Blog - "Unter"? Formulierungshilfe für Intendanzen
Neben Nullen?
6. November 2014.Es gibt diesen unangenehmen Moment, wenn man zum Beispiel am Ende einer Meldung den Lebenslauf einer Theatergröße skizzieren will. Da landet man immer schnell bei Formulierungen wie: "Seine Karriere begann an den Kammerspielen unter Baumbauer." Oder: "Ihre größten Erfolge feierte sie unter Langhoff am Deutschen Theater".
Jawohl, Herr General!
Unter. "Unter" klingt immer ein bisschen so, als wäre man Vizepräsident unter Eisenhower gewesen oder hätte gar als Fußsoldat unter ihm gedient (als er noch General war). Ober sticht Unter, Untergebener hört auf Oberbefehlshaber. So kann man doch nicht schreiben, solche Formulierungen stammen doch aus anachronistischen Zeiten und Verhältnissen! Oder?
Heute werden Unternehmen ja anders geführt. Heute gibt es Personalentwicklung, Teambuilding und Massage am Arbeitsplatz. Deshalb steht auch unter den Organigrammen von großen Firmen tatsächlich (damit ja keiner auf den absurden Gedanken kommt, es gäbe einen Unterschied zwischen den wenigen oben und den vielen unten): "Organisation chart shows reporting lines and not levels of hierarchy."
Ein bisschen Rapport
Eben. Und das trifft bestimmt genauso aufs Theater zu. Es gibt doch längst keinerlei Hierarchie mehr an Theatern, keiner spielt oder inszeniert mehr "unter" einem Intendanten. Man muss vielleicht mal Bericht erstatten. Oder sich ein bisschen rechtfertigen. Gelegentlich Rapport abgeben. Erklären, was man sich verdammt nochmal dabei gedacht hat. Was zum Teufel man da verzapft hat. Aber über solche Sachen kann man inzwischen eben ganz hierarchielos sprechen! Ja, man kann sich dabei sogar duzen, du Null!
Huch, könnte es etwa sein, dass dieses "unter" die herrschenden Zustände unfreiwillig doch ganz gut auf den Punkt bringt? Denn so ganz realitätsnah klingt folgendes ja auch nicht: "In ihre Zeit als große Schauspielerin an der Volksbühne fiel auch die Intendanz von Frank Castorf." Oder: "Er brillierte am Deutschen Schauspielhaus, als Karin Beier neben ihm Intendantin des war."
Also, liebe Theater, tut doch da mal was. Damit wir das besser formulieren können.
Aber jetzt bloß nicht mit Massage-Stunden anfangen!
(mw)
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Bei Castorf, bei Beier.
Und wiese alle heißen.
Ein seltsam realitätsfremder Artikel
Marcel Reich-Ranicki schrieb ein Buch über Brecht mit dem Titel "Ungeheuer oben". Und die zentrale Figur in Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands" ist sich ebenfalls bewusst, dass er sich als Proletarier zwar bilden muss, um sich seiner Lage bewusst zu werden, dass es zugleich aber eben doch immer Brecht ist, dem am Ende alles zugute kommt. Auch finanziell gesehen. Die Frage ist also, bis wohin das von der "Literatur-Theater-Fabrik-Belegschaft" akzeptiert wird und warum:
"Geleitet von Brechts Souveränität, die nie einen Zweifel daran ließ, daß er es war, dem alles, was in seiner Werkstatt erzeugt wurde, zugute kam, verblieb ich, trotz scheinbarer Selbstverantwortlichkeit, eine Art Angestellter, doch ohne befragt zu werden, wovon ich eigentlich lebte. Über das Unbefriedigende der Situation half mir die Vorstellung hinweg, daß ich am Bau eines Werks teilnahm, das auch mein eignes war."