Presseschau vom 4./5. November 2014 – Unterschiedliche Reaktionen auf Mauerkreuz-Klau des Zentrums für politische Schönheit

"Dümmer als die Bundeskanzlerin!"

"Dümmer als die Bundeskanzlerin!"

4. November 2014. Bazon Brock, emeritierter Professor für Ästhetik und Kulturvermittlung und einer der Väter der Aktionskunst in Deutschland, hat in einem Interview im Deutschlandradio Kultur scharfe Kritik an der Aktion des Künstlerkollektivs Zentrum für Politische Schönheit "Erster Europäischer Mauerfall" geübt.

Das Künstlerkollektiv will am 25. Jahrestag des Mauerfalls an Europas Außengrenzen mit dem symbolischen Abbau der europäischen Grenzanlagen beginnen. Im Kontext der Aktion wurden Anfang der Woche an der ehemaligen innerstädtischen Grenze in Berlin vierzehn Gedenkkreuze für die Mauertoten entwendet. Die Kreuze sollen an einer der Grenzen wieder aufgestellt werden, die seitdem Europa gegen heutige Flüchtlinge abschotten. "Die Mauertoten sind in einem Akt der Solidarität zu ihren Brüdern und Schwestern über die Außengrenzen der Europäischen Union geflüchtet", heißt es in einer Erklärung der Gruppe. "Genauer: zu den zukünftigen Mauertoten. 30.000 Tote an den EU-Außengrenzen in den vergangenen 25 Jahren und die laufende militärische Abriegelung des Kontinents waren zuviel für ihre Totenruhe."

Für Brock stimmt bereits die Analogie Mauertote = Schlepperopfer nicht, die vom Zentrum für politische Schönheit hier aufgemacht worden ist. Aus seiner Sicht handelt es sich bei dem Prpjekt "Erster Europäischer Mauerfall" auch nicht um Aktionskunst sondern reinen Klamauk und "humanistisches Geschwafel". "Die sind ja noch dümmer als die Bundeskanzlerin, da hört der Spaß auf."

In der Sache sei es eine Schweinerei, dass "auf dem Rücken von 48 Millionen Weltflüchtlingen ein paar Ästhetiker ihre Süppchen kochen". Auch der Name der Gruppe stößt Brock sauer auf: für politische Schönheit sei hierzulande bislang Leni Riefenstahl zuständig gewesen. Außer naiver Riefenstahl-Anbetung habe die Gruppe nichts zu bieten. Auch deshalb sei die Aktion in Deutschland besonders heikel. Die Sache selbst, nämlich der Kampf um eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik, werde von den selbst ernannten Aktivisten kaputt geredet.

(sle)

5. November 2014. Nachdem die Aktion des Zentrums für politische Schönheit von mehreren Seiten, aus der Politik u.a. vom Vizepräsidenten des Brandenburgischen Landtags Dieter Dombrowski und vom Berliner Senatssprecher Richard Meng ("dumm und geschmacklos") kritisiert worden war, hat sich die Intendantin des Berliner Maxim Gorki Theaters Shermin Langhoff, unter dessen Fittichen der "Europäische Mauerfall" stattfindet, hinter Philipp Ruch und seine Mitstreiter gestellt. "Seit dem Tod von Christoph Schlingensief vermisse ich immer wieder eine starke, provozierende Stimme in der Kunstlandschaft, die politisch interveniert", wird Langhoff in der taz zitiert. Deshalb sei sie froh, dass es das Zentrum für Politische Schönheit gebe. "Die Aktion erzeugt Aufmerksamkeit für die katastrophale Situation der von Flucht betroffenen Menschen an den EU-Außengrenzen. Sie nimmt die Vergangenheit als Auftrag ernst."

(sd)

 

Mehr lesen? Sophie Diesselhorst stellte im Juli 2014 das Zentrum für Politische Schönheit auf nachtkritk.de vor.

Die Aktion Erster Europäischer Mauerfall des Zentrums für Politische Schönheit ist auch Teil des kleinen November-Festivals Voicing Resistance im Maxim Gorki Theater Berlin.

 

Kommentare  
Zentrum für Politische Schönheit: weder politisch noch schön
Brock hat recht. Viele der Angehörigen der Mauertoten leben noch. Und die sehen in der Zeitung Flüchtlinge - lebendig, einige lächelnd -, die die Kreuze mit den Namen der Toten in die Kamera halten. Das ist weder politisch noch schön.
Zentrum für Politische Schönheit: Kritik am Überbringer der Nachricht
Warum äußert sich nachtkritik erst 3 Tage nach Bekanntwerden dieses Falles . Und verschweigt, dass das maxim gorki theater und das voicing Res. - Projekt/Festival damit zu tun hat und/oder ... Feige?z Ihr müsst doch lesen!

(Danke für den Hinweis. Wir haben ergänzt.
jnm)
Zentrum für Politische Schönheit: Ritterschlag
Vom alten Bazon Brook harsch kritisiert zu werden, ist der Ritterschlag für das Zentrum für Politische Schönheit. Gratulation!
Zentrum für Politische Schönheit: berechenbar
Herrlich, wie berechenbar Leute wie Brock und die Medien sind: die Rechnung der Aktion geht auf, wenn einer wie Brock so reagiert und die Medien es brav verbreiten.
Zentrum für Politische Schönheit: peinlich
Was Herr Brock da auf DeutschlandradioKultur sagt, und wie er es sagt, ist wirklich ungeheuer peinlich: er unterstellt der Künstlergruppe vollkommen zusammenhangslos Leni-Riefenstahl-Anbetung, er fordert von ihnen ein ausgearbeitetes politisches Programm und ganz offensichtlich hält nur er sich in der Lage zu definieren, was sich Aktionskunst oder überhaupt Kunst nennen darf und was nicht.
Natürlich ist die Analogie Mauertote=Schlepperopfer nicht ganz stimmig, aber genau dadurch kann man ins Nachdenken kommen: welche Institutionen tragen Mitverantwortung für die mehr als 23.000 toten Flüchtlinge seit dem Jahr 2000 an europäischen Aussengrenzen? Warum sind Politik, Medien und Öffentlichkeit weitgehend abgestumpft gegenüber den Meldungen von Ertrunkenen? Ist die Militarisierung von Grenzen zur Verhinderung von Flucht überhaupt ethisch vertretbar?
Den Beitrag unbedingt anhören! Eine solche Mischung aus Empörung und Selbstgefälligkeit kennt man sonst eher aus der Riege der Altvorderen des Regietheaters.
Zentrum für Politische Schönheit: gepachtet?
Hat Brock jetzt die politische Aktionskunst auf alle Zeiten für sich gepachtet? Mir fiel schon damals bei der Diskussion über Milo Raus Breivik-Monolog im Theaterdiscounter auf, dass er einen großen Hang zum Referieren und Schulmeistern hat. Viel Neues kommt da beim großen Vordenker der Ästhetik auch nicht mehr. Ich will damit nichts gegen seine Verdienste in der Kunstbetrachtung und politischen Bildung des mündigen Bürgers sagen. Klares Denken ist nicht allzu weit verbreitet in der heutigen Zeit. Aber hier konstatiere ich klar beginnenden Altersstarrsinn beim Meister der ästhetischen Synapsen-Kunst. Den Zusammenhang von innerdeutscher Mauer und einem neuen Limes an den Grenzen Europas hat 1994 schon Heiner Müller festgestellt. Auch nicht gerade ein Denkfauler.

Nun erinnern die Aktionen nicht von ungefähr auch an die von Christoph Schlingensief (etwa „Bitte liebt Österreich“ oder „Baden im Wolfgangsee"), nur dass die Gruppe „Zentrum für politische Schönheit“ hier nicht nur provokativ etwas künstlerisch Fingiertes der bestehenden Realität gegenüberstellt oder den reinen Spaßfaktor bedient, sondern tatsächlich im öffentlichen Raum handelt. Und das mit maximaler öffentlicher Aufmerksamkeit. Natürlich nutzt man hier die Medien samt Bild-Zeitung (vermutlich ist das der einzige Grund warum Brock so vehement protestiert), und die tun den Aktionisten auch den Gefallen, samt entlarvender Politikerkommentare.

Nun können sich Tote eben auch tatsächlich nicht wehren. Weder gegen die Vereinnahmung für ein einseitiges Opfergedenken, noch gegen die sogenannte Solidaritäts-Aktion mit den Opfern an der außereuropäischen Grenze. Darüber kann man nicht nur aus ästhetischen Gründen sicher diskutieren. Zumindest aber hat die Gruppe ihnen wieder zu einem sinnstiftenden Gedenken verholfen. Denn, dass sie an exponierter Stelle plötzlich weg waren, hat kaum jemand wirklich bemerkt. Auch greift meiner Meinung nach nicht die Bemerkung, sie hätten ja noch Angehörige, die sich hier betroffen fühlen könnten. Auch die toten Flüchtlinge haben die, auch wenn man weder sie noch deren Angehörige kennt. Zeit sie kennenzulernen, und nicht nur auf Dächern von Berliner Schulen und als abschreckendes Beispiel in der Presse, sondern direkt am Ort ihres Martyriums. Auch wenn das vielleicht etwas pathetisch klingen mag.

Man kann sich auch weiter Performances wie Schlepperopern oder szenisch aufbereitete Wikipedia-Vorträge über Frontex ansehen (Die haben sicher auch ihre Berechtigung). Aber vielleicht hat ja Herr Brock noch ein paar wesentlich ästhetischere Vorschläge. Ein Versuch zumindest ist da Nicolas Stemanns Jelinek-Inszenierung „Die Schutzbefohlenen“ am Thalia Theater, weil dort nicht nur angedeutet wird, wo die Grenzen in Europa verlaufen, sondern auch wo der Kunst die Grenzen gesetzt sind. Diese Grenze versucht die Aktion nun etwas zu verschieben. Warum nicht? Und zum Teufel mit der Ästhetik, wenn man sich nach dem schmerzfreien Genuss von Theater wieder belanglosen Kunst-Problemchen wie Twittern oder Livestream widmen kann.
Zentrum für Politische Schönheit: Mund halten?
Soll man die Klappe zu solchem Unsinn halten, bloß weil der mediale Rush zum Kalkül der Aktion gehört?
Das wäre ja wohl noch perfider.
Zentrum für Politische Schönheit: hoffnungslos gefangen
Ein grosses Problem unserer kurtatierten Kunstlandschaft ist, dass dies nun wieder zu einer "Geschmacksfrage" wird. Welche/R ProtagonistIn trifft den richtigen Ton in seiner Empörung und/oder Zustimmung? Das wird viel relevanter diskutiert/wahrhenommen als die Aktion selber und vor allem das Problems, auf das die Aktion hinweist. Wir sind hoffnunslos gefangen in "Geschmacksdiskussionen", die nur von einer kleinen Minderheit eleganz genug geführt werden können.
Zentrum für Politische Schönheit: unterkomplex
Die hier diskutierte Aktion ist eitel und unterkomplex bis zum "geht nicht mehr"..das wird auch ein Herr Bazon Brock als profunder Kenner der Materie festgestellt haben...
Zentrum für Politische Schönheit: Inwiefern unterkomplex?
@9: inwiefern ist die aktion den nun unterkomplex, und warum ist sie eitel? ich kann ihnen nicht folgen, erklären sie doch mal...
Zentrum für Politische Schönheit: Gleiche Abschottung
Natürlich sind beide Situationen nicht 1:1 vergleichbar, aber eine Verwandtschaft zwischen der Festung Europa und der Abschottung der DDR aufzuzeigen, finde ich legitim, es rüttelt auf, provoziert und stößt uns mit der Nase auf ein Thema, bei dem zu viele zu gerne wegsehen - insofern finde ich diese Kunstaktion voll und ganz gelungen. Ich habe Respekt davor, wenn Angehörige von Mauertoten das anders sehen. Das tagtägliche Sterben und Leiden an den Grenzen Europas ist aber derart skandalös, dass ich es legitim finde, auch mit drastischen Mitteln darauf aufmerksam zu machen, auf die Gefahr hin, Gefühle einzelner zu verletzen.
Zentrum für Politische Schönheit: Nicht Verursacher
Eine Randnotiz: Mir stößt die oben so genannte "Analogie Mauertote=Schlepperopfer" auf. Die Schlepper sind Folgen oder Profiteure des Systems der europäischen Abschottung, nicht seine Verursacher. Die Toten an den Grenzen Europas sind nicht die Opfer der Schlepper, sondern ebenjener Abschottung. Das muss man doch bitte sauber auseinanderhalten.
Zentrum für Politische Schönheit: Haltung?
Was wollen die Protestanten und Aktionskünstler eigentlich? Man kann mit Recht vieles fordern: mehr legale Einwanderung, schnellere Verfahren, bessere Unterbringung ... Aber wer die Abschottung der EU-Grenze mit der Mauer vergleicht: Was will der? Grenzen einreißen? Alle können kommen? Das nervt an dieser Aktionskunst: Der eigene Standpunkt - falls es ihn gibt - wird zur Unkenntlichkeit wegästhetisiert. Man will ja nur "provozieren", "Aufmerksamkeit schaffen" - als ob es die nicht längst gibt. Und darüber hinaus? Irgendeine Haltung? Solche Aktionen sind nicht mutig oder radikal. Sondern eitel und denkfaul.
Zentrum für Politische Schönheit: Sympathie
Liebe Esther Boldt,

das bekümmert mich schon, denn auch die Schlepper sind ursächlich an dem Tod vieler verantwortlich. Aber da draußen in Afrika liegt nicht eine "DDR". Und Europa wird kaum in der Lage sein einen ganzen Kontinent zu integrieren. Migration ist eben nicht die Lösung.

Trotzdem hat die Aktion meine volle Symphatie, eben weil sie nicht auf eine historische Analyse setzt und man überlegt sich ernsthaft, ob man morgen nicht einmal einfach das Gorki besucht.
Zentrum für politische Schönheit: Aktion trifft
@Autor

Es reicht ja vielleicht, wenn sich durch die Aktion Leute mal bewusst werden, was an den Grenzen passiert. Es ist allzu menschlich inmitten der tagtäglichen Katastrophenmeldungen ( ISIS, Ukraine, Irak) etwas weniger an die ein oder andere Abscheulichkeit auf der Welt zu denken. Es ist bitter, vielleicht sogar hart auf genau diese Weise darauf aufmerksam zu machen. Aber wie auch im Theater gilt auch hier: Macht's man zu klein, zu einfach und zu vorhersehbar, ist es unangemessen, gar langweilig. Greift man zu plakativeren oder eher radikalen Mitteln, fragt man: Was wollen die überhaupt? Was soll das?...ich finde die Aktion trifft ihr Vorhaben ziemlich genau!
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