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Den Letzten holt die Feuerwehr

von Tobi Müller

Zürich, 31. August 2011. Es wird gerade viel geredet über das Theater und die Kritik. Vor zehn Tagen hatte die Berliner Akademie der Künste zu ihrem "Fünf-Uhr-Tee" mit zwei altverdienten Kritikern und zwei mittelalten Intendanten geladen, die Kaserne in Basel veranstaltet anlässlich ihres Treibstoff-Festivals einen ausgedehnten Workshop für junge Kritiker. Und am 1. September leite auch ich noch einen halben Thementag an der Zürcher Hochschule der Künste, an dem Geschichte und Zukunft des Theater-Kritik-Verhältnisses erörtert werden soll. Viel begleitetes Nachdenken also.

Theaterkritik am Boden

Das sind Krisensymtpome: Die öffentliche Hand spielt eine Runde Bad Bank und kauft Diskurse kurz vor ihrem Crash. Irgendwann werden coole Ausstellungskuratoren die Aufräumarbeit übernehmen: Gerhard Stadelmaiers Spiralblock-Event als 3D-Re-Enactment, der Künstler Urs Fischer gießt Christine Dössels Reisetasche samt Hotelsouvenirs in Wachs, zum Beweis, dass Kritiker mal richtig unterwegs waren. Lang wird die Schlange auch vor Franz Willes Vespahelm sein: Wenn man sich das Ding aufsetzt, ist man in einem Rollenspiel und sieht, wie Wille die Theatertreffen-Jury auf Linie bringt. Bilder aus einer andern Zeit. Denn die Theaterkritik ist nicht nur in der Krise, sie liegt vielerorts bereits am Boden.

In Deutschland arbeiten rund 17.000 Journalisten, davon schreiben mittlerweile noch zwischen 3 und 5 ausschließlich und in Festanstellung über Theater – ein paar wenige mehr, wenn wir Wochen- und Fachblätter dazu zählen. Wir reden so oder so über die zweite Stelle nach dem Komma. Wir könnten uns in kleinteiligen Diskussionen verlieren, ob ein Radiogespräch eine kritische Textsorte sei oder eine Vorschau nicht auch Öffentlichkeit herstelle. Oder wir könnten die Theaterkritik noch zehn Jahre schlußverwalten. Aber wir sollten niemandem zu diesem Beruf raten.

Bei vielen Zeitungen verdient man für eine Theaterkritik noch die Hälfte wie vor fünfzehn Jahren. Man müsste rund das Doppelte, wenn man die Teuerung oder gar eine Familiengründung dazurechnet, das Dreifache schreiben. Umfang wie Status der Kritiken nehmen derweil ab, der Servicecharakter zu, die Textsorte nähert sich dem Bericht an, wofür übertriebene Fachkompetenz eher stört. Die Chance, Bundeskanzler oder Germany's Next Top Model zu werden, ist größer, als jemals eine Redaktionsstelle im Fachbereich Theater zu kriegen.

Window-Shopping bei nachtkritik.de?

Wir schreiben trotzdem weiter, als wäre nichts geschehen. Die meisten Theaterkritiken, die ich lese, reproduzieren denn auch Formen, die aus einer andern Zeit stammen. Als es noch Platz gab, hegemoniale Medienkanäle und weniger Verstreuung, keine Partizipation, aber viele unkündbare Tarifverträge.

Auch auf nachtkritik.de schreiben die meisten, als wäre diese Seite Teil einer Tageszeitung – was verständlich ist, weil manche ihre Nachtkritik auch anderswo als Tageswerk verkaufen müssen. Aber stimmt es, dass jüngere Kritiker davon ausgehen, ihre Ware werde hier im prominenten Schaufenster ausgestellt? Schaufenster stimmt ja, der Betrieb und die Kritik schauen tatsächlich vorbei. Aber es bleibt beim Window Shopping. Keiner geht rein und kauft, diese Stellen gibt es nicht mehr.

Theaterkritik erscheint mir deshalb zunehmend als Farce, als tragikomische Wiederholung eines ehemals konfliktreichen und konkreten Geschäfts, als Kritik eine Instanz war in der Gewaltentrennung zwischen Theater, Presse und meist kommunaler Politik. Es handelt sich um eine Farce, weil die Kritik nur mehr ein Hobby sein kann, aber gleichzeitig einem strengen Geist gehorcht, den sie weder beerdigen noch zufrieden stellen kann. Man versucht, an manchen Idealen der Theaterkritik festzuhalten. Aber unter den gegenwärtigen Bedingungen ist das unmöglich und vielleicht noch nicht einmal ästhetisch sinnvoll. Übrig bleibt dann oft nur die schlechte Laune.

Die Kritik kann der Kunst keine Antwort mehr geben

Es gibt zwei Richtungen, für die man sich gegenwärtig entscheiden kann: mehr Mitte oder mehr Nische. Man kann die Textsorte Theaterkritik weiter normalisieren, wie das jeder Chef, alle mir bekannten Bücher zum Thema und jede Journalistenschule fordern. Weniger assoziativ schreiben, deutlicher vermitteln, mit stets klarer Ansprache auch an jenen Leser, der sich noch nie für Theater interessiert hat.

Dieser Prozess ist längst im Gang, er vergrößert weiterhin die Kluft zwischen Kunst und Kritik: Während die Kunst sich seit zweihundert Jahren ausdifferenziert, wählt die Kritik eine stets universalistischere Ansprache. Die Kritik kann der Kunst somit keine Antworten mehr geben. Die Theater haben darauf reagiert: mit Jugendarbeit, mit partizipativen Projekten, mit Diskursreihen und Theoriewochenenden. Aber kann man sich wirklich kritisch selbst beobachten?

Das größte Rätsel bleibt deshalb, warum sich die Kritik nicht versuchsweise frei macht von ihren Zwängen, wenn das alte Modell so gar nicht mehr funktioniert. Es könnte auch Lust verschaffen, sich von der leitkulturellen Funktion zu verabschieden und nicht mehr gesellschaftliche Mitte simulieren zu müssen.

Runter vom Hochsitz!

In der Zeitung wird das vorerst nicht passieren, die Verleger haben kapituliert, begeben sich alle auf dieselbe Flughöhe und werden sich dort gegenseitig abschießen, bis nur noch ein, zwei Leuchttürme übrig sein werden. Im Fernsehen spielt Theater keine Rolle. Und das Radio ist vor allem da stark, wo es den Betrieb im O-Ton abbildet. Die Praxis, dass man in den Online-Angeboten der Rundfunkanstalten Texte verschriftlicht, die auf Mündlichkeit hin konzipiert wurden, nimmt außer mancher unter Bedeutungsverlust leidender Kritiker selbst, niemand ernst. Experimente sind vorerst also nur in der Fachpresse und in digitalen Neugründungen denkbar.

Ich mache Ihnen hier den Kostja aus Tschechows "Die Möwe" und rufe zu neuen Formen auf. Das ist immer ein bisschen lächerlich. Etwas Linderung verspricht, dass ich das nicht am nervösen Anfang meines Berufslebens sage, sondern in der etwas ruhigeren Mitte, und dass ich damit nicht, wie Kostja, den radikalen Bruch mit Tradition meine. Die Autorität des Kritikers hat schon lange vor Web 2.0 und den damit verbundenen Erzählungen der Partizipation zu bröckeln begonnen.

Die politische und ökonomische Zeitenwende von 1989 hat Teile des Theaters dazu gezwungen, werkimmanente Positionen aufzugeben und das Gegenteil zu suchen: die Überschreitung des Kunstrahmens, die künstlerische Psychose. Teile der Kritik wiederum haben diese Überschreitung nachvollzogen, damit aber auch den sicheren Hochsitz der stets kritisch-distanzierten Warte aufgegeben.

Ungeschützer, dialogischer, experimenteller

Das ist das Dilemma: Wer noch immer dort oben sitzen will, wirkt realitätsfremd und muss irgendwann von der Feuerwehr heruntergeholt werden, und wer von selbst hinuntersteigt, gibt seine Autorität ab und begibt sich auf die Wildbahn, wo sich Künstler, Zuschauer, und andere Kritiker tummeln. Vielleicht sollten wir so schreiben, dass man die Wildbahn auch besser bemerkt: ungeschützter, offener, dialogischer, experimenteller. Warum passiert das auf nachkritik.de so selten, warum wird hier noch immer bürgerliche Tageszeitung gespielt, flankiert von ein paar fundierten und ganz vielen besserwisserischen Kommentaren, die das Genre der Kritik bestenfalls karikieren?

Zum Loslassen hilft, wenn wir uns einmal daran erinnern, wie historisch kontingent und kurz die Zeit der vielen dicken Feuilletons war, deren Verlust wir nicht aufhören zu betrauern. Der geistige Um- und Ausbau der Zeitungslandschaft im deutschen Sprachraum war ein durch die lange Hochkonjunktur der Nachkriegszeit begünstigtes Projekt, das Mitte der Sechzigerjahre begann und Ende der Neunzigerjahre endete. Davor ging es auch anders. Und nur anders wird es weitergehen.

 

tobimueller2Tobi Müller ist freier Journalist in Berlin.

Am 1. September 2011 leitet er an der Züricher Hochschule der Künste die Tagung "TheaterMedienZukunft".
Zu den Referenten und Panelteilnehmern gehören unter anderem nachtkritik.de-Mitbegründerin Petra Kohse, Theater-heute-Redakteur Franz Wille, der Dramatiker Lukas Bärfuss und Barbarba Weber, Ko-Direktorin des Theaters Neumarkt. Mehr zum Programm hier.

www.kulturpublizistik.ch

 

 


Mehr zum Thema Geschichte und Zukunft der Theaterkritik lesen Sie bei zwei Gründern von nachtkritik.de: Nikolaus Merck über nachtkritik.de und Theaterkritik im Internet. Petra Kohse zur Geschichte der Nachtkritik

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Kommentare  
Debatte Theaterkritik: Was genau heißt dialogisches Schreiben?
Eine zentrale Aussage des Textes ist wohl: "Vielleicht sollten wir so schreiben, dass man die Wildbahn auch besser bemerkt: ungeschützter, offener, dialogischer, experimenteller." Das ist interessant, wird aber leider nicht weiter ausgeführt. Dialogischer geht es ja z.B. auf nachtkritik zu, wie es mit dem Gewinn dabei aussieht, mag man fragen. Jeder kann seine Meinung schreiben, dies geht auch schneller als mit einem Leserbrief bei einer Zeitung, vor allem wird hier jeder, von Kürzungen abgesehen, veröffentlicht, auch die jeweiligen Dramaturgien. Aber ist das ein Austausch? Manchmal glaubt man, geht es vor allem den Lesern um eine bestimmte Deutungshoheit. Kurz, ich frage mich, wie das laut T. Müller also konkret aussehen könnte? Spannend klingt es allemal!
Debatte Theaterkritik: Sollen Kritiker selbst Künstler werden?
Überaus bitter, aber wohl wahr.
Meint er damit, die Kritiker sollten selbst zu Theaterkünstlern werden, in welcher Form auch immer? Weniger von Außen betrachten als sich mitten ins Geschehen setzen, mit all seinen Vagheiten und Unbekannten? Wenn ja, dann wäre das freilich wünschenswert (ob es nun irgendetwas oder -jemanden rettet, sei dahingestellt), aber ebenso gefährlich. Denn irgendwer, der auf dem Trockenen sitzt und von dort aus qualifizierte Kommentare abgibt, hat noch allen gut getan.
Debatte Theaterkritik: für altmodisch professionelle Kritik
Ich bin altmodisch. Ich wünsche mir professionelle Kritik von außen mit Herzblut und Respekt für die von drinnen, mit Sachkenntnis, mit eigener Meinung, anschaulich beschreibend, nicht nur Regiekonzepte, auch die Arbeit der Schauspieler kritisch zur Kenntnis nehmend.
( Eine Freude war mir hier im April die Kritik von Wolfgang Behrens zu Wilsons LULU-Inszenierung im BE )
Otto
Debatte Theaterkritik: Warum braucht Netzkritik eine andere Ansprache?
Ich verstehe eine Bewegung des Textes von Tobi Müller nicht: Zuerst beschreibt er Kritik als absterbendes Geschäft, man kann nicht mehr davon leben. Nun gut. Wenn die Kritik aber ins Netz abwandert, wo man nicht von ihr lebt, wo man sie aber einfach macht, warum sollte sie dann ihre Ansprache ändern? Das wäre ja nun gerade die Forderung der journalistischen Mitte, der im Netz nicht nachgekommen werden muss. Hier kann - da es der Gegenstand fordert - weiter eine, von mir aus "bürgerliche", Tradition der differenzierten Kritik aus einer Außenperspektive weiterleben, und sie findet vermutlich ihre (kleine) Leserschaft.

Im zweiten Teil des Textes schreibt Tobi Müller davon, wie sich die ästhetischen Gegenstände geändert haben: Überschreitung etc. Mag sein, dass das eine andere Art der Kritik erfordert. Aber wie soll das Herabsteigen vom Hochsitz denn aussehen? Indem argumentfrei gesprochen wird? Das kann Tobi Müller hoffentlich nicht meinen. Ich behaupte, dass die Kritik gar nicht so sehr auf dem Hochsitz sitzt, wie Tobi Müller meint. Wenn hier auf nachtkritik.de eine Kritik erscheint, die sich fundiert mit einer Aufführung auseinandersetzt, dann begründet doch das Fundament allein noch keinen Hochsitz.

Mehr als die Forderung nach der neuen Form würde mich das Beispiel einer Umsetzung interessieren. Dann würde man vielleicht bald sehen: Der Kritiker 2.0 ist nackt.
Debatte Theaterkritik: nicht die Illusion aufrecht erhalten
danke für die (so gesitteten!) Kommentare. Ganz kurz, die Veranstaltung in Zürich drängt: Ich fordere nicht eine andere Ansprache im Netz, das wäre missverständlich. Und ich habe auch nichts gegen lange Theaterkritiken in dicken Zeitungen. Ich glaube bloß, dass die Bedingungen, diese Form des Schreibens zu praktizeren, nicht mehr gegeben sind. Und dass man folglich auch nicht mit letzter Kraft die Illusion aufrechterhalten soll, als würde es das noch alles geben. Das grenzt an Verleugnung. Ganz kurz: Wenn es schon kein Geld gibt, dann könnte man auch mehr so schreiben, wie man es für richtig hält.
Debatte Theaterkritik: anregend
guter, anregender artikel herr müller, wünsche einen spannenden thementag. kleiner hinweis an die redaktion: das artikeldatum liegt in der zukunft, da stimmt was nicht.

(Sehr geehrte/r jup, das Datum ist berichtigt. Vielen Dank für den Hinweis! Christian Rakow/Redaktion)
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