Ich ist ein Datensatz

von Wolfgang Behrens

Berlin, 9. Oktober 2014. Einmal an diesem Abend beantwortet Georg Werner, einer der Performer der Gruppe Turbo Pascal, die wirklich großen Fragen. Könnte es, lieber Georg, eine App geben, die mir sagt, wie mein Gegenüber begrüßt werden will, mit Küsschen, mit Umarmung, mit Handschlag oder nur mit einem körperkontaktlosen Hallo? Könnte mir eine App helfen, den Kontakt mit denjenigen Personen in meinem Umfeld zu minimieren, die mich irgendwie runterziehen? Könnte mir eine App sagen, wie der Gesichtsausdruck der gerade angesprochenen Person zu deuten ist? Und, Georg, wäre eine App denkbar, die die Bedürfnisse meines Babys am Schreien erkennt?

algorithmen1 560 gernot woeltjen uHier werden wir gerastert – Versuchslabor mit Wartehallen-Flair (bei einer Hauptprobe)
© Gernot Woeltjen

Vor einigen Jahren war es noch die große Frage der Künstlichen Intelligenz-Forschung, ob eine Maschine menschliches Verhalten exakt simulieren könne. Der amerikanische Sprachphilosoph John Searle verneinte das entschieden, der Berliner Philosophieprofessor Holm Tetens hingegen gab darauf in seinem Buch "Geist, Gehirn, Maschine" (1994) die Antwort, dass wir selbst menschliches Verhalten grundsätzlich über alltagspsychologische Beschreibungen erklären und dass diese selbstverständlich in neurokybernetische Beschreibungen, also letztlich in Algorithmen mit Wenn-Dann-Struktur übersetzbar seien.

Wie ausrechenbar sind wir?

Mittlerweile hat die Realität die große Frage der Künstlichen Intelligenz nicht zuletzt durch Fragen wie die obigen ersetzt. Tatsächlich wird – so wie Tetens es vorausgesagt hat – die Alltagspsychologie von den großen Firmen modelliert, aber nicht um unser Verhalten zu simulieren, sondern um uns auszurechnen und uns mit diversen Apps unsere eigenen Präferenzen – tja, sagen wir: klarer zu machen. Und während wir uns noch im Glauben wähnen, unverwechselbare Individuen zu sein, sind wir längst zu austauschbaren Profilen aus algorithmisch verwertbaren Datensätzen geworden.

Wir neigen natürlich dazu, uns über eine solche Reduktion auf Standardprofile zu empören. Doch wenn den Performern von Turbo Pascal, diesen Experten auf dem Gebiet des theatralen Publikumsexperiments, in ihrer neusten Arbeit "Algorithmen. Eine biografische Formelsammlung" eines gelingt, dann das: Sie zeigen, dass wir selbst ohne Unterlass unsere Mitmenschen mithilfe derartiger Profile beurteilen. Und sie zeigen es, indem sie nicht viel mehr tun, als das Publikum immer wieder neu zu sortieren.

Wer gehört in die Schublade "bürgerliche Mitte"?

Beim Einlass wählen sich die Zuschauer ihren Platz innerhalb der Sitzgruppen, die locker im Festsaal der Berliner Sophiensaele verteilt sind und die an Wartehallen auf Flughäfen erinnern, noch selbst. Doch schon nach wenigen Minuten kreisen die Performer durch den Saal und platzieren uns neu: "Kannst du bitte auf den Platz mit der Nummer 80 gehen?" Okay, mach' ich. Und sofort beginnt man Hypothesen zu bilden, nach welchen Kriterien man arrangiert wird. Ich beispielsweise finde mich vorerst, so meine Vermutung, bei männlichen Brillenträgern ohne Kopfbedeckung wieder. Bei meiner Begleitung bleibt es unklar: Ist es irgendetwas mit ihrer Kleidung?

Später werden Zettel ausgeteilt mit Aufgaben wie: "Gib diesen Zettel an eine Person, von der du glaubst, dass sie zur bürgerlichen Mitte zählt." (Dass ich von diesem Zettel weiß, liegt daran, dass jemand der Ansicht war, ich sähe so aus, als gehöre ich zur bürgerlichen Mitte). Mein zwischenzeitlicher Sitznachbar auf der 81, der dank angegrauter Haare und Brille eine gewisse Seriosität ausstrahlt, erhält einen Zettel, demzufolge eine andere Zuschauerin ihm zutraut, ein politisches Amt zu übernehmen.

algorithmen2 560 gernot woeltjen uDiese Zettel helfen dabei, die Mitspieler in Schubladen zu sortieren.
© Gernot Woeltjen

Bitte mal nach Bruttojahreseinkommen sortieren!

Noch später wird sich eine Gruppe, die sich selbst als abenteuerlustig oder bühnenaffin eingeschätzt hat, vor den Augen der anderen nach bestimmten Kriterien aufreihen: Körpergröße (das ist einfach), Jahreseinkommen (wenn die Bruttosummen stimmen, die ich da zu hören bekomme, dann haben die Sophiensaele ein tendenziell prekäres Publikum), geilstes Outfit (immerhin werde ich nicht nach ganz rechts, zu den Ungeilsten gestellt, sondern nur nach halbrechts), Intelligenz (einer geht aus freien Stücken an die Nummer 1, mit dem Argument, er arbeite in der IT-Branche). Und ständig rastert das Kopfkino, ob die Menschen und die Profile, die man sich schon auf den allerersten Blick von ihnen erstellt hat, noch aufeinander passen. Unsere tief im Hirn verankerten Profil-Apps justieren unsere Klischees.

Die schmerzhaften Sortierungen ("Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten in die Hölle") erspart uns Turbo Pascal, sie werden nur vorgeschlagen, aber nicht vollzogen: Eine Menschenpyramide, in der ganz unten die kräftigen Steuerzahler stemmen und ganz oben die Langzeitarbeitslosen getragen werden. Oder eine Aufteilung nach Fruchtbarkeit. Etc. Das Schlimmste, was einem an diesem Abend daher passieren kann, ist, dass man einfach nur dasitzt und von niemandem sortiert wird. Kriegt man keine oder die falschen Zettel ab, dann mag man sich fühlen, wie einst bei diesen gefürchteten Kennenlern-Spielchen, wenn einem keiner zugezwinkert hat. Das Profil dieser Leute ist ja klar: Mauerblümchen.

 

Algorithmen. Eine biografische Formelsammlung
von Turbo Pascal
Von und mit: Bettina Grahs, Frank Oberhäußer, Margret Schütz, Georg Werner, Friedrich Greiling, Ausstattung: Gabriele Vöhringer, Musik: Friedrich Greiling, Daramaturgie: Angela Löer.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten

www.sophiensaele.com

 

Mehr Turbo-Pascal-Theater mit Mitmachtouch: "Ich habe keine Angst vor dem Publikum, sondern Angst um das Publikum", hieß es in ihrer Arbeit Ich bin nicht wirklich in Gefahr, die 2009 beim Freischwimmer-Festival lief – ebenfalls in den Berliner Sophiensaele. 

Um Algorithmen, Ausrechenbarkeit und Apps ging es jüngst auch in Klaus Gehres Bühnenadaption von Steven Spielbergs Minority Report am Schauspiel Dortmund.

 

Kritikenrundschau

Es sei "immer ein bisschen fies, was die netten Performer der Hildesheimer Truppe Turbo Pascal mit ihren Zuschauern machen", meint Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (13.10.2014). Unvermerkt stecke man "mitten drin in ihrem Spiel der Manipulationen. Ja, Turbo Pascal liebt die Interaktion, die an diesem Abend in den Sophiensaelen besonders fein abgewogen ist." Der Abend "Algorithmen" eröffne zwar "keine neuen Erkenntnisse über unsere immer heiklere Öffentlichwerdung", aber er mache "dieses abstrakte Wissen neu greifbar, verwickelt den Zuschauer direkt in die Peinlichkeit, wie er vom Nutzen seiner eigenen Algorithmenkompetenz in die Ausnutzung durch sie selbst schliddert."

Kommentare  
Algorithmen, Berlin: verkehrte Menschenpyramide
Lieber Herr Behrens, wie ist das mit den "schmerzhaften Sortierungen" gemeint? Sie schreiben am Ende vom Vorschlag einer "Menschenpyramide, in der ganz unten die kräftigen Steuerzahler stemmen und ganz oben die Langzeitarbeitslosen getragen werden". Wie bitte? Ist das nicht genau verkehrt herum gedacht? Bzw. spiegelt diese Pyramide nicht gerade das algorithmische Vorurteilsmodell vieler Politiker vom "faulen Arbeitslosen"? Wohingegen es doch genauso gut die faulen Bankmanager sein könnten, welche das Geld für sich arbeiten lassen und mit einem Knopfdruck das Leben der ganzen Weltbevölkerung umkrempeln können? Was soll also dieser Abend in Ihrer Wahrnehmung? Eine Kritik an den Algorithmen, welche ja immer auch zu einer gegenseitigen "Überwachungsmentalität" führen? Rasterfahndung und Vorverurteilung bereits im eigenen Kopf? Entlarvt sich die Thematik dieser Inszenierung also selbst, indem sie diese Fragen nach dem Politischen indirekt durchscheinen lässt? Oder geht es hier einfach nur um den "Spaß" der kategorischen "Ordnung der Dinge"? Na, dann viel Spaß. Ordnung zieht als Gegenpol die kreative Zerstörung auf sich.
Algorithmen, Berlin: wer wen trägt
Ich war nicht dabei, aber die "Menschenpyramide" ist einfach ein Verweis auf die Tatsache, daß 10% der Steuerzahler über 50% der Einkommenssteuer zahlen, während die 'unteren 50%' der Einkommen nicht einmal 10% der Einkommenssteurn zahlen.
Hierzu ein älterer Link: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/recht-steuern/einkommensteuer-10-prozent-zahlen-50-prozent-1490750.html

(ist aber aus der F!AZ, nicht der taz, stimmt also wahrscheinlich nicht... ;-))
Algorithmen, Berlin: unterschiedliche Lasten
Zu Nr. 2: Nein, das stimmt leider gar nicht, Ihre Befürchtung ist berechtigt. Die Einkommensteuer macht - ich bin nicht auf der aktuellen Höhe - etwa 30% des gesamten Steueraufkommens aus, die weitaus größere Steuerlast liegt auf den kleinen und mittleren Einkommen. Sie können das mühelos selbst recherchieren.
Algorithmen, Berlin: steht nicht rosig
@2 sie wissen aber schon, dass nicht so sehr zählt, was man abgibt, sondern was man behält. Und da steht es um ñ die verteilung der vermögen ja nun nicht rosig. zumindest nicht, wenn man politisch verantwortungsvolle denkt.
Algorithmen, Berlin: Steuer-Erhebung
@steckel: auch das stimmt nicht so ganz. Den weitaus größten Anteil am Steueraufkommen macht Lohnsteuer aus, kann man bei wikipedia nachschauen. Die wird auf nichtselbstständige Arbeit erhoben. Ein Festangestellter mit 500.000 Euro Jahreseinkommen zahlt also Lohnsteuer, ein freier Regisseur zahlt auf 5.000 Euro Regiegage Einkommensteuer.
Algorithmen, Berlin: nur Selbst-Thematisierung?
@ Frau Lehmann: Ach, so. Auch Turbo Pascal thematisiert hier also eigentlich nur sich selbst und benutzt dazu die Zuschauer? Wieder mal "nur" das Thema "freie Szene" gegen "Stadttheater"? Och, nö.
Algorithmen, Berlin: selbstreflektiv
Da die Diskussion hier sich offensichtlich etwas vom Stück entfernt, wollte ich einmal gesagt haben: gehen Sie mal rein. Die Vorstellung, in der ich heute Abend war, war sehr vital, amüsant und nachahmungswürdig selbstreflektiv. Und irgendwie hat man nach dem Stück das Gefühl seine Mitmenschen kennengelernt zu haben. Kann ich nur weiterempfehlen.
Algorithmen, Berlin: wer sortiert
Weil es mich ehrlich interessiert, aber auch aus schlechtem Gewissen, hier durch einen Hinweis zur Steuer zur Entgleisung der Diskussion beigetragen zu haben, habe ich mir gestern 'Algorithmen' angesehen.

Mir hat es gefallen, es ist ein Abend, der zum Nachdenken bringt: wer sortiert mich nach welchen Kriterien, wie sortiere ich, wer weiß was von wem, wie ist das manipulierbar? Letztlich sind die einzelnen Ansätze vielleicht nicht sonderlich tiefsinnig, durch die konkrete Erfahrung des Sortierens und selber Handelns aber packend und treffend.
Schade ist nur, daß jeder sich auch im Publikum verbergen kann, die wirklich unangenehmen Fragen zur Eigen- und Fremdwahrnehmung bleiben einem erspart und damit wird auch das an sich hohe Beklemmungspotential nicht ausgereizt. Es bleibt dabei, daß es vor allem unterhaltsam ist, was das Stück aber nicht weniger empfehlenswert macht!


PS: und zur Steuer nochmal...
Einkommenssteuern sind Steuern auf das Einkommen, da gehört Lohnsteuer dazu, auch Körperschaftsteuer. Wie heißt es so schön oben: kann man ganz einfach selber recherchieren, und bei Wikipedia nachlesen. Und wer grundsätzlich auch dem Bundesfinanzministerium misstraut, darf jetzt einfach mal weglesen, anderen aber sei gesagt: die letzte Datensammlung von 2013 zeigt: die 'oberen 10%' zahlen 54% der Einkommenssteuern, die 'unteren 50%' (das geht übrigens bis 27.250 EUR Einkünfte, da ist also die Mitte) zahlen 5% der Einkommenssteuern.

Es stimmt natürlich, daß für kleine und mittlere Einkommen die indirekten Steuern die höchste Belastung sind (auch weil sie ja kaum direkte Steuern zahlen), das heißt aber nicht auch automatisch, daß sie am stärksten belastet sind. Ich vermute, daß eine Aussage über das Steueraufkommen aus indirekten Steuern nach Einkommensstand schwer zu bekommen ist, ich werde jedenfalls bislang beim Einkauf noch nicht nach meinem Einkommen gefragt.
Algorithmen, Berlin: Transferleistung abverlangen
wie kann man bei diesem abend von einem "stück" sprechen? wann hört diese art von mitmachtheater endlich auf? über all das, was da verhandelt wird kann man essays schreiben und sich gedanken machen. theater müsste diese prozesse übersetzen in eine geschichte, die erzählt wird, in figuren, die zueinander in beziehung treten, auch mit dem zuschauer. von all dem, was theater ausmacht nichts, stattdessen werden zuschauer in grüppchen sortiert und es wird versucht, auf platte weise die mechanismen der kommunikationsmedien nachzustellen. dem publikum eine transferleistung abzuverlangen und es nicht für so dumm zu halten wäre doch mal was.
Algorithmen, Berlin: einordnen vs. stigmatisieren
"'Algorithmen' eröffnet keine neuen Erkenntnisse über unsere immer heiklere Öffentlichwerdung, aber es macht dieses abstrakte Wissen neu greifbar, verwickelt den Zuschauer direkt in die Peinlichkeit, wie er vom Nutzen seiner eigenen Algorithmenkompetenz in die Ausnutzung durch sie selbst schliddert." (Berliner Zeitung)

Wie ist das gemeint? Jetzt soll also der facebook-Verwender Schuld an seiner eigenen Überwachung sein? Anders gefragt: Ich denke bei Algorithmen nicht als Erstes an die Einteilung von Menschen in bestimmte (Einkommens-)Kategorien (und wie es scheint, geht es hier - auch in den Kommentaren - plötzlich nur noch um das Thema "Steuer"), sondern an die Algorithmen, nach denen Menschen bzw. Menschengruppen stigmatisiert werden. (Warum) Wird das hier gar nicht zum Thema? Dazu ein Link:

http://www.berliner-zeitung.de/politik/statistik-der-sicherheitsbehoerde-bka-stigmatisiert-betroffene-auf-listen,10808018,28530400.html

Ich ordne mich selbst natürlich auch nicht in die Kategorien "Fixer, Landstreicher, Prostituierte" ein. Und das geschieht auch nicht von aussen. Aber drüber nachdenken könnte man ja trotzdem mal. Was da gemacht wird und wem das nützt oder schadet.
Algorithmen, Berlin: vier Sortierungen
@ Wolfgang Behrens

Naja, also "Mauerblümchen" ?
Ich sehe da auf Anhieb mindestens 4 "Sortierungen", bei denen es gut und gerne dazugehört, gerade nicht aufzufallen.

Nicht auffallen-

Von ihnen erwartet man es: gute Schiedsrichter.
Bei ihnen bewundert man es: graue Eminenzen.
Von ihnen sagt man es im Alltag: Schauspieler.
Bei ihnen ist das leider so: Taschendiebe.
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