an, das N-Wort werde nicht mehr fallen. Spoiler: Es fällt trotzdem. Wenn auch in der Form des Zitats vom Zitat vom Zitat: Der Abend wird von der Künstlerin als eine Art schräg-schriller Meta-Performance gestaltet, die die misslungene Premiere, so der kühne Plan, aufarbeiten soll. Leider nicht in sinnvoller Umsetzung.

Nicht sinnvoll für die neuen Zuschauer*innen, die den Vorabend nur als Leerstelle präsentiert bekommen: Zahlreiche, sich widersprechende Versionen der Geschehnisse zirkulieren im Raum, die den Realgehalt von "Stiller Post" zu haben scheinen. Jeder sagt etwas anderes, niemand sagt alles, viele haben da so etwas gehört. Soso.

Die angeblich undurchlässige Grenze von Rollenfiktion (Sherry) und Künstlerpersona (Ann Liv Young) zeigt sich erneut an vielen Stellen als porös, als fließender Übergang, ohne klare Verantwortlichkeiten abzustecken. Der dramatische Move gegen Ende, die Perücke wie Dreck von sich zu werfen, um Sherry in Young zu transformieren, hilft hierbei wenig.

Legitimationsbedürfnisse

Unglücklich ist auch – und vor allem – der Versuch einer Pseudoautorisierung des N-Wort-Gebrauchs durch einen Video Call bei "Knowledgeborn", einem Schwarzen US-Amerikaner aus dem Bekanntenkreis der Künstlerin. Das Legitimationsbedürfnis von Sherry (oder Young?) soll dadurch gestillt werden, eine vermeintlich 'authentische' Stimme zur Situation zu befragen. Dieses fragwürdige Kalkül des Stellvertretertums läuft zum Glück auch aus technischen Gründen schief: Das Internet funktioniert schlicht nicht.

Bei der zweiten Performance werde ich übrigens als erste Zuschauerin in den Inner Circle gebeten. Bis auf eine herausgestreckte Zunge, mehrmalige "Bitch"-Entgleisungen und einen halbherzigen Lapdance zu Lionel Richies "Stuck on You" widmet Sherry mir keine provokative Energie. Pretty lame. Privilegien mal andersrum? Ob ich mich zu diesem Thema überhaupt stellungnehmend äußern darf als weiße Person?, flüstert mir mein Unterbewusstsein fragend zu. Unklar. Wo sind meine blinden Flecken? Gegen Ende wird mir ein Handdesinfektionsmittel geschenkt, andere erhalten eine folklorisierende Holzpuppe vom Gabentisch oder eine Handvoll Kondome auf den Schoß geworfen. Eine Besucherin subsumiert das Erlebte treffend mit: "Zu zynisch in den Mitteln, um einen kritischen Dialog zu ermöglichen."

Was für ein lapidarer Austausch an einem Abend, der so viel zu verhandeln gehabt hätte. Die Künstlerin nutzt die ihr zugestandene Chance nicht, für eine komplexe Situation komplexe Antworten zu liefern. Stattdessen: Ignoranz, Widersprüche, Pauschalismen. Es geht hier nicht mehr um die Beschneidung von Kunstfreiheit, sondern um unprofessionelles künstlerisches Handeln am Rande der Trotzigkeit. Eine Entschuldigung an die Opfer des Vorabends hätte es auch getan. Diese jedoch verweigert sie, schade. Die Diskussion muss anderswo weiterlaufen.

 

Katharina Alsen 120 privatKatharina Alsen studierte Kunstgeschichte in Oxford und Literaturwissenschaften, Theologie und Philosophie in Hamburg. Sie war Stipendiatin am Internationalen Graduiertenkolleg "InterArt" in Berlin und Kopenhagen sowie Global Humanities Junior Fellow beim DAAD-Netzwerk "Principles of Cultural Dynamics". Ihre Forschung widmet sich Politiken von Intimität in den performativen Künsten.

 

 Über das Festival Save Your Soul berichten wir hier.

mehr debatten

Kommentare  
Good Sherry, Berlin: Trauma, Opfer?
1. Bei allem Respekt vor den individuellen Grenzen von Kunst/Theater/Perfomance-BesucherInnen, und sicherlich kann man auch bei einer Signa-Performance verstörende Erfahrungen machen. Aber "traumatisierenden Situationen"? Angesichts der folgenschweren und oft lebenslangen Konsequenzen die traumatisierte Menschen bewältigen müssen, fände ich einen weniger inflationären und genaueren Gebrauch des Begriffes Traumas erstrebenswert.

2. "Eine Entschuldigung an die Opfer des Vorabends hätte es auch getan" . Wer genau ist hier alles als "Opfer" gemeint? Wahrscheinlich meinen Sie auch, und vor allem, den Zuschauer der der Eins-zu-Eins Situation ausgesetzt war. Sieht er sich denn selber als Opfer? Die Beschreibung dass er versucht habe die Situation zu verlassen, könnte auch darauf hindeuten, dass er sich nicht so leicht zum (potentiellen) Opfer hat machen lassen. Warum sind die Zuschauer, da Sie ja das Plural gebrauchen, auch Opfer?
Good Sherry, Berlin: nicht verstanden
Ich habe von Beginn an kaum daran gezweifelt, dass dieser Vorstellungsabbruch inszeniert ist. Und zwar deswegen, weil es sich um eine Kunstfigur handelt und Ann Liv Young (googlen hilft) sonst eigentlich ausserhalb jeglicher Kategorisierung bzw. für die unendliche Vielfalt arbeitet. Was ich durch die Beschreibung der zweiten Vorstellung herauslese, ist schlicht, dass hier Zuschauer sexuell "angemacht" werden, allerdings auf eine ziemlich platte, billige und vulgäre Weise. Für mich steht das ausserhalb von Kategorien, sondern vielmehr dafür, dass wir dem Begehren anderer manchmal einfach nicht entkommen können. Dieses Aufdrängen sexueller Energien wird hier allerdings "nur" verbal vorgeführt, körperlich kommt keiner irgendwie zu Schaden, oder? Und von Beschimpfungen kann jedermann/jedefrau sich meines Erachtens auch emanzipieren, denn Beschimpfungen sagen in jedem Fall mehr etwas über den Beschimpfenden als über den Beschimpften aus. Genau. Ich weiss es. Ich weiss, ich war's. Was ist daran also traumatisch? Und ausserdem ist "n" hier für mich weniger ein Schimpfwort, als vielmehr das obszöne Begehren einer Frau gegenüber einem Mann. Man könnte hier jetzt noch eine Kategorie einführen, nämlich, dass alle Proletarier keine höfiche Sprache kennen. Ist aber auch Quatsch und soll hier vielleicht ebenso hinterfragt werden (Rap gilt ja zudem - auch klischeehaft? - als "proletarisch", jedenfalls proletarischer als Pop). Denn es sind zwei Einzelfälle. Wer da gleich auf eine Verallgemeinerung kommt, der hat die Inszenierung in meiner Wahrnehmung nicht verstanden. Ich kann aber auch völlig falsch liegen, denn ich habe die Inszenierung (noch) nicht gesehen. Ach so, es geht sicher auch um die starre bipolare Zuweisung hetero- versus homosexuell. Wenn ich da gesessen hätte, hätte ich mich gefragt, ob diese Bühnenkünstlerin mich irgendwie lesbisch anmachen will. Unabhängig davon, ob ich's bin oder nicht. Usw.
Good Sherry, Berlin: putzig
weisse ami-performerin beleidigt schwarzen zuschauer rassistisch.
weisse deutsche kuratorinnen greifen ein. erregung. next day. wiederholungsperformance. irgendwie auch daneben.

war an beiden abenden da. am S: spielwiese für verunsicherte weisse meist deutsche künstler/innen & akademiker/innen, die weiterhin nicht verstehen, daß die amerikanische lage nicht die deutsche ist. (dabei müsste man/frau nur die französischen strukturalisten lesen, die man/frau so gerne auf podien herbeireferenziert).

sicher brüllt eine weisse deutsche schon mal einen schwarzen Menschen mit dem N-wort an - und das ist rassistisch. aber was ist jetzt genau die lernkurve, die ich da in den sophiensälen machen soll. in d fußt rassismus auf anderen kulturellen umständen als in den us of a.
und das n-wort spiel haben wir in berlin spätestens seit deniz yücels auftritt beim taz lab 2014 hinter uns. its done - kuratorinnen!!

putzig ist der hinweis es habe "opfer" gegeben. bitte können wir für menschen die wirklich ein trauma erleiden oder tatsächlich opfer verletzender handlungen werden ein neues Wort finden. in den sophiensälen sah ich nur eine schar aufgeregt kreischender sjw groupies, die ihr geschrei für eine politische position halten. in diesem lächerlichen Diskurs ist inzwischen jeder ein Opfer - wahrscheinlich war das bei diesem festival bereits im Ticket inbegriffen.
Good Sherry, Berlin: Oberflächlichkeit
Vielen Dank an Frau Alsen für den Artikel.

Der amerikanische Kontext ist nicht ganz der deutsche, was sich die Performerin auch zu Nutze macht: ich bezweifle, daß Sie das so in den USA wiederholen würde.
Mir stellt sich die Frage inwieweit Nationalität, Geschlecht und Alter für den angeblichen kritischen Bruch sorgen, statt künstlerischer Versiertheit.
Bei Zweifel stelle mir immer gerne das Gegenteil vor: z.B. eine deutsche Kunstfigur a la Atze Schröder, entsprechend gehobneren Alters, der einen türkischen Zuschauer beschimpft (oder Kondome in den Schoß wirft). Absolut genauso platt.

Es ist die beschriebene Oberflächlichkeit die mich vom Besuch abhält, Es ist alles so wortwörtlich genommen, daß für mich kein Mehrwert erkennbar ist. Angefangen beim billigen, cartoonhaften Stereotyp des schreienden, rassistischen "Proletariers" (stand mal in der Jungen Welt: Prolet-Arier).

Einordnen würde ich die Performance unter dem ebenso eindimensional verstandenen karnevalesken Bedürfnis, mit Perücke und Ringelshirt mal "die Regeln" aufzuheben. Wieder einmal eher eine Selbstverwirklichung der Performer als eine clevere Publikumsinteraktion; touristischer Blick statt Spiel der Wahrnehmungen.

Ich finde es vollkommen ok eine Performance abzubrechen. Ob es nötig war oder nicht können nur die Beteiligten entscheiden.
Good Sherry, Berlin: Grenzen
Interessantes Ausloten der Grenzen zwischen Kunst, Kuratieren und Rezipieren. Gerade, wenn die "vierte Wand" durchbrochen wird, stellt sich die Frage "Wie weit sollte Kunst gehen?" noch einmal anders. Wobei auch die Gattungstraditionen, gerade auch was Performance und Rap-Lyrics angeht, mit reinspielen. Der Artikel wirft spannende Überlegungen auf.
Good Sherry, Berlin: goldenes Kalb
Ann Liv Young ist berühmt für ihre totalen Grenzüberschreitungen; sie wird dafür geliebt vom Publikum und KuratorInnen. Ich habe Vorstellungen von ihr gesehen, bei denen sie mehrere Leute erniedrigt, gedemütigt hat und diese den Saal auch verliessen und An Liv Young ihnen auch noch schamlose Beleidigungen nachschrie. Andere Beleidigte nahmen es gelassen und liessen sich beleidigen. Die wussten wohl, das das zu Show gehört. Und nahmen das nicht so ernst. Meistens herrschte im Saal nach dem Abgang der beleidigten Person eine grosse Freude. Wenn jemand den Saal beleidigt hatte, folgte immer ein katharsischer Moment, alle waren glücklich (schadenfreudig manchmal, weil die Person, die erniedrigt wurde, vielleicht bei gewissen Leuten unbeliebt war). Solche beleidigenden, alle Tabus ignorierenden Performances generierten den Marktwert von Ann Liv Young. Leider. Denn Ann Liv Young hat ja durchaus auch andere Qualitäten (u.a bei „Elektra“ und „Antigone“ und „Peter Pan“ spielte sie zuletzt auf ganzer Klaviatur). Warum die Sophiensäle nun aber eine ihrer radikalen Grenzüberschreitungs-Performance einlädt, wenn solche Grenzüberschreitungen dann gar nicht gefragt sind, bleibt doch etwas rätselhaft und ist auch etwas unfair gegenüber der Künstlerin. Koproduziert doch lieber was zartes Poetisches mit ihr, als was zu bestellen, was dann von euch gar nicht gewollt wird. Was ist das für ein komischer Tanz um ein goldenes Kalb namens Kunst?
Good Sherry, Berlin: ähnlich mit Peymann
@ Samuel Schwarz: Darf ich Sie fragen, was genau Sie damit meinen? Sie haben doch selbst ähnliches mit Peymann betrieben und das als "Kunst" deklariert. Oder war das etwas anderes?
Good Sherry, Berlin: Skandallogik
Das grosse Problem ist, dass die kuratierte Kunst im Moment noch kein Mittel dafür gefunden hat auf die sehr erfolgreiche" Kulturtechnik der Populisten. Die Populisten gewinnen Raum in den Köpfen der Menschen durch Generierung dualer Spannungen (entweder-oder Dualismen). Sehr oft werden diese dualen Spannungsverhältnisse auch in den Kurationsformaten reproduziert. Yeah: „Ann Liv Young macht Schockperformance in solidarisch konzipierten Sophiensälen. Kommt!" Yeah! „Claus Peymann wird von dem Stadttheatekritiker XY interviewt! Gibt es einen Eklat?" Diese Setzungen sind so stark, so „immersiv", dass der Eklat sozusagen schon eingeschrieben ist. Danach schreien alle auf, wenn der Eklat passiert. Das meine ich mit "Tanz ums goldene Kalb". Die Künstlerinnen reagieren auf diese spannungsvollen Setzungen mit Renitenz und folgen ebenso automatenhaft der bereits eingeschriebenen Spannungen. Eine der beispielhaften Setzungen war das AfD-Podium in der Gessnerallee. Die Setzung war bereits so spannungsreich, dass die Veranstaltung nicht einmal mehr stattfinden musste, für dass der nötige Traffic in den sozialen Netzwerken generiert wurde. Was ich persönlich „falsch" machte im Fall Peymann, dass ich verblendet wurde von der Ko-Kuration und meiner Eitelkeit - und nicht auf meine innere Stimme hörte, die mir durchaus Warnungen zusandte: Samuel, du folgst hier einer eingeschriebenen Skandallogik, mach dieses Interview mit der „Legende" Peymann NICHT. Ann Liv Young hätte man - erst recht nach der skandaldurchzogenen Antigone (im gleichen Chur) - anraten müssen: Lass dich nicht verheizen. Mach was entspanntes, zartes, „therapierendes" - nicht etwas, das die Spannungs- und Skandallogik der Kurationsmaschine bedient. Für Ann Liv Young ist es natürlich nun noch verhängnisvoller als für mich (ich habe schliesslich „nur" einem tyrannischen Regisseur Beleidigungen angeworfen). Im Trump-Amerika sieht es aktuell schlecht aus für Ann Liv Youngs Kunst.. und mit dieser Aktion holt sie sich in Deutschland Applaus bei den garantiert falschen Leuten (nämlich von dieser selber schon von AfD-Logik angekränkelten Fraktion von beleidigten Künstlerinnen, die sich gegängelt fühlen von "Political Correctness" etc, von denen es immer mehr gibt). Das ist schlecht, finde ich. Für mich persönlich hat Ann Liy Young eine sehr schöne und beunruhigende „Antigone" erschaffen, bei der sie sehr gekonnt und komplex ihre Position als Künstlerin im Trump-Amerika reflektiert... nun steht sie als Sprachrohr von Anti-PC im völlig falschen und vergifteten Scheinwerfer-Licht... das ist sowohl für sie, als auch für andere keine gute Entwicklung und müsste man irgendwie korrigieren helfen (was ich hiermit versuche)
Good Sherry, Berlin: nicht Opfer, sondern Katalysator
Wie ich es verstehe ist „Sherry“ mindestens zehn Jahre alt. Ann Liv Young als Opfer der Umstände zu zeichnen geht mir zu weit. Ein Mittel von Populisten ist die Polarisierung, und es gibt kaum ein geeigneteres Werkzeug als Beleidigung. Das „wir“ der Zuschauer positioniert sich sofort gegen „die“ . Wer „die“ ist, ist variabel. Meist ist es anscheinend, wie in #6 zu lesen, die erniedrigte Person. In Besprechungen von Youngs Arbeit nutzten Alastair Macaulay und Andy Horwitz den Begriff „the silly consensus“. Manchmal, so auch anscheinend in den Sophiensälen, ist „die“ Sherry selber.

Sherry ist kein Opfer einer Skandallogik, sie ist -wenn überhaupt- ihr Katalysator.

Wie beschissen müssen sich Rebecca Patek oder auch Georgia Sagri gefühlt haben, als Sherry (in ihrer Freizeit) deren Performances zum Abbruch brachte. Belohnt wurde in der Aufmerksamkeitsökonomie erwartungsgemäss der Aggressor, der Stärkere, der Bully. Die Person die sich -mit welchen Mitteln auch immer- Platz für die eigene Karriere verschafft. Soviel zu Kulturtechnik. Ich weiss ich nicht ob im aktuellen Fall irgendetwas zum Verhängnis wurde, der Karriere Youngs scheint es sehr gut zu gehen.
Good Sherry, Berlin: verschwiegen?
Warum wird in diesem guten Artikel nicht erwähnt, dass der Zuschauer dunkle Hautfarbe hatte? Man muss es aus der Bildunterschrift ableiten. Warum???
Good Sherry, Berlin: differenziertes Sprechen
Liebe(r) Kommentator*in, gern gehe ich auf Ihre Frage ein, warum im Artikel nicht explizit genannt wird, dass es sich um einen Schwarzen Zuschauer handelte, der in der Eins-zu-Eins-Situation adressiert wurde:
Bei Rassismus und rassistischem Sprachgebrauch handelt es sich um ein Machtverhältnis, das phänotypische Merkmale und mutmaßliche ethnische Herkunft von Personen missversteht als Faktoren für gesellschaftliche Teilhabe und Ausgrenzung. Durch Akte der Wiederholung wird dieses Machtverhältnis als politische und soziale Konstruktion weitergetragen. (Darüber haben Theoretiker*innen wie bell hooks, Judith Butler etc. viel eloquenter geschrieben.)
Ich möchte mir als Autorin nicht anmaßen, für andere Personen aufgrund von phänotypischen Merkmale eine Zuordnung von „Schwarz“ bzw. „People of Colour“ oder „weiß“ zu vollziehen. Für mich war es bei meiner Kritik der „Good Sherry“-Premiere ausschlaggebend, dass der Empfänger des rassistischen Sprachgebrauchs sich in der konkreten Situation negativ adressiert fühlte.
Diese Differenzierung ist für mich relevant in der stetigen Bemühung um diskriminierungssensibles Sprechen und die immer neu zu vollziehende Bewusstmachung von internalisierten Sprachmustern.
Kommentar schreiben