Reißt die Mauern der Tradition ein!

von Matthias Weigel

Berlin, 8. Oktober 2014. Entweder – oder. Wenn man sich dafür entscheidet, Kunst und Kultur öffentlich zu finanzieren, dann muss man akzeptieren, dass Kunst-Stätten wie Theater nicht nach marktwirtschaftlichen Regeln "sinnvoll" mit Geld umgehen. Kunst ist per definitionem immer verschwenderisch. Natürlich müssen Theater haushälterisch sorgfältig bilanzieren, und auch die eine oder andere Eigeneinnahme schadet nicht (so wie die Polizei ein bisschen Bußgeld zum Haushalt beisteuert). Aber das darf allenfalls ein Nebeneffekt sein. Ansonsten wird die Kunstfreiheit schon im Keim erstickt. Wollen wir Stadttheater, dann dürfen sie in ihrer inhaltlichen Ausformung nichts und niemandem verpflichtet sein, weder Kulturpolitikern noch Auslastungszahlen, weder Abonnenten noch Klassikern, weder Kritikern noch selbstauferlegten Premierenanzahlen. Die einzige Verpflichtung ist, diese Freiheit von Verpflichtungen auch zu nutzen.

Kunst funktioniert nicht per Controlling

Besucherzahlen sind daher auch mit Abstand die schwächsten Kriterien, mit denen man die Arbeit eines Theater beurteilen kann. Es gibt für Theater keine statistisch messbaren "Kennzahlen", eine Stadtverwaltung kann die Qualität ihres Theaters nicht in Zahlen abrufen. Nicht ohne Grund ist Kunstwahrnehmung und -beurteilung – das, was wir hier auf nachtkritik.de ja auch versuchen – ein Berufsbild, das professionelle (Seh-)Erfahrung und intensive Auseinandersetzung erfordert. Schon über eine einzige Inszenierung scheiden sich oft genug die Geister – wie soll ein Kommunalpolitiker da eben mal den Erfolg eines Stadttheaters beurteilen?

stadttheaterdebatte weigel c thomas haentzschel frank vincentzStadttheater unter dem Druck der Finanzen: das Volkstheater Rostock (umkämpft) und das Schauspielhaus Wuppertal (bereits abgewickelt). © Thomas Häntzschel, Frank Vincentz

Diese Autonomie, die Theater haben und haben müssen, heißt natürlich nicht, dass sie ruhig leer bleiben können. Möglichst viele Leute ins Theater zu bewegen, muss aber zuallererst und allein im Interesse der Kunst sein, denn sie existiert nicht ohne ihre Rezeption. Kein Künstler kann wollen, dass sein Schaffen nicht wahrgenommen wird. Doch nicht nur jeder Politiker, sondern auch jeder Intendant, der mit Auslastungszahlen seinen Erfolg begründen will, müsste seines Postens enthoben werden, da er sich anscheinend besser auf den privatwirtschaftlichen Musical- oder Unterhaltungstheaterbetrieb versteht. Jedenfalls stellen sich Theater mit der stolzen Verkündung von Auslastungszahlen mehr in Frage, als sie es durch inhaltliche Diskussionen tun würden, da sie fatalerweise auf die völlig falschen Kriterien eingehen.

Kopf auf für die Welt

Kaum einer würde der Aussage widersprechen, dass man sich das öffentlich finanzierte Theater grundsätzlich als einen Ort der gesellschaftlichen Reflexion wünscht, als einen Ort des Nachdenkens über das lokale wie globale Zusammenleben. Also als einen überaus luxuriösen Raum, in dem die Besucher nicht den alltäglichen Verwertungsstrukturen, den Zwängen eines materiellen Effizienzdrucks unterworfen sind, sondern innehalten können, um sich der individualethischen oder gesellschaftspolitischen Hygiene zu widmen. Dementsprechend wäre die allererste Aufgabe von Theaterschaffenden, solche Gedanken, Ideen und Themen zu erspüren, zu suchen, zu ergründen, zu finden, zusammenzutragen. Um sie in einem zweiten Schritt entsprechend künstlerisch zu bearbeiten.

Im öffentlich finanzierten Theater sollen künstlerisch tätige Gesellschaftsseismographen arbeiten, die weltsensibel und weltoffen sind, um eben jene Fragen, Probleme und Themen zu erkennen, die dringlich und wert sind, öffentlich verhandelt zu werden. Zweierlei Anforderungen also: einerseits eine künstlerische Begabung, andererseits aber auch eine Verbindung zur Welt, global wie auch lokal. Wenn sich die Lebensrealität von Theaterschaffenden ausschließlich im Theaterbetrieb abspielt, entsteht daraus bereits ein Problem.

Nicht nur Schauspieler ausbilden, sondern Persönlichkeiten

Ein Theaterensemble ist etwas Tolles: Es bedeutet ja erstmal nicht mehr als feste Anstellungen für Theaterschaffende. Man muss sich vielleicht nur neu überlegen, wen man anstellt. Ein zeitgemäßes Theater jedenfalls braucht Schauspieler, die nicht nur prima Rollenbiographien erfinden und sich Figuren anverwandeln können, sondern die auch mitbekommen haben, warum in den Nachrichten dauernd von Ukraine, Syrien und Gaza die Rede ist.

Ein Theater braucht ein Schauspielensemble der Diversität mit klugen Persönlichkeiten, die sich fürs Weltgeschehen genauso interessieren wie fürs Schauspielen, für soziologische Theorien und Tanzbewegungen, für Gangster-Rap, Entwicklungsländer, Kommunalpolitik und Ökosysteme; die moderieren können, präsentieren, interviewen, tanzen, schauspielen, performen, vortragen und vermitteln können. Hier hinken auch jene Institutionen hinterher, deren ästhetischer Einfluss auf die Theaterlandschaft vielleicht zu oft unterschätzt wird: die Schauspielschulen und Theaterakademien. Wie soll sich das Stadttheater entwickeln, wenn sich die "reguläre" Theaterausbildung nicht weiterentwickelt? Und wie soll sich die Theaterausbildung weiterentwickeln, wenn immer noch nach Rollen-Vorsprechen eingestellt wird, und nicht nach Persönlichkeit?

Transparenz und Visionen in der künstlerischen Leitung

Genauso braucht ein Theater Dramaturgen, die sich mit welthaltigeren Fragen als mit den Unterschieden dreier Shakespeare-Übersetzungen auseinandersetzen; es braucht Dramaturgen, die die Welt kennen, die Themen unserer Gesellschaft aufspüren, Ideen haben, Talente entdecken, einladen, kennenlernen, aussortieren, zusammenfügen, ordnen, komponieren; und die auch in Räumen, Konstellationen, Präsentationsweisen und Sozialexperimenten denken. Es braucht Regisseure, die nicht primär möglichst schnell Theaterkarriere machen wollen, indem sie das reproduzieren, was sie als Hospitanten gelernt haben oder was gerade bei Intendanten mutmaßlich gut ankommt. Sondern die eigene Themen und Sprachen entwickeln und künstlerische Visionen einbringen.

Theater braucht Dramatiker, die sich nicht nur ganz allein in die Natur setzen, um für sich etwas aufzuschreiben. Sondern Dramatiker, die ihre dem Schreiben vorausgehende Weltbeobachtung direkt ins Theater tragen, dort thematisieren, und dann – wie Bühnen- und Kostümbildner oder Musiker – ihr spezifisches Wissen oder Können in eine gemeinsame künstlerische Arbeit einbringen. Und Theater braucht keine künstlerischen Leiter, die vor allem gute Politiker sind – das kann die Öffentlichkeitsarbeit oder die Geschäftsführung übernehmen –, sondern künstlerische Leiter. Und Theater braucht selbstverständlich keine skrupellosen Geschäftsmänner als Geschäftsführer, sondern – wie eigentlich jeder öffentlich finanzierte Bereich – zuallererst eine grundsätzlich offengelegte, transparente Geldvergabe, wodurch sich derzeitige Frechheiten durch ungleiche Verteilung von selbst erledigen sollten.

Das Regime der "alten Texte"

Wie kann dann die Arbeit eines auf diese Weise zeitgemäß besetzen Theaters aussehen? Was sollte in den öffentlich finanzierten Stadt- und Staatstheatern stattfinden? Aus der medialen Ausdifferenzierung der letzten Jahre und Jahrzehnte folgt eine Grundthese: dass das Medium Theater auf seine spezifischen Besonderheiten und Stärken im Vergleich zu anderen Medien setzen muss; und seine oben geschilderte Freiheit. In fast allen Stadttheatern läuft zur heutigen Stunde aber ganz konkret immer noch eine Kuriosität ab: Anstatt sich einer Idee oder eines Themas zu widmen, zieht man immer wieder Jahrhunderte oder Jahrtausende alte oder "neue" Texte aus den Regalen, um sie "auf die Bühne zu bringen". Das gesamte Vorhaben immer noch fast ausschließlich an einem Text auszurichten, der später mal auf der Bühne gesprochen werden soll, wirkt doch recht eingeschränkt angesichts eine Mediums, in dem so ziemlich alle anderen Medien und Mittel arrangiert werden können und längst werden.

stadttheaterdebatte weigel klassiker c ju ostkreuz arno declair uKlassiker zum Saisonstart 2014: Shakespeare in Stuttgart (Richard III.) und Tschechow in Bochum (Onkel Wanja). © JU/Ostkreuz, Arno Declair

Warum geht man bis heute in den Stadttheatern so selten von einer Situation (nicht Drama), einer These (nicht Figur), einem Ort (nicht Bühnenbild), einer Atmosphäre, einer Zuschauer-Akteurs-Konstellation, einer Bewegung, einem Gefühl, einer Aktion, einer Temperatur, einem Geräusch, einer Struktur aus? Warum nimmt man sich nicht die Zeit, von Mal zu Mal wieder ganz grundlegend zu befragen, auf welche Art und Weise ein relevanter Gedanke überhaupt öffentlich verhandelt werden soll? Es ist doch gerade die Besonderheit des Theaters, dass es als einziges alles in seiner Fülle vereinen und gleichberechtigt gestalten kann. Was natürlich nicht heißt, dass nur noch Bühnen-Laien "dokumentarisch" auf der Bühne stehen sollen. Im Gegenteil: Es muss endlich eine vielseitigere ästhetische Erfahrung ermöglicht werden, die ihre reichen Möglichkeiten ausschöpft.

Platz schaffen für alle Spielarten

Die besten und spannendsten Theaterarbeiten der letzten Zeit waren eben jene, die sich all ihrer Dimensionen bewusst waren. Die gängige Realität ist jedoch, dass sich gerade an den mittelgroßen Stadt- und Staatstheatern eine völlig unhinterfragte Vorstellung von "Theater" überlebt: Die größten Fragen sind dort, welche Tschechow-Übersetzung man verwendet oder ob man Hamlet nicht auch mal als Frau besetzen könnte. Besieht man die Spielpläne, dann hat sich daran auch mit den zahlreichen Wechseln der Intendanzen zu dieser Spielzeit wieder nichts geändert. Dabei sollte die Möglichkeit, von einem geschriebenen Drama ausgehend Schauspieler auf einer Bühne zu inszenieren, doch keine höhere Priorität einnehmen als die Möglichkeit einer politischen Aktion, einer zweijährigen Milieu-Recherchearbeit, einer Podiumsdiskussion, einer bestimmten Anordnung von Material und Körpern im Raum, einer Intervention im öffentlichen Raum, einer Vortragsreihe, einer Aneignung fremder Orte in der Stadt, einer performativen Installation, eines interaktives Spiels, einer grenzüberschreitenden Provokation, einer berührend erzählten Geschichte oder einer anderen sinnlichen Wahrnehmungserfahrung. Man muss das Textverbühnisierungstheater nicht abschaffen. Aber man muss Platz schaffen – und öffentlich finanziertes Budget – für all die anderen Spielarten des Theaters. Die einzige Verpflichtung der Freiheit ist, die Freiheit zu nutzen.

Woran hakt es also? An Strukturen, Förderinstitutionen, Gremien, Medien? Seit geraumer Zeit liegt zumindest eine Unruhe in der Luft, mit ein paar vorpreschenden Akteuren auf der einen und vielen verunsicherten, defensiven auf der anderen Seite. Letztere sagen meist: Wenn wir sowas machen, kommt das Publikum nicht. Dies oder das funktioniert in unserer Stadt, jenes aber nicht.

Es ist ein Kuriosum, dass praktisch jedes Stadttheater sein Publikum sehr genau zu kennen scheint und weiß, was man ihm "zumuten" könne. Dabei haben sich die Theater über Generationen hinweg einfach nur ein ganz bestimmtes Milieu ins Haus geholt, und dieses erwartet natürlich eine gewisse Konstanz und Fortführung. Aber ihr wirkliches Publikum können Theater überhaupt nicht kennen, da in der Regel nur zehn Prozent des potentiellen Publikums jemals im Theatergebäude war. Auch wenn das Theater nie eine "Mehrheit" erreichen wird, darf es sich nicht damit zufrieden geben, immer nur die gleiche (in der Regel ältere, finanznahe) Minderheit zu erreichen. Das allgemeine Bedürfnis, etwas über sich und die Gesellschaft zu erfahren und sich darüber auszutauschen, ist groß. Die meisten kommen nur nicht auf die Idee, damit ins Theater zu gehen.

Die Aktualitätsvortäuschungen

Denn die Stadttheater haben ein ganz bestimmtes Bild von sich geprägt, dass sich durch eine einzige "andere" Produktion nicht eben mal ändert. Sie haben extrem hohe Schwellen um sich herum aufgebaut, außerhalb derer nur noch wenige verstehen, was da drin vor sich geht. Durch kontextlose Parolen oder knallige Farben allein wird sich das auch nicht ändern. Im Gegenteil: Wenn die Theater nach außen hin so tun, als wären sie Pop und Diskurs, unter dem Spielplanmotto (Achtung, überspitzt:) "Wir wollen uns mit Krieg, Kapitalismus, Rassismus und Globalisierung auseinandersetzen" dann aber steht: Shakespeare, Tennessee Williams, Heinrich von Kleist; dann ist das schwer nachzuvollziehen.

stadttheaterdebatte weigel anti klassiker c matthias horn c heiko marquardt frischefotos uHaben auch ihre Probleme mit den Klassikern: die Akteure bei René Pollesch in Zürich und
Ahmed Soura bei Christoph Winkler in Berlin. © Matthias Horn, Heiko Marquardt/Frischefotos

In jeder noch so alten Geschichte mag vielleicht ein Punkt stecken, den man zur Metapher für heutige Zustände erklären kann. Doch damit tut man meistens nur den alten Geschichten einen Gefallen, aber nicht denen, die sich für heutige Zustände interessieren. Außenstehende müssen bei dieser Art von Aktualitätsvortäuschung denken, anscheinend zu dumm zu sein, zu unkultiviert, zu normal, zu weltzugewandt, zu heutig, zu realitätsinteressiert, um das Theater zu verstehen. Wie sonst sollen sie sich erklären, dass man im Theater nicht (direkt) über die Themen spricht, sondern umständliche Umwege geht?

Profaniert eure Häuser mit Playstation und Pool

Wahrscheinlich müsste man die Images der Theater mindestens erst ein Jahr lang komplett löschen, bevor man sie wieder neu beschreiben kann. Vielleicht müsste man erst ein Jahr lang Partys und Konzerte veranstalten und Schwimmbäder und Playstations aufstellen, damit der Ort profaniert wird und sich wieder durchmischte Bevölkerungsgruppen mit einigermaßen neutralen Gefühlen und Haltungen darin bewegen können (auch wenn das allein durch die Architektur in vielen Theatern grundsätzlich schwer werden dürfte). Wenn man dann von Null an mit der künstlerischen Arbeit beginnt, werden natürlich auch wieder viele gehen – es soll ja auch nicht um mehrheitsfähige Populärkultur gehen. Aber es wäre ein erster Anfang, ein neues Publikum überhaupt erst mit zeitgemäßem Theater in Kontakt zu bringen. Der Kampf gegen eine größer werdende Schere zwischen Arm und Reich ist untrennbar verbunden mit einem Kampf gegen die sich vergrößernde Kluft in (kultureller) Bildung. Es braucht daher mehr begleitende Vermittlung und niedrigere Schwellen, und zwar jenseits von Jugendclubs für die Kinder der Abonnenten.

Warum nicht einfach anfangen? Von einem flächendeckenden Aufbruch zu einem zeitgemäßen Theater hält nichts ab. Wer behauptet, es gäbe jenseits des Doppelpass-Fonds kein Geld für "solche Projekte", der muss nur das vorhandene Geld anders verteilen. Es liegt immer an den ausübenden Menschen selbst. Jeder Stadttheatermacher hat es zu jeder Sekunde in der Hand, welches Theater er oder sie macht. Ich möchte die Intendanten sehen, die nicht verlängert werden, weil sie zwar ein fundiertes, visionäres, gesellschaftlich progressives Konzept verwirklicht haben, aber leider keine 40 Klassiker-Dramenpremieren vorweisen konnte. Dann hätte man viele gute Gründe in der Hand, Sturm zu laufen. Dann würde die Politik endlich mit dem Rücken zur Wand stehen, weil sie gegen unbequeme Kunst vorgeht. Mit welchem Argument hingegen und mit welcher Empörung soll man bequeme Bildungsbürgerunterhaltung verteidigen, die auf ihre Auslastungszahlen stolz ist? Irgendwann bleiben dann nur noch die Arbeitsplätze der Schauspieler und Angestellten als letztes Erregungspotential, wenn der Schließungshammer fällt. Wenn nur noch der Arbeitsplatzerhalt genannt wird, dann ist eines sicher: dass sonst nichts aufgebaut wurde, was verteidigt werden kann.

Bruch mit den Kartellen

Wann kommt endlich der Aufbruch zu einem zeitgenössischen Stadt- und Staatstheater? Ein sanfter Übergang, der seit Jahren in Aussicht gestellt wird, passiert jedenfalls bislang nicht. Also muss es einen Bruch geben. Ganz praktisch heißt das, dass bestehende Machtgefüge aufgelöst oder zumindest (in regelmäßigen Abständen) ersetzt werden müssen. Festangestellte Spielleiter können nicht monatelang abwesend sein, um zusätzlich woanders Honorare einzustreichen und Seilschaften zu stärken. Ein Anfang wäre, dass sich die gegenwärtigen IntendantInnen nicht mehr länger in Auswahlkommissionen gegenseitig installieren. Interessenskartelle müssen verhindert werden. Vor Wahlen müssen kulturpolitische Programme genau dargelegt werden. Kein Politiker dürfte verlangen, dass das Theater populär zu sein habe, und jeder Politiker müsste sich dafür stark machen, dass die Theater für ein potentiell durchmischtes Publikum Theater machen.

Jeder Theatermacher muss fair entlohnt werden, und kein am Theater tätiger Künstler darf "einfach nur seinen Job machen" wollen. Strukturelle Gründe dürfen nicht als Ausreden für bestimmte Ästhetiken herhalten, und es liegt an jedem Theatermitarbeiter, sich in jeder Sekunde bewusst zu entscheiden. Kein Theater soll sich je für etwas rechtfertigen müssen, aber jedes Theater muss sich zu jeder Zeit seiner Freiheit bewusst sein und sie nutzen. Nur dann hat es gute Argumente, warum es dieser Freiheit nicht beraubt werden darf. Wenn die Theater aber in vorauseilendem Gehorsam auch in Zukunft das Spiel der Politik, der Effizienz und des restaurativen Kanonhüters mitspielen, werden sie sich dadurch früher oder später in wirklich existenziellen Diskussionen wiederfinden.


weigel kleinMatthias Weigel, 1986 in Marktredwitz geboren, ist Theaterkritiker und Redakteur von nachtkritik.de. Er studierte Theater- und Medienwissenschaft in Erlangen und arbeitet als freier Kultur- und Videojournalist und sowie im Bereich Crossmedia in Berlin. Website: www.mweigel.com

 

Mehr zur Stadttheaterdebatte: Alle bisherigen Beiträge sind im Dossier zur Stadttheaterdebatte gesammelt.

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Kommentare  
Debatte Kunstfreiheit: Banal und selbstverständlich
ist dieser Artikel nur eine Aneinanderreihung von banalsten Selbstverständlichkeiten - oder habe ich die These irgendwo überlesen? Bitte NK: Die "Stadttheaterdebatte" ist natürlich gaaaaanz wichtig. Aber ihr müsst nicht alle zwei Tage den nächsten NK-Redakteur mit seiner ganz persönlichen Sicht der Dinge aufs Feld jagen. Das inflationiert bei Euch extrem - fast kommt man bei der datenflut auf den Gedanken, daß ihr zu dem Thema eigentlich gar nix Neues zu sagen habt.
Debatte Kunstfreiheit: ZDFisierung im Gange
Wenn man sich die aktuellen Spielpläne anschaut, scheint die ZDFisierung des Stadttheaters in vollem Gange.
Debatte Kunstfreiheit: Glashart aufgereiht
@1 Wie kommen sie denn darauf, dass dies alles Selbstverständlichkeiten seien? So hübsch glashart aufgereiht benannt habe ich diese Art Selbstverständlichkeiten hier und anderswo noch nie gelesen, klingt ja fast wie Artaud an die wichtigsten französischen Intendanten im Wutanfall und das unterscheidet sich doch sehr von nk wie gewohnt - vielleicht haben die ja eine/n neue/n in der Redaktion?
Herr Weigel - wenn ich nicht schon versprochen wäre und nicht immer der zuerst käme, der zuerst usw. dann würde ich mit ihnen bis ans Ende der Welt gehen und auch da noch Theater machen! - Danke für das Manifest! - Und nun machen Sie am besten was Praktisches, was weiß ich, Vanillepudding kochen oder Brennholz stapeln oder hospitieren gehen...
Debatte Kunstfreiheit: neugierig
Ein interessanter Debattenbeitrag. So ganz nebenbei werden hier Sätze fallengelassen, welche aus meiner Perspektive einer näheren Erläuterung bedürfen. Es macht neugierig und nachdenklich, was genau Matthias Weigel zum Beispiel mit folgendem Satz meinen könnte. Er klingt jedenfalls nachvollziehbar:

"Und Theater braucht selbstverständlich keine skrupellosen Geschäftsmänner als Geschäftsführer, sondern – wie eigentlich jeder öffentlich finanzierte Bereich – zuallererst eine grundsätzlich offengelegte, transparente Geldvergabe, wodurch sich derzeitige Frechheiten durch ungleiche Verteilung von selbst erledigen sollten."

Frechheiten durch ungleiche Verteilung?
Debatte Kunstfreiheit: Mensch im Zentrum
Oh je es liegt also an den alten Texten und zu wenig neuen Medien.
Und das könnte man in den letzten Jahren an welchen Inszenierungen erkennen.Da hab ich irgendwie was anderes gesehen.Das spannendste ? Gosch u.a. -Keine Medien ,Schauspieler ,der Mensch also im Zentrum .und das war schon seit 2000 Jahren das Zentrum wirklich berührenden,Theaters .woher ich das weiß? Weil ich die blöden alten Texte gern lese.und da steht sowas u.a. Drin.
Debatte Kunstfreiheit: Medizin nennen
Lieber Matthias Weigel,

lesen sie doch noch einmal genauer was ihr Kollege Nikolaus Merck zu Rostock schrieb. Er spielt als Kritiker mit in der Komödie "Der Bürgermeister und sein Intendant." Er redet von Strahlkraft, das Theater flott machen, sich wie eine Fußballmanschaft an die Spitze spielen, ja, sein ganzes Leben soll man daran setzen, entweder tot oder erfolgreich, dem Theater zu dienen, denn jeder dort eingebrachte Euro würde sich am Ende mehrfach rentieren.

Und er gipfelt in dem pathetischen Ausruf: Geben sie Rückenwind.

Mir war dieser offene Brief etwas peinlich, aber ich wollte mich nicht dazu äußern, denn auch jedes Spaßbad kann jeden eingebrachten Euro wieder einspielen, und jedes Bordell. Wiegesagt, kann aber muss nicht, und bei einem Bordell eher denkbar. Es war mir unangenehm Theater in solchen Begründungshaushalten zu denken. Auch glaube ich nicht das ein Theater die Progrome von 1993 verhindern könnte. Seit 120zig Jahren wird in Rostock Theater gespielt und weder hat es den Faschismus noch die DDR oder jene Progrome verhindert. Es gibt in dem Sinne keinen direkten Zusammenhang. Das Theater bereitet nach und nur selten vor.

Und wie soll man mit einem neuen Beckett ein Theater flott machen. Wozu brauche ich überhaupt solche Begründungshaushalte?

Sie sprechen jetzt einige neue und ebenso allzu bekannte Widersprüche an. Das klingt gut. Aber das klang in den Siebzigern kaum anders. Sicher, es gibt ein Theater-Kartell. Vielleicht sind sie Teil davon? Aber noch nie habe ich davon gehört, dass ein Krankheitserreger zugleich die Medizin sein kann. Ein Kartell trägt keinen Ansatz in sich, sich selbst zu überwinden. Es gründet sich nicht, um die Freiheit der Kunst zu schützen, auch wenn es dies anfänglich so meinte. Ein Kartell bildet sich, um sich selber zu erhalten, und sein Produkt, die Kunstproduktion, ist nur ein Mittel dazu. Das Kartell muss man zerstören, denn es ist illegal. Es gibt da keinen weichen Übergang. Ein Kartell kann man nicht weichspülen.

Sie beschreiben die Krankheit. Nun müssen sie auch die Medizin benennen und reichen
Debatte Kunstfreiheit: schöne Utopie
Eine schöne Utopie. Sowas würde ich gerne öfter lesen.

@2: apropos ZDFisierung, Ostermaier wird hier auch irgendwo besprochen.
Debatte Kunstfreiheit: zum Kampf rüsten
Mir geht das alles auf die Nerven. Herr Weigel reiht aneinander, was selbstverständlich ist und sagt es aus dem bauch heraus und das ist gut und wichtig. Dankle. Nur in dieser Konsequenz kann man Theater sehen. Auch wenn es mitunter ZDFiziert.
Wann kommt der Mensch ins Theater und wann kann ich ihn provozieren und wann muss ich ihn unterhalten. Was ist möglich in dieser Zeit. Es ist eine Institution, die erhalten bleiben sollte und nicht wirtschaftlich betrachtet werden kann. Denn dann gäbe es nur noch das ZDF oder, es geht und das vergessen wir bitte nicht, noch schlimmer.
Aber auch das darf es geben, ist es doch ein Zeichen der Zeit und im Müllerschen Sinne Material, das zur Verwendung freigegeben ist. Freigegeben an einem freien Theater, das sich der zeit, der Auseinandersetzung und der Kunst verpflichtet fühlt und somit ein Gemeingut ist.
Theater ist ein Spiegel von Ostermeier über Castorf, Langhoff und Peymann, um in Berlin zu bleiben, freie Szene und HAU eingeschlossen. Begraben wir die Schwerter und rüsten zum Kampf für ein freies Theater!
Olaf
Debatte Stadttheater: Müllers Material
@Olaf: Sind Sie nicht ein bisschen pathetisch? Begraben wir die Schwerter und rüsten zum Kampf…!? Müllers Material ist übrigens immer als Material von Müller zitiert worden. Davon konnte er immerhin leben. Einem rahmenlosen Theater zur intelektuellen Ausschlachtung freigegeben, wäre seiner Ent-Autorisierung gleichgekommen. Das mag ein Spiegel der Zeit gewesen sein können, also der heutigen, aber deshalb noch lange nicht nachgewiesen auch Theater. Auch Theater ist darauf angewiesen als Theater erkannt und beschrieben zu werden, oder ist nicht vorhanden.
Debatte Kunstfreiheit: Menschen im Theater
Ja, wann kommt ein Mensch ins Theater – gute Frage. Als Theatermensch oder als Publikum? Mich interessiert, wann einer als Theatermensch ins Theater kommt oder kam ehrlich gesagt, im Moment nur privat. Aber wann ein Mensch als Publikum ins Theater kommt, interessiert mich sehr. Stark untertrieben. Ich glaube ja, dass es so wahnsinnig viele Gründe gibt für Menschen im Theater Publikum sein zu wollen, dass es mindestens eines Essays bedarf, das zu erörtern. Da ist ja hier nicht der Platz und bei mir im Moment nicht die Zeit, weil irgendwer hier in nk immer irgendeine interessante Frage aufwirft. Extra nur um mich und meine Familie zu ärgern! – Es ist deshalb viel leichter zu sagen, warum ein Mensch m.E. garantiert nicht ins Theater geht. Also jemand der die Welt verändern will, geht garantiert nicht als Nichttheatermensch-Publikum ins Theater. Weil er ja die Welt verändert und dafür weder das Theater braucht noch ersehnt, sondern es ihm eher lästig ist dabei mit seinem egozentrischen Aufmerksamkeitsanspruch. Es sei, der Nichttheatermensch ist Dramatiker. Der ist dann zwar vom Theater abhängig, aber nicht unbedingt von dem in seiner Lebenszeit. MUSS er also auch nicht hin. Menschen, die vom Theater besser unterhalten werden wollen als von anderen Unterhaltungsmedien, gehen auch nicht ins Theater, weil das viel weiter weg ist als die anderen Medien, selbst wenn es um die Ecke liegt. Im Zweifelsfalle sind sie immer besser durch Sex oder Familienspiele unterhalten als durch Medien oder gar Theater.
WARUM muss also jemand darüber nachdenken, WANN er provozieren undoder WANN er jemanden unterhalten wollen muss, bloß damit der dann als Publikum ins Theater geht und wiederkommt? Das will sich mir einfach nicht erschließen.- Ich glaube, so etwas als Denkaufgabe kann ziemlich enervierend sein. Das muss jemand sein, der sich mit solchen Gedanken befasst, der einfach nur ganz schöne Angst davor hat, dass, selbst wenn er Theaterkarten verschenkt, dass die dann nicht in Anspruch genommen werden und er, wenn er nicht gaaanz genau wüsste warum, er sich persönlich abgelehnt fühlen müsste. Und der sehr genau weiß, dass so eine Ablehnung verdammt wehtun kann. Und vielleicht fühlt sich das Publikum ja auch sehr oft abgelehnt vom Theater und geht deshalb nur so als Sondenpublikum auf seinen gesonderten Theaterstern – siehe Stadttheaterdebatte, von einem – dankenswerter Weise mal wohl eher wütenden – Weigel schön schlicht und sauber kurz beschrieben.

Nichts für ungut Nr. 8 - Sehr freundliche Grüße
Debatte Kunstfreiheit: Müllers Spielfelder
@nullisma: Meinen Sie die Müller-Herausgabe von Reclam mit dem Titel "Material" oder meinen Sie seine dramatischen Texte? Seine dramatischen Texte, also die späteren, wiesen ja bereits eine Prosastruktur auf, die den heutigen Jelinek'schen Textflächen nicht unähnlich sind. Weil sie aber weit pathetischer als diese waren, und das meine ich in diesem Fall nicht negativ, sondern als poetische Kategorie, über das Theater auf sich hinwegspielen muss in einer dem Publikum vorweggenommenen Katharsis, scheinen sie mir immer noch nicht ausgespielt mit den Theatermitteln, die wir heute haben. Ich glaube da noch an möglicherweise noch zu eröffnende Spielfelder, wenn auch für intermediale Spielformen Texthaltigkeit wieder entdeckt würde... Wenn Sie den Band "Material" meinen, da konnte Müller bestimmt auch nicht von leben. Er musste sich ja in unglaublicher ästhetischer Erörterung erschöpfen je älter er wurde, weil das Theater ihn so lange relativ allein gelassen hatte. Glaube ich. ich kann mich irren. Eigentlich müssten da einmal Leute wie Hörnigk oder Brigitte Meier-Müller was dazu sagen, Freunde, die ihn kannten halt.
Debatte Kunstfreiheit: Verhinderungs-Mechanismus
Dadurch, dass immer die gleichen Intendanten in den Kommissionen zur Findung neuer Intendanten sitzen, kann wirkungsvoll verhindert werden, dass gerade keine neuen Intendanten gefunden werden.
Debatte Kunstfreiheit: was unternehmen
Ja, Maus, das ist ja unschwer zu erkennen. Die Frage ist nur: WAS unternimmt man wirkungsvolles dagegen?
Debatte Kunstfreiheit: Überblick, woran es hakt
Chapeau für diesen Beitrag, der zwar nicht die "eine These" ausbuchstabiert, wohl aber einen sehr schönen Überblick gibt, "woran es hakt".
@Jubelperser: Dass man alte Texte, durch neue Medien ersetzen sollte, lese ich aus den Artikel nicht so heraus. Mir scheint es eher darum zu gehen, das Theater als eine Stätte für die ästhetische Auseinandersetzung mit dem Sozialen zu profilieren. Und als eine solche würde es natürlich den Menschen und dessen Praktiken (das versteh ich unter "dem Sozialen") in den Mittelpunkt stellen. So nun genehmige ich mir noch einen Text, wurscht ob alt oder neu..
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