Kunst in unsicheren Zeiten

von Dorothea Marcus

Köln, 11. Februar 2019. Sollte politisches Theater auf Mitleidserzeugung ausgerichtet sein? Kann man überhaupt mit Leiddarstellung auf der Bühne Empathie – und letztlich Weltverbesserung – erreichen, ohne Gefahr zu laufen, Teil einer pornografischen Mitleidsindustrie zu werden? Eine, die ohnehin nur das präsentiert, was wir hören wollen? Und können sich Theatermacher*innen mit Weltverbessungsfragen überhaupt glaubwürdig beschäftigen, solange sie Baumwolle tragen und Schokolade essen – Produkte, die unter härtesten neokolonialen Bedingungen hergestellt werden? Knifflige Fragen, aufgeworfen von der Spezialistin schlechthin für globale Gerechtigkeit und Dekolonisierung Nikita Dhawan, Professorin für Politische Theorie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, zum Auftakt des 2. "Flausen"-Bundeskongresses am Freien Werkstatt Theater Köln. Zu ihren Antworten später, denn das Hauptthema war ein anderes.

Flausenkongress4 560 Robin Junicke uIm Freien Werkstatt Theater Köln © Robin Junicke

"Flausen" heißt das Netzwerk so niedlich und ist doch mittlerweile zum Netzwerk aus 24 kleinen bis mittleren freien Theaterhäusern aus 13 Bundesländern angewachsen. Dennoch ist der Name passend. Denn gegründet wurde es mit dem Ziel, freiberuflichen Theaterkünstler*innen Stipendien zu geben, sprich: Freiräume für Fantasie, Forschung und Recherche zuschaffen. Vor kurzem erst wurde die Altersbeschränkung von 35 Jahren aufgehoben. 150 Stipendien hat das "Flausen"-Netzwerk schon vergeben, meist an etwa vierköpfige Gruppen. Die ausgewählten Künstler*innen leben für einen Monat in einer Stadt, können in den Theaterräumen mit Technik-Support arbeiten, ihnen wird ein Mentor gestellt, pro Person erhalten sie 1400 Euro Unterhalt. Am Ende bekommen sie ein Feedback zu ihrer Arbeit und können ein Showing machen, ohne bereits eine fertige Produktion zeigen zu müssen. Das innovative Projekt wird stark gefördert, etwa von der Kunststiftung NRW – nur eine Bundesförderung fehlt, was die Organisatoren des Kongresses, u.a. Gerhard Seidel vom Freien Werkstatt Theater in Köln, nicht müde werden zu betonen.

Auch dafür fand er nun schon zum zweiten Mal statt: um das Selbstverständnis der freien Szene zu stärken, deren kleinere und mittlere Theaterhäuser viel wichtige Arbeit in der Fläche außerhalb der Theatermetropolen machen und dennoch medial kaum beachtet werden. Und so definiert sich der Kongress als eine Art Think Tank der freien Szene, der über den eigenen Tellerrand hinausschaut. Drei Tage lang beschäftigten sich rund 120 Theaterleute nicht nur mit Produktionsbedingungen und Fördererfordernissen – sondern vor allem mit den politischen Notwendigkeiten ihres Schaffens.

Erzählkerbe schlagen

Wie sollen sich Theater positionieren in Zeiten des gesellschaftlichen Rechtsrucks, mit welchen Strategien agieren? Immer häufiger werde etwa von konkreten Störungen auf offener Bühne berichtet, so Janina Benduski, Vorsitzende des Bundesverbands Freie Darstellende Künste: Aufführungen würden gesprengt, Rechte kaperten sich Mikrofone, die eigentlich für die Publikumsteilhabe gedacht waren. Um nicht jeden Detailvorwurf gleich medial aufzublähen und Rechten zu viel Aufmerksamkeit zu geben, habe auch der Bundesverbandfür Die Vielenvor einigen Wochen seine Mitglieder aufgefordert, die Vorfälle zu sammeln: die Liste wachse schnell. Eine Dramatisierung wolle man vermeiden, an die Öffentlichkeit gehen könne man immer noch. Die Strategie lautet momentan eher Vernetzung, Ruhe und sich Überblick verschaffen.

Flausenkongress2 560 Robin Junicke uJanina Benduski, Vorsitzende des Bundesverbands Freie Darstellende Künste © Robin Junicke

Seit einiger Zeit bieten der Bundesverband, die Landesverbände und andere Organisation im Rahmen von "Die Vielen" Workshops an, um sich vor Angriffen auf der Bühne zu wappnen: "Die Rechten haben das Theater als öffentliches Forum entdeckt. Wir schulen, wie man bei Störungen ganz ruhig den Ton des Mikros abdreht, wie man sich vorher mit der Hausordnung vertraut macht, wie man die Leute einfach bittet, zu gehen – so entsteht kein Eklat", erzählt Benduski. Viel schlimmer sei ohnehin der systematische Versuch der AfD, das Kulturleben durch parlamentarische Anfragen zu unterhöhlen. Beispiele gibt es viele: eine große AfD-Anfrage in Hamburg zur "Erklärung der Vielen", eine in Cottbus zum Piccolo-Theater mit ihrem Stück "KRG. – Eine Heimatbetrachtung“, eine zum Kainkollektiv im Ruhrgebiet – das sind nur wenige Beispiele. "Das Schlimme daran ist: Diese Anfragen füttern permanent das populistische Vorurteil, das Theaterkünstler*innen nur Steuergeld verbraten – und nichts beitragen würden. Da wird eine Erzählkerbe geschlagen", so Benduski.

Blick über die Grenze

Nicht zuletzt wurde in Köln auch die europäische Vernetzung vorangetrieben mit Ländern, die mit Populismus schon etwas mehr Erfahrung haben. Davide d'Antonio aus Brescia berichtete, wie sich in Italien gerade das Paradigma für kulturelle Bildung ändert: "Ignoranz gilt als die neue Authentizität, Bildung als verpönt, Schulen und Kultureinrichtungen zerfallen in Stücke", sagt er drastisch. Das unabhängige Netzwerk für freie Künste IDRA, das er leitet, sei eine der wenigen Möglichkeiten, jungen Künstler*innen Ausbildungsräume zu schaffen, indem es, ähnlich wie Flausen, Residenzen ermöglicht.  Allerdings werde in Italien zur Zeit die "Neuordnung" der Förderpolitik betrieben, Mittel würden gekürzt oder entzogen – IDRA sei daher auf private Stiftungsgelder angewiesen. Aus Bulgarien kam Kathrin Hrusanova, Vorsitzende der ACT (Association of Independent Theatre) und Gründungsmitglied der neuen europäischen Association of Independent Performing Arts, die gerade eine große Vergleichsstudie zur Förderung der Freien Szene in acht europäischen Ländern veröffentlicht hat. Sie ist, trotz der populistischen Strömung selbst in der Kulturszene, leise optimistisch: "In Bulgarien konnte nur durch die Vernetzung mit europäischen Partnern die Position der freien Szene gestärkt werden."

Flausenkongress 560 Robin Junicke uPanel mit dem Titel "Zwischen Freiheit und Auftrag" © Robin Junicke

Vernetzung macht stärker und sichtbarer – letztlich lag diese empowernde Grundüberzeugung auch unter all den anderen Themen, die 120 Kongressteilnehmer*innen bei Gesprächsrunden in konkrete Forderungen verwandelten. Was brauchen freie Theaterkünstler*innen? Vieles blieb dabei utopisch: Ist ein bedingungsloses Künstler-Grundeinkommen wirklich realistisch, oder sollte man nicht vielmehr versuchen, eine ähnliche Künstler-Arbeitsversicherung aufzubauen wie in Frankreich oder Belgien? Realisierbarer erscheinen: Kinderbetreuungs- und Pflegekosten, die bereits in Förderanträgen berücksichtigt werden, ein "Art but fair" für andere Gewerke als nur für Bühnenkünstler*innen, mehr Förderprogramme für Darstellende Kunst im ländlichen Raum. Eines der Themen, die die Bundes- und Landesverbände zur Zeit aktiv angehen, ist die Forderung nach transparenteren Jury-Entscheidungen, im April 2018 fand ein Fachtag dazu statt.

Intransparente Entscheidungen

"Es ist absolut wichtig, Kriterien von Jurys – und schließlich auch ihre Begründungen – offenzulegen", sagt Ulrike Seyboldt vom Landesverband der Darstellenden Künste in Hannover, so, wie es etwa gerade die Senatsverwaltung Berlin vorbildlich getan habe. Ebenso wichtig sei es, Schulungen für Jurymitglieder einzufordern, um deren Fachkompetenz zu schärfen und überhaupt sinnvolle Entscheidungen über Fördergelder möglich zu machen. Allzu oft säßen reine Verwaltungsangestellte in Entscheidungsgremien. Und klar, da man in Köln war, kam an dieser Stelle auch die missglückte Intendantenfindung im Stadttheater zur Sprache. "Die freie Szene hat so einer städtischen Intendanzsuche einiges voraus", sagte Janina Benduski: "Selbstverständlich ist hier die Forderung, dass erst die Entscheidungskriterien über die Vergabe eines großen Postens geklärt werden, erst die strukturellen Erfordernisse, erst, auf welcher Grundlage wer was entscheidet – dann erst wird zu Personalien gesprochen. Dass an deutschen Stadttheatern immer noch Persönlichkeiten über Funktionen stehen und immer noch intransparent und unklar ist, wer was entscheidet, dass hört sich ziemlich veraltet an.“

Flausenkongress3 560 Robin Junicke uNikita Dhawan, Professorin für Politische Theorie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen © Robin Junicke

Nur so sei es auch möglich, Diversität in den Strukturen zu erreichen. Womit wir wieder bei Nikita Dhawan wären: So politisch und weltverbesserisch man als Theater auch immer agieren wolle, aus den eigenen postkolonialen Machtstrukturen und kapitalistischen Machtverhältnissen komme man kaum heraus. Auch wenn Jurys divers oder paritätisch weiblich besetzt würden, auch wenn Migrant*innen auf der Bühne scheinbar noch so wohlmeinend repräsentiert würden: eurozentrischer imperialistischer Feminismus verwandle sich leicht in Gift, migrantische Positionen würden schnell missbraucht. Denn meist dürften diese ohnehin nur verkünden, was die Mehrheitsgesellschaft als Rahmen setze. Und wie lange soll eine migrantische Position oder eine "person of colour" überhaupt noch als "besonders" markiert werden? Das beste für politisches Theater, besser als alle Mitleidserzeugung, sei ohnehin die buddhistische Haltung des "Karuna", das "tätige Mitgefühl", gekoppelt mit Weisheit: keine westliche Aufspaltung von Intellekt und Emotion, sondern eine wache Kombination aus beidem.

 

Flausenkongress
5.-7. Februar 2019 in Köln

www.flausenkongress.de

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