Das Pissoir muss runter vom Sockel

von Esther Boldt

23. September 2014. Inwiefern kann künstlerische Arbeit politisch oder gar politisch wirksam sein? Diese Frage steht in den letzten Jahren verstärkt im Raum, sie wird auf höchst verschiedene Weisen diskutiert und beantwortet. Das gerade erschienene Arbeitsbuch "Truth is concrete" geht noch einen Schritt weiter und untersucht das Verhältnis zwischen künstlerischer Arbeit und politischem Aktivismus: "A Handbook for Artistic Strategies in Real Politics", so der Untertitel. Herausgegeben wurde es vom Festival steirischer herbst in Graz und seinem ehemaligen Chefdramaturgen Florian Malzacher.

2012 fand im Rahmen des Festivals ein Marathoncamp für künstlerische Strategien in der Politik und politische Strategien in der Kunst statt, bei dem über zweihundert Künstler, Theoretiker und Aktivisten sieben Tage lang und vierundzwanzig Stunden am Tag diskutierten. Das kleine gemeinsame Feld von Kunst und Aktivismus bildet auch die Grundlage des englischsprachigen Bandes, dessen Kernstück 99 künstlerische Strategien sind. Ergänzt werden sie von sieben theoretischen Essays, die ihren Kontext ausleuchten.

Raketen für Obdachlose

Das titelgebende Zitat "Truth is concrete" befand sich über Bertolt Brechts Schreibtisch im dänischen Exil. Während wir die Techniken von Poststrukturalismus und Dekonstruktion längst internalisiert haben, Distanz zu den Phänomenen ebenso einzunehmen wie zu unserer eigenen Wahrnehmung, wird der Begriff Wahrheit zur Arbeitshypothese eines Buches, das an das Konkrete appelliert – und daran erinnert, dass bestimmte politische und ökonomische Realitäten schlicht nicht relativierbar sind. Um den Schritt zum Handeln zu vollziehen, sind zudem bestimmte Verkürzungen notwendig, ohne die man sich nie vom Debattiertisch erhöbe. Für die vorgestellten künstlerischen Strategien heißt dies auch, dass sich viele der Künstler, Theoretiker und Aktivisten auf einen sehr konkreten und überschaubaren Wirkungsbereich beziehen.

cover truth-is-concreteSo stellt der US-amerikanische Bildende Künstler Krzystof Wodiczko ein multifunktionales Fahrzeug vor, das er im Winter 1987/88 für die Obdachlosen von New York entwickelte. Es sah aus wie eine fahrende Rakete, war zusammenschiebbar und diente gleichzeitig als Schlafplatz, Transport- und Kommunikationsmittel – denn viele Passanten nahmen das Fahrzeug zum Anlass für ein Gespräch mit der obdachlosen Person, die dadurch eine andere Sichtbarkeit im öffentlichen Raum erhielt.

An einem Akt der Umwertung arbeitet auch "The Institute for Human Activities" aus Belgien und den Niederlanden: Es hat sich zum Ziel gesetzt, mithilfe der Kunst den kongolesischen Regenwald zu gentrifizieren. Zum einen sollen Menschen, die zu den Ärmsten der Welt gehören, kritische künstlerische Reflexionsweisen zugänglich gemacht werden. Zum anderen soll in Anbetracht der Tatsache, dass die Kunst in der globalen Wirtschaft Geld akkumuliert und die Immobilienpreise in Städten wie Berlin und New York in die Höhe treibt, der kritische Auftrag der Kunst neu austariert werden. In einem Akt der Aneignung arbeiten die Künstler seit 2010 daran, im Kongo einen Ort des Austausches und der Wertschöpfung zu schaffen – ein Langzeitprojekt.

Nützliche Kunst

Eine Zuspitzung des Zusammendenkens von Kunst und politischem Aktivismus ist die Forderung, Kunst solle nützlich sein, die die Bildende Künstlerin Tania Bruguera stellt: "We need art that is a tool, and a tool that has to be used for something other than its own sake. We need to put Duchamp's urinal back in the rest room, where it can be of use again." Dieses Bild ist großartig treffend: Die Kunst für die Kunst hatte ihre Funktion, hat sie heute aber weitgehend verloren. Gefragt ist eine Ästhetik der Ethik, wie sie Bruguera entwirft, in der Kunst in soziale Realitäten interveniert. Dabei sind die gesellschaftlichen Veränderungen, die Bruguera anstrebt, subtile Verschiebungen, die sich über längere Zeiträume ergeben. Ihren Appell, die Funktion von Kunst neu zu überdenken, möchte man umgehend auf den Theaterkontext beziehen: Welche Aufgaben hat es wirklich?

Im Durchblättern, Überlesen und Vertiefen erweist sich "Truth is concrete" als wahres Schatzkästlein zwischen orangenfarbigen Buchdeckeln, sorgfältig editiert und hübsch designt. Erstmals bringt es Arbeitsweisen sehr verschiedener Künstler aus vielen Teilen der Welt zusammen und stellt somit eine wertvolle Sammlung ihrer Projekte und Praxen dar. Vor allem aber ist es ein Konvolut unterschiedlichster Perspektiven auf die Verfasstheit unserer Gegenwart, denen eins gemeinsam ist: Sie setzen sie nicht als absolut, sie nutzen künstlerische Handlungs- und Denkfreiräume, um den angeblichen Boden der Tatsachen zu überschreiten und Modelle anderer Realitäten zu erschaffen. Und all diese Manipulationen, Rechtsbeugungen und Realitätskrümmungen sind höchst inspirierend.

 

Truth is concrete. A Handbook for Artistic Strategies in Real Politics
Edited by steirischer herbst and Florian Malzacher, Coedited by Anne Faucheret, Veronica Kaup-Hasler, Kira Kirsch, Andreas R. Peternell and Johanna Rainer.
Sternberg Press, Berlin 2014, 336 S., 19 Euro

 

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Konkrete Wirkung der Kunst ist auch Thema beim Zentrum für politische Schönheit, das Sophie Diesselhorst porträtierte.

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