Bröckelnder Beton

von Juliane Voigt

Greifswald, 2. Oktober 2014."Schwedt, das ist jetzt nicht das Richtige. Wir schicken Dich in den Urlaub." Die Stimme aus dem Off klingt wie ein netter Onkel. Und dann sagt der auch noch: "Wir sind nämlich gar nicht so." Damit wird der DDR der Stecker gezogen. Ach, die sind gar nicht so. Das war alles gar nicht ernst gemeint? Dass dem Jungen da vorne mit der NVA-Uniform und dem blutenden Gesicht die Seele und vier Jahre Lebenszeit amputiert worden sind?

So endet in Greifwald "Der Turm" nach dem Roman von Uwe Tellkamp nach drei Stunden. Das Theater Vorpommern hat mit dem Wendedrama, das zum Tag der Deutschen Einheit auf allen Kanälen zu sehen ist, die Spielzeit eröffnet. Und die gelungene Bühnenfassung von John von Düffel dafür radikal gekürzt. Regisseur André Rößler, Oberspielleiter am Haus, hat die preisgekrönte und verfilmte Familiensaga einer Dresdner Intellektuellen-Familie der 80er Jahre textlich auf seine entscheidenden Konturen reduziert und teils hastig und nur angerissen, teils episch und in nachgerade überbordender Ausführlichkeit mit Leben aufgefüllt.

Großer dramatischer Bogen 

Franz Burkhardt als Dramaturg hat daran maßgeblichen Anteil. Beide, der Dramaturg aus dem Westen ebenso wie Rößler, der Regisseur, der vor 25 Jahren noch sehr jung war, haben biografisch nichts abzuarbeiten mit dem Thema. Das spürt man. Sie müssen sich dem Stoff ebenso genähert haben wie einem Drama der Antike. Jede Figur behält ihre oft schroffen Widersprüchlichkeiten. Aber nicht jede Figur gewinnt wirklich so viel Spielraum wie die Hauptfigur, deren Entwicklung man verfolgen und nachvollziehen kann. Alles in allem aber: ganze Arbeit!

Für die Inszenierung hat Simone Steinhorst eine ansprechende Bühne entworfen: Die Ansicht eines stereotypen Neubaublocks, die als Projektion um 90 Grad nach hinten gekippt wird. Schauspieler liegen am Boden oder stehen in der kaleidoskopisch verdrehten Raumillusion auf imaginierten Balkonen. Der Plattenbau am Boden wird im Verlauf des Abends mehr und mehr abgetragen.

Bild-Projektionen, Lügen-Gerüste

Sind es am Anfang nur Löcher der Genossen von der Stasi, die diese wie Fallen ausheben, ist es am Ende ein mehr oder weniger getarntes Lügengerüst, über das die Protagonisten balancieren oder der Soldat Christian in voller Ausrüstung über die NVA-Sturmbahn fegt – oft erbarmungslos direkt in die Wasserbassins an der Bühnenkante. Alle Orte haben ihre fast ikonografische Entsprechung in der Projektion, die Tapete, die Wanduhr aus getriebenem Messing oder der OP-Saal. Trotz rasanter Erzählgeschwindigkeit weiß man immer, wo man gerade ist.

derturm1 560  mutphoto uUntergangsgesellschaft in weißen Kittel: "Der Turm" © MuTphoto

Der Abend zeigt umwerfende schauspielerische Leistungen, zum Beispiel Markus Voigts Dr. Hoffmann, der sich drei Stunden lang gegen seinen Untergang stemmt oder Marko Bahr als perfider Stasi-Feldwebel und opportuner Dr. Weniger. Vor allem aber gehört er einem jungen Schauspieler: Fabian Prokein. Es ist sein erstes Engagement. Prokein glaubt man jeden Satz, weil er weiß, was er sagt. Und weil er sich so überzeugend entwickelt von einem schüchternen, intelligenten Jungen, einem rotgespülten Streber mit ersten Haltungskorrekturen zu einem verrohten, an seiner tumben und entmenschlichten Umwelt Verzweifelnden.

In der Prager Botschaft

Rößler arbeitet Dokumentationen aus der Wendezeit in die Inszenierung ein. So bekommt auch Hans-Dietrich Genscher im Greifswalder Theater für seinen berühmten unvollendeten Satz vom 30. September 1989 in der Prager Botschaft noch einmal Szenenapplaus. Dazu Bild-Dokumente der gewalttätigen Auseinandersetzungen am Dresdner Bahnhof. Ihnen steht Christian als Unteroffizier in voller Montur gegenüber. Eine Nacherzählung, die hier sehr realistisch wirkt. Und dann erkennt er ganz langsam seine Mutter. Der sich langsam in ihm aufbauende Schrei: "Mama!" bleibt förmlich in der Luft stehen – wem da der Atem nicht stockt, der hat ein kaltes Herz.

Vorpommern hat jetzt, 25 Jahre nachdem das alles mehr oder weniger so passiert ist oder so passiert sein könnte, die Wende noch einmal zu sich geholt. Nochmal zum Anfassen sozusagen. Besonders geeignet auch für die nächste Generation.

Der Turm
nach dem Roman von Uwe Tellkamp
in einer Bearbeitung von John von Düffel
Regie: André Rößler, Ausstattung: Simone Steinhorst, Dramaturgie: Franz Burkhard. Mit: Markus Voigt, Claudia Lüftenegger, Fabian Prokein, Jan Bernhardt, Jörg F. Krüger, Marco Bahr, Sören Ergang, Frederike Duggen, Susanne Kreckel, Josefine Schönbrodt, Frederike Duggen, Anna Luise Borner, Gabriele M. Püttner, Lutz Jesse, Alexander Frank Zieglarski, Ronny Winter, Lutz Jesse, Daniel Torben Lischewski.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.theater-vorpommern.de

 


Kritikenrundschau

Rößler habe den "Turm" in Greifswald "zupackend und in flüssigen Szenenfolgen inszeniert"; die Demontage im Bühnebild wirke "theatralisch überzeugend", auch zeige der Abend ein "starkes Schauspielerensemble", berichtet Dietrich Pätzold in der Ostseezeitung (4./5.10.2014). Die Bühnenadaption von John von Düffel aber reduziere das Romangeschehen "schmerzlich". Gegenüber dem großen Panorama des Buches biete die Theaterfassung "grelles Schwarz-Weiß" nach Art einer "Schablone": "Dort das System mit dämonischer Fratze aus bösen Stasi-Leuten, NVA-Feldwebel und einem korrupten Rechtsanwalt – hier einfache, leidende Menschen, vornehmlich in Opferrollen."

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