Konkurrenz für die Wirklichkeit

von Cornelia Fiedler

München, 28. Februar 2014. Der leichte Schwindel beim Anfangsblick in den trichterartigen, nebligen Abgrund, in den Bettina Pommer die Spielhalle verwandelt hat, ist nur die erste Verunsicherung des Abends – weitere sind Programm. Alles ist grau hier: das quadratische Becken in der Mitte, das Wasser darin, die steil ansteigenden, meterhohen Stufen und die Klappsitze auf drei Seiten des Bühnenraums, die an die dichten Ränge eines Anatomie-Hörsaals erinnern. Auf den Stufen der leeren vierten Seite ist nur ein einziger Stuhl. Dr. Kofler, Sylvana Krappatsch im blauen Hosenanzug, sitzt darauf, wenn sie sich nicht gerade in verständnisvoller Annäherung an ihre Patienten übt. Sie und wir alle würden eigentlich ganz wörtlich herabblicken auf diese zwei Anderen, Abweichenden, Aussortierten da unten. Würden, wenn die beiden Schizophrenie-Patienten Alexander März und Hanna Grätz sich auch nur eine Minute an diese künstliche Abgrenzung hielten.

Tun sie aber nicht, denn die Stückfassung von Jeroen Versteele klinkt sich just in dem Moment in die Handlung des Psychiatrie-Romans "März" von Heinar Kipphardt ein, in dem die beiden sich heraus stehlen aus der vorgezeichneten "klinischen Karriere". Sie wollen ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen wagen. Entsprechend fordernd drängt sich Thomas Schmauser als März durch die Sitzreihen, die ihm im Weg stehen und nimmt hier und da im Zuschauerraum Platz. Irgendwie passt es dazu, dass er auch mal eine Besucherin hinausgeleitet, die den Bühnennebel nicht verträgt – einfach weil er frei ist, das zu tun.

Das schwere Ich
Johan Simons' Inszenierung nähert sich März und Hanna vorsichtig, fast freundlich. Beide beginnen, wohl eher aus Psychiatrie-Routine denn aus der Hoffnung, dass es jemanden interessieren könnte, über ihre Träume und verstörenden Erlebnisse zu reden. Sandra Hüllers Hanna erzählt unsicher, tastend und nach innen gekehrt: Sie sei eben jemand, den man nackt in eine leere Zelle sperre. Dort schreie sie dann und schreibe mit den eigenen Fäkalien "Lüge" an die Wand. "Was ist Lüge?", fragt März ganz selbstverständlich. Er steht barfuß mit nassen Hosen auf einer der Stufen schräg gegenüber. Ihre Erklärung zur identitätsverwirrenden Familiengeschichte kontert er beiläufig mit dem großartigen Satz: "Manchmal ist Ich sehr schwer." Im jeweils anderen treffen die beiden unverhofft auf Verständnis für ihre eigene, kaum vermittelbare und für viele sogar beängstigende innere Welt. 

Maerz2 560 JulianRoeder xSylvana Krappatsch, Sandra Hüller und Thomas Schmauser im Nebel © Julian Röder

Dass die unbeholfen traurigschöne Geschichte vom Kennenlernen, dem ersten Kinobesuch, dem gemeinsamen Aus- und Aufbruch und dem ersten eigenen Zuhause auf einer Schweizer Alm gegen Ende kippt und auf einen psychotischen Schub zusteuert, bleibt erst Andeutung. Noch hält sich die unsichere Leichtigkeit der Inszenierung, und Dr. Kofler übernimmt. Sie trägt in freundlich distanziertem Ton März' Krankenakte vor, inklusive ihrer eigenen früheren Versuche, den Klinikinsassen aus seinem Schweigen zu locken. Als die Ärztin in einen schwärmerischen Traum über eigene Heilungserfolge abgleitet, wird sie brüsk unterbrochen und – der Plot beginnt von vorn. Hanna: "Schön ist es hier." März: "Gemütlich." Hanna: "Schön und gemütlich."

Künstler und Grapscher
Diesmal wird eine andere Geschichte aus dem fast wortgleichen Text: Sandra Hüller als Hanna ist jetzt lauter, empörter. Sie spricht am Limit, als müsse sie ein mächtiges Brodeln unterdrücken. Ständig putzt und werkelt sie manisch auf den Stufen und am Wasserbecken herum. Schmauser spielt März ebenfalls aggressiver, zwischen irrem Künstler, penetrantem Grapscher und Jesusverschnitt mit einem mal schlecht, mal gar nicht sitzenden Handtuch um die Lenden. Im Gegensatz zum ersten Teil fällt die Inszenierung jetzt stellenweise unangenehm in die üblichen, dumpfen Klischeebilder psychisch Kranker zurück.

Während Kipphardts Roman mit ungeheurer Materialfülle nach der Genese von Psychosen fragt und unverhohlen didaktisch das gesellschaftliche Unvermögen bloßlegt, mit Normabweichungen umzugehen, setzt Simons auf einer anderen Ebene an. Nach zwei Versionen und einem leidvollen Ende entlässt er einen in völlige Unsicherheit darüber, welche Deutung, welche Bedeutung das eben Erlebte nun haben soll. Die Erinnerung an eine Szene wird überlagert von der zweiten Version, eine schlüssige Einordnung gelingt nicht. Dieses verstörende Gefühl, dass die Wirklichkeit einem entgleitet, dass Zuverlässigkeit kaum möglich ist, kann nichts erklären. Dafür kann es  vielleicht eine leise Ahnung dessen vermitteln, was März und Hanna quält.

März
nach Heinar Kipphardt
Fassung und Dramaturgie: Jeroen Versteele
Regie: Johan Simons, Bühne: Bettina Pommer, Kostüme: Henriette Müller, Licht: Jürgen Kolb.
Mit: Sandra Hüller, Sylvana Krappatsch, Thomas Schmauser.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

Mehr lesen: Presseschau vom 8. März 2012 – Das Neue Deutschland zum 90. Geburtstag des Dramatikers Heinar Kipphardt

 

Kritikenrundschau

Johan Simons habe "nicht so sehr die Patientengeschichte interessiert oder Kipphards Abrechnung mit der Psychiatrie, sondern die Begegnung zweier hochsensitiver, zweier andersartiger Menschen, deren Empfindungsfähigkeit und deren Empfindlichkeit weit über das normale Maß hinaus gehen", so Sven Ricklefs im Deutschlandfunk (1.3.2014). Der Abend sei "wieder eine dieser menschenzärtlichen Arbeiten" Simons', der dabei seinen beiden Schauspielern Sandra Hüller und Thomas Schmauser "viel Freiheit gelassen hat: diesen beiden faszinierenden Experten für Figuren auf der Borderline". Die Wege dieser beiden Menschen "in ihrer Zartheit oder in ihrer Aggression auszuhalten, ohne dafür gleich gesellschaftlich-anerkannte Katalysatoren zu suchen, dazu fordert dieser ebenso leise wie eindringliche Theaterabend auf".

Der Abend sei auch "eine späte Wiedergutmachung" an Kipphardt, einst Kammerspiel-Dramaturg, weiß Matthias Heine in der Welt (online 1.3.2014): "Seinen Posten musste Kipphardt nämlich wegen eines Skandals, um das Programmheft zu einer Aufführung von Wolf Biermanns 'Der Dra-Dra' aufgeben." Heine preist Text und Schauspieler, hat aber Einwände: "Man ahnt, dass es dem Regisseurs Simons und allen anderen Beteiligten beim Einsatz der distanzierenden und verfremdenden Mittel darum ging, die ganzen Wahnsinnsklischees des psychologischen und realistischen Schauspiels zu umschiffen. Aber die Gestade, an denen sie vermutlich unfreiwillig landen, sind die des faszinierend anzuschauenden Poesie-Kunstturnens."

Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (3.3.2014) hat Gerhard Stadelmaier der "Plansch-Vernichtung eines Außenseiters" beigewohnt. Man sehe in "Schmausers Verrückten-Schmiere", findet Stadelmaier, nicht "den von der Gesellschaft ausgestoßenen Phantasten, der in seiner Sprache, seinem Leben und seiner Kunst eine Gegenwelt aufbaute und dafür die Ruhe und die Nachdenklichkeit brauchte, die Kipphardt ihm human spendiert: als einem Dichter des Leisen und Querständigen". Vielmehr scheine "dieser schreihalsige, bassinwassersaufende, seinen Pimmel begutachtende und wortverschluckende Durchgeknallte" hier "völlig zu Recht psychiatrisiert und weggesperrt". Das Theater halte sich die Figur rotzig vom Leib. "Kein Verständnis. Keine Form. Nur tiefe Verachtung."

"Erst einmal ist da ein Raum, der schon alles aussagt, was man wissen muss", beginnt ein ziemlich begeisterter Egbert Tholl seine Kritik in der Süddeutschen Zeitung (3.3.2014). Der Raum erzähle, dass alles, was darin stattfinden wird, unter Beobachtung stehe, einer klinischen Betrachtung ausgesetzt sei. "Es wird eine Liebe sein, der man hier zuschaut, eine Liebe, die sich nichts schert um die anderen, die zwei Menschen vereint, die auf alles, was sich außerhalb ihrer Liebe befindet, eine sehr eigenwillige Sicht haben." Thomas Schmauser und Sandra Hüller entwürfen "eine wilde und zarte, eine unendliche und schwer zu erkundende Topografie einer Liebe, durch die keine Karte je den Weg weisen wird, zumindest keine, die jemand außer den beiden lesen kann". Vielleicht sage man in der Liebe oft dasselbe, aber auf tausend verschiedene Arten. "Die Liebenden verstehen das – und man schaut ergriffen zu."

"Eine so beklemmende wie großartige Aufführung, tollkühn in ihrer Reduktion und der Intensität von Thomas Schmauser und Sandra Hüller", schreibt Gabriella Lorenz in der Münchner Abendzeitung (3.3.2014). "Simons bebildert nichts, alles lebt aus der Innenwelt der phänomenalen Schauspieler, die Grenzüberschreitungen wagen." Lorenz weiß außerdem zu berichten, dass der "beklemmende Bühnenraum" bei der Premiere gleich zwei Schwächeanfälle verursachte: "Eine Zuschauerin wurde von Thomas Schmauser selbst hinausgeleitet, kurz darauf brach Heinar Kipphardts Witwe Pia zusammen (Es ging ihr danach wieder besser.)."

Johan Simons interessiere sich nicht für das bei Kipphardt zentrale Schweigen des Alexander März, sondern für dessen Versuch zu reden, sein Lieben, schreibt K. Erik Franzen in der Frankfurter Rundschau. Thomas Schmauser zeige einen unruhigen Geist in einem unruhigen Körper, dennoch gelinge es dem für seine irren Darstellungen bekannten Schauspieler, sein Spiel durch seine Körperkompetenz als dynamischer Artist zu erden. Auch Sandra Hüller fülle den ganz grauen Erinnerungsraum der Bühnenlandschaft mit dezenten katatonen Bewegungen, schwankend zwischen Selbstisolierung, Autismus und Zuwendung zu März. Die beiden wandeln suchend und sicher zugleich auf dem schmalen Grat der Darstellung einer psychotischen Liebe. In der Textwiederholungsschleife gewinne die Inszenierung an Intensität, etwas Großes gelinge: "das Spiel zwischen März und Hanna wird für die Zuschauer zum Projektionsfeld ihrer eigenen Ängste."

 

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