Pulp Theatre

von Wolfgang Behrens

Berlin, 4. Mai 2010. Lustiger beginnt derzeit wohl kein Theaterabend in Berlin. Es tritt auf der Chor der Blogger: Grausam bebrillte Pappkameraden schwanken herein, wunderlich aus Karton ausgeschnittene und zusammengebastelte Gestalten, die mit ihrem lieblos im Pappgesicht verteilten blauen Paketklebeband irgendwie die Aura zutiefst missgelaunter Nerds verströmen. Was für eine Parade!

Das Puppentheater Das Helmi, das mittlerweile in der von Anne Tismer begründeten freien Spielstätte Ballhaust Ost residiert, hat sich für seine neuste Produktion – man lese und staune! – von dem allseits geachteten nachtkritik.de-Kommentator Stefan inspirieren lassen, der am 8. März 2010 um 13:02 Uhr im sogenannten Axolotl-Thread seine Idee für die Theatralisierung des Romans "Axolotl Roadkill" von Helene Hegemann postete: "Wie wäre es, wenn unter der Regie von Volker Lösch, ein Chor entrüsteter Blogger auf der Bühne sein Recht auf Anerkennung der Urheberschaft am Werk einklagen würde?" (Unüblicherweise ist die Quelle im Programmheft sogar genannt.) Und tatsächlich baut sich der Pappchor in anklagender Lösch-Manier hinter der Helene-Hegemann-Darstellerin Katharina Schröder auf und macht ihr übelste Vorhaltungen: "Du hast das alles nicht erlebt!"

Nichts für Authentizitätsfreaks
Man kann eigentlich – wenige Wochen, nachdem die Debatte um Helene Hegemanns Romandebüt wieder abgeebbt ist – nur den Kopf schütteln über einige der Argumente, die damals ins Feld geführt wurden. "Du hast das alles nicht erlebt" ist so ein Argument, das ja schon Karl May zu schaffen machte und das offenbar so absichtsvoll am (auch) fiktiven Wesen der Literatur vorbeizielt, dass es fast bösartig genannt werden könnte. Im Rahmen des zweifellos über Gebühr und weit über den Anlass hinaus hochgekochten Plagiatstreits, der sich an "Axolotl Roadkill" entzündete, ergab sich jedenfalls für einige Kritiker die Gelegenheit, der Autorin übelzunehmen, dass sie nicht die Mifti ihres Buches ist. Welcher Vorstellung von Authentizität waren diese Leute wohl aufgesessen?

Die von Helene Hegemann und den Helmis gemeinsam erarbeitete Aufführung, die auf den schön verballhornten Titel "Axel hol den Rotkohl" hört, ist nun wahrlich nichts für Authentizitätsfreaks. Der Chor der Kartonköpfe nölt etwas vom Authentischen und ist dabei einfach nur zum Lachen – die anarchischen Pappmaché-Gebilde der Helmis konterkarieren jeden Echtheitswahn, hier wird pulp fiction im Sinne des Wortes betrieben. Wenn der Chor der Blogger mit dem Bekenntnis "Wir können aber gut ficken" die Spielfläche wieder verlässt, ist allerdings die lustigste, die parodistischste, die anspielungsreichste Szene des Abends auch schon vorbei.

Schaumstoffwucherungen und dadaistischer Trash
Was folgt, ist eine recht freie und mitunter hübsch absurd angereicherte Zusammenstellung von Dialogen aus "Axolotl Roadkill". Die Krassheiten, die im Buch noch manchem als Ausweis der Realitätsnähe gedient haben mögen (eine übrigens nicht sehr kluge, aber gängige Gleichung: abgefuckt = authentisch), werden bei den Helmis konsequent in fast dadaistisch anmutenden Trash überführt.

Was natürlich zu einem Gutteil wieder den Puppen zu danken ist: Die Heldin Mifti selbst (von der aus Andres Veiels Film "Die Spielwütigen" bekannten Schauspielerin Stephanie Stremler mit eigenartiger Somnambulität geführt) ist einfach ein aus gelbem Schaumstoff herausgesägtes, mit Kleidchen und Haaren behängtes Wesen, das – wenn man bei den Helmis überhaupt von Ähnlichkeiten sprechen kann – tatsächlich entfernt an Helene Hegemann erinnert. Um sie herum toben weitere wilde Schaumstoffwucherungen, die wohl ebenfalls - da sie Augen und Münder haben - als Figuren anzusprechen sind.

Berghain-Türsteher als Abfalleimer mit Wolfskopf
Zur trashigen Wirkung trägt aber auch die Spielweise der Helmis bei, die einem zwischen Coolness und Schläfrigkeit schwankenden Dilettantismus frönt. Dieses betont Kunstlose, ja fast Pennälerhafte des Vortrags verfehlt - gerade in Zusammenhang mit den Obszönitäten des Textes – seinen Witz nicht, allein: Es kann die Spannung nicht halten, da sich erst gar keine aufbaut. Es gibt dann zwar noch tolle Einfälle – der Türsteher des Clubs Berghain etwa präsentiert sich als ein von einem bizarren Wolfskopf bekrönter Abfalleimer, der die abgewiesenen Besucher frisst; und es werden auch wunderbar blöde Gitarrensongs gesungen, auf so griffige Texte wie "Kann ich dich jetzt mal ganz kurz fragen, ob du irgendwie gestört bist?" -, so komisch das indes im Einzelnen sein mag, es ermüdet auch schon auf die Dauer von kurzen 1 1/4 Stunden ein wenig.

Die Lektion, dass die scheinbare (oder nachträglich untergeschobene) Authentizität von "Axolotl Roadkill" nur eine spielerische Konstruktion ist, ist schnell gelernt. Danach kann man noch einige Male beherzt kichern – und sehnt sich doch bald nach jenem formvollendet formlosen Chor der Blogger zurück, mit dem der Abend so fulminant begann.

 

Axel hol den Rotkohl
von Helene Hegemann und Das Helmi
Von und mit: Burkart Ellinghaus, Helene Hegemann, Felix Loycke, Florian Loycke, Brian Morrow, Katharina Schröder, Stephanie Stremler, Emir Tebatebai.
Künstlerische Mitarbeit: Daniel Schrader. Produktionsleitung: Hendrik Unger, Dramaturgische Mithilfe: Susanne Eigenmann, Beratung: Tom Stromberg, Annika Pinske, Volker M. Schmidt.

www.ballhausost.de
www.das-helmi.de


 

Im Ballhaus Ost hat bereits 2007 Sebastian Mauksch, einstiger künstlerischer Leiter der Volksbühnenjugendclubs P14 Helene Hegemanns dramatischen Erstling Ariel uraufgeführt, den der Jugendclub am Schauspiel Köln im April 2010 (mit Goethe gemischt) zweitinszenierte. Zur nachtkritik von Bastian Krafts Uraufführung von Axolotl Roadkill am Hamburger Thalia Theater geht es hier.


Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (7.5.2010) berichtet Peter Laudenbach von einer "gut gelaunten Trash-Inszenierung": "Im Ballhaus Ost, mitten im Hegemann-Kiez Berlin Mitte, wo es schon als Hipness-Beweis durchgeht, sich überwiegend mit der eigenen Verwirrtheit zu beschäftigen, reduzieren die Helmi-Puppen die Feuilleton-Schlachten zum Kinderzimmer-Spaß." Beschwingter seien "heißgelaufene Feuilleton-Debatten selten entsorgt" worden.

In der Welt (7.5.2010.) gesteht Laura Ewert, dass sie sich während der Vorstellung kaum getraut hat, Notizen zu machen, um nicht als Kritikerin entlarvt zu werden. Auch ihr hat die Vor-Adaption des Stoffes (die Uraufführungsrechte des Romans habe Hegemann dem Hamburger Thalia Theater übertragen) durch Das Helmi gut gefallen: "Das Stück ist fragmentarisch und voller kleiner Bilder, wirkt völlig verwahrlost und dann wieder liebevoll wie ein Kindertheater." Es sei "großartige Comedy", die sowohl die Hochkultur- als auch "die Clubszene in ihrer Blasenhaftigkeit" entlarve.

Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (7.5.2010) allerdings ist anderer Ansicht. "Axel hol den Rotkohl" dürfe man sich leider nicht "als spitzzüngige Reflexion über Intertextualität und Authentizität, Fremd- und Selbstbestimmung, Wahnfantasien und Realitätswahn vorstellen". Stattdessen handle es sich um "einen im Vergleich zum Roman ziemlich unterkomplexen Versuch, die persönliche Verletztheit der Autorin durch die Kritik der vergangenen Wochen aufzuarbeiten". Den "Teufel" ihrer Abstempelung zum dummen Mädchen wolle sie offenbar mit dem "Beelzebub" des Kindertheaters austreiben, was aber vor allem "verschnupft" wirke.

In der Zeit (12.05.2010) schreibt Andrea Hanna Hünniger über eine "krasse, aber schöne" "Überdosis Hegemann": Alle seien traurig, dass der "Hefepilz Hermann" unter "mysteriösen Umständen" von der Bühne des Ballhaus' verschwunden sei. Hermann ist der Diskurs über das Hegemann-Buch, "angeschwollen zu einem blubbernden, schleimigen Hefebrei". Wenn das ganze Gerede über Hegemanns Buch und über Hegemann für die Bühne zusammengefasst wird, ist "wenigstens was Wertvolles draus geworden". Angesichts der auf der Bühne tanzenden Helmi-Puppen fragt sich Hünniger: "da fragt man sich, wer hier eigentlich wen tanzen lässt und ob nicht die Autorin noch viel mehr Spaß an der Sache hatte als ihre Rezipienten."

 

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