Überforderungsmaschinerie der Gleichzeitigkeit

von Esther Boldt

Darmstadt, 4. Oktober 2014. Auf dem Misthaufen findet ein unheimlicher Maskenball statt. Eine Gestalt im weißen Kleidchen tobt herein, den aufgespannten Sonnenschirm vor sich haltend wie eine Waffe. Eine Nebelmaschine bläst hinein und wenn der Schirm geschwenkt wird, quellen dicke Wolken hervor, geradewegs jemandem in die hustende Visage. Léon, der Kanzlist, trägt Uniformjacke und singt leicht verschleppt Leonard Cohens "Dance me to the end of love". Apotheker Homais im paillettenbesetzten Frack legt im Stroh die tollsten Stürze hin, und Madame Bovary in ihrem schwarzen Catsuit geht fast unter im Gewühl. Nebelschwaden wabern auf drei Leinwänden wieder, die wie ein Triptychon im Misthaufen hängen.

Auf Spiellust folgt Erzähllust

Es ist der Anfang vom Ende, Madame Bovary hat sich zugrunde gerichtet und weiß es nur noch nicht. Mit Gustave Flauberts Jahrhundertroman "Madame Bovary" hat sich das Staatstheater Darmstadt einen wahren Brocken von vierhundert Seiten vorgenommen, die einem beim Lesen unspielbar vorkommen. Letzte Woche ist das Staatstheater unter dem neuen Intendanten Karsten Wiegand in seine erste Spielzeit gestartet. Sein ungewöhnliches Ensemble hat schon zuvor Schlagzeilen gemacht: Der querschnittsgelähmte Samuel Koch, der bei "Wetten dass ..." verunglückte und danach seine Schauspielausbildung abschloss, ist ebenso dabei wie Jana Zöll, die die Glasknochenkrankheit hat. Bei Shakespeares "Kaufmann von Venedig", inszeniert von Christian Weise, hatte das Theater letztes Wochenende große Spiellust präsentiert, bei "Madame Bovary" nun zeigt es eine ebensolche Lust am Erzählen.

madamebovary 560 joachimdette uSpieglein, Spieglein: Jeanne Devos als Madame Bovary © Joachim Dette

Literatur und Religion haben der Bauerstochter Emma von der Welt erzählt, doch als sie den freundlichen Langweiler Charles Bovary heiratet, erträgt sie die Einöde des Alltäglichen nicht. Lebenshungrig und auf der großen Suche nach einem Glück, das nur ihr gehört, stürzt die Frau des Landarztes sich in die Ausflüchte, die ihr zur Verfügung stehen: schöne Dinge kaufen, Bücher lesen, sich erst einen heimlichen Schwarm zulegen und dann eine Liebschaft.

Parforceritt mit Störeffekten

Allein, das Glück will sich nicht einstellen, und so ist Flauberts Roman ein Auf und Ab aus Verheißungen und Enttäuschungen, ungeheuer schön, musikalisch und doch schlicht ist seine Sprache. Dieser Schönheit vertraut Moritz Schöneckers Inszenierung, sie vertraut sich ihr an, verkostet und verdaut sie. Die Schauspieler sprechen den Text episch, sie geben Szenen- und Figurenbeschreibungen ebenso wieder wie Dialoge. Dabei wird auf vielen Ebenen gleichzeitig erzählt: Meist sind alle elf Schauspieler auf der Bühne, und stets haben sie zu tun, bauen etwas auf oder ab, ziehen sich oder einen anderen um oder flitzen – wie Samuel Koch mit seinem Rollstuhl – als Störfaktor durch das Bild. Links am Bühnenrand sitzt der Musiker Joachim Schönecker, rechts ist ein Arbeitstisch und ein Regal mit Requisiten aufgebaut: Hier werden Videobilder live hergestellt und abgefilmt. Und die Musik, live oder vom Band, durchstreift Länder und Zeiten, von der Opernarie bis zur Technonummer. Diese Ebenen überlappen sich, fallen ineinander bis zur Störung: Mehr als einmal sitzt der Steuereinnehmer Binet hinten an seiner Drechselbank, und das Geräusch des sirrenden Motors fräst sich in jeden Satz hinein, der vorn gesprochen wird.

Im Parforceritt geht es anfangs voran, von Station zu Station, bis Rodolphe erscheint, der künftige Geliebte der Madame, und das Tempo wechselt. Bei der landwirtschaftlichen Versammlung von Yonville werden die Rede des Präfekturrates an die fleißigen Bauern und die mündliche Verführung zum Ehebruch parallel geschnitten. Hinten auf dem dreistufigen Misthaufen thront Samuel Koch als Präfekturrat mit samtener Stimme und eingeschliffener Sprachmelodie, vor ihm sitzen die Dorfbewohner im Stroh, die Hände im Schoß vergraben, lauschend oder dösend. Und da stehen, ganz vorn, Jeanne Devos und Heiko Raulin als Emma und Rodolphe. Sie sprechen in zwei Kameras, ihre Blicke begegnen sich nur auf den Leinwänden: Sie, ganz hohe, dunkelhaarige Schönheit, zum Bild einer Frau erstarrt, er, wortwendig die große Liebe beschwörend.

Rollstuhl wie ein Körper

Wie sich Devos im Folgenden herausspielt aus dem stummen Bild, hinein in ihren Körper, in die Lässigkeit der Geliebten und die Bitterkeit der Enttäuschten, das ist wunderbar. Und auch die anderen Schauspieler überzeugen – wie Christian Klischat als dümmlich-duldsamer, liebender Gatte Charles, Mathias Znidarec als nervtötend agiler und fortschrittsgläubiger Apotheker Homais, Catriona Guggenbühl in verschiedenen Rollen und Samuel Koch, der als Homais' Assistent Justin mit großem Jungenblick in die Welt schaut, in anderen Rollen aber gehörig Schalk zeigt und mit seinem Rollstuhl so zu agieren vermag, dass man ihn als Körper wahrnimmt.

In knapp vier Stunden wird man Zeuge, wie eine Welt entsteht, lernt ihre Bewohner kennen, geht ein Verhältnis mit ihnen ein über die gemeinsam verbrachte Zeit. Dabei wird es in dieser höchst ausgetüftelten Überforderungsmaschinerie der Gleichzeitigkeit nie langweilig, und die Geschichte der unglücklichen Glücksucherin Madame Bovary fesselt ein weiteres Mal.

 

Madame Bovary. Ein Sittenbild aus der Provinz
nach dem Roman von Gustave Flaubert
Deutsch von Maria Dessauer, Bühnenfassung von Katharina Raffalt und Moritz Schönecker
Regie: Moritz Schönecker, Bühne: Benjamin Schönecker, Kostüme: Veronika Bleffert, Video: Peer Engelbracht (impulskontrolle), Komposition: Joachim Schönecker, Dramaturgie: Christa Hohmann.
Mit: Jeanne Devos, Christian Klischat, Simon Harlan, Heiko Raulin, Mathias Znidarec, Julius Bornmann, Stefan Schuster, Catriona Guggenbühl, Samuel Koch, Katharina Hintzen, Gerd K. Wölfle.
Dauer: 4 Stunden, eine Pause

www.staatstheater-darmstadt.de



Kritikenrundschau

Durch "die Hintertür" kehre hier "das reine Ausstattungstheater zurück", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (6.10.2014). Für Mademe Bovary stehe "große Garderobe" bereit. Die Provinz komme in dieser Inszenierung "ohne soziologische Interessen als bunte Schäfchen- und Tölpelgesellschaft" daher. Nach verheißungsvollem Einstieg lauerten "Stunden des Weitermachens". Schönecker lasse "vor allem Romantext rezitieren (was zum Teil tragisch holprig verlief)".

"Zumindest vor der Pause" findet Stefan Benz auf der Onlineseite des Darmstädter Echos (6.10.2014) diese Romanadaption "anregend und aufregend zugleich: Da ist das Theater eben nicht nur die Wiederaufbereitungsanlage für ausgebrannte Geschichten, sondern die Aufführung wird zur Film-Theater-Erzählung, zum begehbaren Bilderbuch für eine Sprachsinfonie." Die Behandlung der Erzählung "wie eine Partitur" schaffe aber auch "immer eine Distanz zum Charakter", zudem wolle die Inszenierung auch Film spielen. Die hierfür nötige "präzise Koordination, maximale Konzentration und auch Kondition" fehle mitunter; nach der Pause "sind die Szenen nicht mehr dicht genug verfugt, die Dramaturgie ist nicht mehr straff, die Konstruktion nicht mehr zwingend."

Gar nicht glücklich ist Martin Eich in der Allgemeinen Zeitung (7.10.2014) mit dem Abend. Weder der Fassung ("nicht nur unnötig, sondern kontraproduktiv") noch die Regie ("ein Panoptikum des Scheiterns") kann er etwas abgewinnen. Eich berichtet von einem "Versprecher-Festival" und Beliebigkeit: "Soviel Mist war selten." Auf das Inszenierungsteam anspielend, mit dem Darmstadts neuer Schauspielleiter Jonas Zipf lange in Darmstadt zusammenarbeitete, lautet Eichs Fazit: "Was diese Inszenierung gebraucht hätte, ist deshalb nicht nur ein dramaturgisches Konzept über dem eines Kindergeburtstages. Vor allem wäre ein Schauspiel-Chef vonnöten gewesen, der seine alten Freunde beizeiten auf die Seite nimmt und fragt: Bei aller Liebe, aber habt Ihr noch alle Federn am Hut?"

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