Blog - Welches Theaterbild vermittelt eigentlich der "Tatort"?
Staub husten
15. Oktober 2014. Die gefühlte Wahrheit ist: Angesichts der auf Twitter versprühten Begeisterung über den "Tatort" vom vergangenen Sonntag (hier geht's zum Livestream) muss man sich um die Zukunft des Stadttheaters wohl keine Sorgen machen. "Im Schmerz geboren" nämlich wilderte lustvoll bei Kino, klassischer Musik, Bildender Kunst und Theater. Und die Leute twitterten sinngemäß zuhauf: "Muss unbedingt mal wieder ins Theater gehen." Der Gedanke, sich dieser Art Abendunterhaltung hinzugeben, lag in letzter Zeit offenbar fern. Jetzt prophezeite @IrgendwieJuna:
Der Kartenverkauf in Theatern, Opern, Konzerthäusern steigt überraschend an. #Tatort
— Juna (@IrgendwieJuna) 12. Oktober 2014
Selbst die Abgetörnten schimpften: "Wenn ich Theater sehen will, dann gehe ich ins Theater." Klingt ja immerhin, als würden sie gelegentlich wollen und auch gelegentlich hingehen. Hervorragende Aufklärungsarbeit, liebe ARD. Es besteht Hoffnung, Theater! Oder?
Inszeniertes Rachetheater
Sollten wir Theateraficionados uns nicht freuen, dass Shakespeare-Vergleiche ab sofort nicht nur für US-amerikanische Serien, sondern auch für unser aller Lieblingssonntagabendkrimi zulässig sind? Dass nicht nur Kevin Spacey das fiese Jago-aparte-Spiel beherrscht, sondern dass dank der Verskunst Michael Proehls und Florian Schwarz' Regie jetzt auch der "Tatort" mithalten kann?
Doch was ist das eigentlich für eine Art von Theater, das das Publikum da auf dem Umweg der Mattscheibe in Bann schlägt? Erzählt wird eine überhöht konstruierte Rachestory jenseits allen Fernsehrealismus, für die Wahrscheinlicht kein Maßstab ist (Shakespeare!), inklusive unschuldig schuldig gewordenem Kommissar Murot (Tragödie!), drei nach "Hamlet" benannten (und ihre Lektüre zum Auftragsmord mitschleppenden) Gangster-Söhnen und einem Garagen-Don. Der ruft seinen Vorarbeiter nicht nur wahlweise Caliban oder Ariel, sondern hat in seiner Werkstatt auch eine Bühne errichtet, um den Angestellten Klassiker wie den "Kaufmann von Venedig" näherzubringen. Oberbösewicht Harloff zitiert Pulp-Fiction-mäßig die Bibel und führt eine schöne "Es werde Licht"-Zaubernummer auf, bevor er den Don ins Jenseits befördert. Dann sitzt er als Zuschauer seines spektakulär inszenierten Rachetheaters auf der Garagen-Bühne vor den Bildschirmen. Und sieht zu, wie sich unter seiner Regie Bankräubertrupp und Polizisten gegenseitig Kugeln in die Körper und das Blut aus den Köpfen jagen, auf dass es tarantinoesk in ästhetisierten Stills gefriert. Am Ende feiern die Toten Auferstehung und versammeln sich auf einem (gemalten) Bild wie zum wohlverdienten Empfang des Applauses.
Die werden sich wundern
Dann wären da natürlich noch die beiden großen Theater-Ulrichs (Matthes und Tukur), die der formatsprengenden Folge das Figurenfleisch geben. Dass neben dem DT-Einfühlungsperfektionisten Matthes auch der auf verfremdende Volksbühnen-Verausgabung geeichte Alexander Scheer dabei ist, macht die Spielmischung (von Theaterseite aus komplettiert durch Shenja Lacher vom Münchner Residenztheater) natürlich besonders reizvoll und treibt sie qualitätsmäßig deutlich über "Tatort"-Durchschnitt.
Zur Rahmung umwirbt Alexander Held, Darsteller jenes literaturverrückten Kriminellen Don Bosco, das Publikum mit Prolog, Epilog und Renaissance-Flair verströmender Jacke – und müsste dabei eigentlich Staub husten. Es ist das Klassiker-Theater von anno dazumal, das hier seinen Glanz verströmt. Theater, wie es sich wohl Leute vorstellen, die selbst ziemlich lange nicht mehr dort waren oder es vornehmlich aus Kenneth Branaghs Shakespeare-Verfilmungen kennen. Wenn die neuen Theaterbegeisterten also wirklich einmal den Fuß über die Schwelle eines zeitgenössischen Stadttheaters setzen sollten, werden sie sich wundern. Gut möglich aber, dass sie abermals positiv überrascht werden. Davon, dass Theater noch so viel mehr kann. Anderes als dieser tolle "Tatort". Und jede Wette: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Theater-"Tatort"-Theater-Adaption auf die Bühne gebracht wird. Eine Besetzungsliste gäb's ja schon mal.
(ape)
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der betreffende Absatz ist inspiriert von dem durchschnittlichen Wissen einer Theaterkritikerin. Aber vielen Dank für den Hinweis auf SPON (ich nehme an, Sie meinen dies hier: http://www.spiegel.de/kultur/tv/tatort-mit-ulrich-tukur-zitate-in-im-schmerz-geboren-a-996848.html#ref=veeseoartikel
[1]), eine schöne, weiterführende Zitatliste, nicht nur das Theater betreffend.
Beste Grüße,
Anne Peter
Der Tukur macht ja surreales, also spielt sich die ganze Geschichte nur in seinem Kopf (Gehirntumor) ab.
Noch Fragen?
Ich möchte an dieser Stelle ein kurzes und sehr bewusstes Plädoyer für die deutschsprachigen Staats,- Stadt- und Landestheater abgeben. Sonntag für Sonntag sehen wir wunderbar ausgebildete Theaterschauspieler im Tatort, wir können erahnen, welches Potential in Ihnen steckt, werden aber immer wieder von schwachen Drehbüchern, mutlosen Regisseuren und langweiligen Plots daran gehindert, die Größe einiger Protagonisten zu spüren und zu erfahren.
Ok, dass stimmt natürlich nicht generell, siehe letzter Tukur Tatort, aber über viele Jahre hinweg, habe ich so viele unfassbar langweilige TV Produktionen gesehen, dass ich an dieser Stelle kein anderes Urteil abgeben kann und es auch nicht mag.
Ich sage nicht, dass es auf der Bühne keine schwachen, oder belanglosen Abende gibt. Es gibt viel zu viele davon, aber man geht ja auch für die Magie des Augenblicks in das Theater, für einen Moment Wahrheit, wenn der Schauspieler nicht mehr als Schauspieler erkennbar ist, wenn die Rolle keine Rolle mehr ist, und wenn das Bühnenbild sich in Realität auflöst.
Diese Momente sind trotz aller Qualität sehr selten und man darf auch nicht mit dem Anspruch in das Theater gehen, sie sofort erleben zu wollen. Sie ergeben sich einfach, sind plötzlich da, und in diesem Moment ist im Saal etwas spürbar, was ich hier als Wahrheit bezeichnen möchte, als ein magischer Moment, der nachwirken wird, und der glücklich machen kann.
Das Theater hat natürlich, auch durch sehr ordentliche Subventionen erst ermöglicht, den großen Vorteil, etwas auszuprobieren und das Scheitern als Option einkalkulieren zu können. Über die vielen großartigen Off Theater Produktionen spreche ich bewußt an dieser Stelle nicht, es würde den Rahmen, dieses kurzen Einwurfs sprengen.
Abend für Abend wird eine Geschichte aufs Neue erzählt, die Schauspieler können, in zum Teil sehr langen Sequenzen, einer Figur Kontur und Plausibilität verleihen, sie können gemeinsam mit ihren Mitspielern eine Intensität erzeugen, die das Medium Film in der Figurenzeichnung nur selten hinbekommt.
Wie oft schon war ich nach einer Inszenierung unberührt, konnte mit ihr nur wenig anfangen, aber da war das hysterische und rythmische Spiel einer Sophie Rois, die Hintergrundmusik einer Thalheimer Inszenierung, da war ein Kunstwerk von Bühnenbild, und da war ein traumhaft schönes Theater in Dresden oder Wien. Insofern habe ich noch nie einen Theaterbesuch radikal bereuen müssen. Ok, doch, die ganzen Yasmina Reza Abende, aber mit kleinbürgerlichen Selbstreflexionen halte ich mich nicht lange auf.
Eine Inszenierung geht nicht immer auf, dafür sind alle Beteiligten auch zu sehr im Lieferdruck, an manchen Theatern werden Stücke irrerweise nach sechs Inszenierungen wieder abgesetzt, bzw. es waren nur sechs Vorstellungen eingeplant. Das werde ich so nie verstehen und das muss ich ja auch nicht.
Es gibt aber auch an vielen Häusern die Langläufer, teilweise über 10 Jahre werden sie immer wieder ins Programm genommen, weil sie Qualität haben, weil sie groß sind und weil sie vom Publikum geliebt werden. Zwei gute Beispiele sind hier der Hamlet an der Schaubühne mit Lars Eidinger oder Onkel Wanja am Deutschen Theater mit Ulrich Matthes, vom längst verstorbenen Regisseur Jürgen Gosch, aber es gibt viel mehr davon, auf www.nachtkritik.de kann man sich einen hervorragenden Überblick der aktuellen deutschsprachigen Theaterszene verschaffen.
Der entscheidende Unterschied zum Film ist wohl, dass im Theater der Phantasie naturgemäß viel mehr Platz eingeräumt wird. Viele der Protagonisten sind privat sehr scheu, aber auf der Bühne begeben sie sich auf die Suche, wollen verstehen, offenlegen und auch verführen. Es bedarf keiner realistisch abgebildeten Räumlichkeiten, viele große Momente entstehen auf fast völlig leergefegten Bühnen. Die Phantasie macht den Unterschied. Über zwei Stunden zu verfolgen, wie ein Gert Voss, Gott habe ihn selig, sich in die Rolle eines völlig vereinsamten und egomanen Schauspielers hineinspielt, dass ist nur als Kunst zu bezeichnen. "Einfach kompliziert" ist ein eigentlich unspielbares Einpersonenstück von Thomas Bernhard, aber ein Gert Voss ist eben in der Lage, auch dieser Figur ihre Würde zu belassen und einen fast leergeräumten Raum für sich einzunehmen.
"Die Wünsche aufgegeben / aber mich selbst habe ich nicht aufgegeben / Wir schulden niemandem etwas / Alle schulden uns alles / aber wir schulden niemandem etwas." Zitat aus Einfach kompliziert.
Wenn dieses Plädoyer zur Folge haben sollte, dass sich auch einige Leser der Hebebühne einmal wieder in ihr Stadttheater begeben sollten, dann wäre ich mehr als froh darüber. Im übrigen gibt es auch prima Theaterkantinen, wie zum Beispiel am BE, im Gorki Theater, oder im Akademietheater in Wien. Die beste Weinkarte hat aktuell allerdings das Schauspielhaus in Hamburg, selbst Weine von den Golan Höhen werden dort offen ausgeschenkt.
In diesem Sinne zum Wohl und bleiben Sie uns, wie bisher, gewogen!