Fieberfantasie eines sterbenden Dichters

von Christian Rakow

Berlin, 8. November 2014. Als er 27 Jahre alt war und bereits Schriftsteller, änderte der Italiener Kurt Erich Suckert (1898–1957), Sohn eines Textilingenieurs aus Zittau/Sachsen, seinen Namen in Curzio Malaparte, mit Anklang an Bonaparte, so wie einer, der nicht Gutfried heißen will, sondern Bösefried, weil er lieber von der dunklen Seite des Lebens kostet.

Und Malaparte hat sie ausgiebig gekostet: als Mitglied der faschistischen Partei unter Mussolini, zeitweise in Ungnade gefallen und inhaftiert, dann wieder protegiert. Als Kriegsberichterstatter reiste er an die Ostfront und ging bei Nazigrößen wie dem Generalgouverneur im besetzten Polen Hans Frank ein und aus. Seine Erfahrungen sind in dem gut 550seitigen Kriegsroman "Kaputt" (1944) verarbeitet. Ein Welterfolg. Am Ende seines Lebens wandte sich Malaparte dem Kommunismus zu und vermachte sein Anwesen auf Capri der maoistischen Volksrepublik China.

Knackige Bonmots, Festgelage & Pogrome

Das Wort "kaputt", so lernt man in dem Roman, stammt aus dem Hebräischen von "Kapparoth" und heißt so viel wie Opfer. Und das Opfer, um das es in diesem zweiten Weltkrieg gehe, sei das des deutschen Siegfried, des scheinbar unbezwingbaren Helden, der Angst vor niemandem hat, nur vor den Schwachen und Kranken. Kein Wunder, dass Frank Castorf, der Spezialist fürs Kaputte, der jüngst Wagners "Ring des Nibelungen" samt Siegfried am Grünen Hügel Bayreuths als bewährter Störenfried anrichtete, nun beim Bösefried Malaparte gelandet ist. Mit Célines Reise ans Ende der Nacht hatte er in München auch grad einen Autor aus dem rechten Friedhofseck am Wickel.

kaputt4 560 thomas aurin hUnbezwingbare Helden? © Thomas Aurin

In "Kaputt" tourt Malaparte als Ich-Erzähler in eigener Sache zu alten und neuen Feudalhöfen, zu abgewirtschafteten Aristokraten und zur neuen adelig auftretenden Nazioberschicht. Wobei er die leutselig zynischen Gespräche auf den Festgelagen regelmäßig wie in einem Novellenzyklus durch schockierende Fronterzählungen konterkariert und durch Gräuelberichte wie dem vom Pogrom an den Juden von Jassy (Rumänien). Und während er hier beklemmend nahansichtig den Tod einfängt, geriert er sich vor den Nazioberen als hintersinnig kritisches Enfant terrible mit einem Faible für knackige Bonmots: "In gewissem Sinne wäre ein mit einem Paar richtiger deutscher Fäuste begabter Christus nicht sehr verschieden von Himmler."

Solche Sprüche und manche schon im Roman angelegte Groteske reizt Castorf wie gewohnt weidlich aus, egal ob es um Himmler beim Saunabesuch geht, oder Max Schmelings Darmkolik als Durchfall auf dem Blecheimer zelebriert wird. Aber die eitle Selbstfeier als Narr am Hofe der Mächtigen lässt Castorf Malaparte denn doch nicht durchgehen. Mit Mex Schlüpfer stellt er ihm schon eingangs einen famos garstigen Biographen an die Seite, der in Malapartes Nachkriegsleben bis zum Tumor-Tod stochert ("Er hatte den Teufel im Leib."). Unter Hinzuziehung des Malaparte-Romans "Die Haut" (1949), der die US-Besatzung in Neapel als Sodom & Gomorrha ausmalt, wird in die Historie zurückgeblendet. Dann weiter zurück. Man vernimmt Anspielungen auf die Avantgarde-Literatur der Zwischenkriegszeit (die wie Malaparte selbst nicht unwesentlich dem Faschismus zusprach) und hört vom Leiden der Jünglinge, die die Schützengräben geboren haben.

Memory-Spiel für Gelehrte in Bösefrieds Böseburg

Nach gut einer halben Stunde tritt einer dieser Jünglinge, noch immer mit blutverschmiertem Gesicht, in neuer Machtposition auf: Patrick Güldenberg als Hans Frank, mit versonnenem, aber scharf aufloderndem Antlitz. Man ist im Kriegssetting von "Kaputt" angekommen. Jeanne Balibar gibt Malaparte als diabolischen Hermaphroditen mit Oberlippenbart und französischem Akzent (wenngleich natürlich mehrere Spieler hin und wieder die Malaparte-Rolle übernehmen). Je länger der Abend, desto radikaler, zerrissener, explosiver spielt sie auf, gern auch im intimen Doppel mit gefallenen Frauen: Margarita Breitkreiz (u.a. mit krachendem Russisch) und Britta Hammelstein (u.a. als Nixe im knöcheltiefen Swimmingpool).

kaputt2 560 thomas aurin hEinchecken in alte und neue Feudalhöfe  © Thomas Aurin

Wie eine Fieberphantasie des sterbenden Dichters ist dieses Stück angelegt. Es kreist von den Nachkriegsjahren in die Kriegszeit und zurück. Fast durchweg bleibt die Bühne finster ausgeleuchtet wie ein Bergwerk mit teerschwarzen Quadern im giftgelb ausgeschlagenen Rund. Bösefrieds Böseburg. Das Geschehen spielt meist in einer schwarzen Wellblechhütte, innen gülden dekoriert. Man verfolgt es via Livevideo auf einer bewährt grobkörnigen Leinwand. Man verfolgt und leidet es, nicht weil alles enervierend flimmert, die Schnitte so wild hin und her wechseln, dass überhaupt nicht auffällt, dass Georg Friedrich mit gebrochenem Ellenbogen (vom Unfall in der Generalprobe) unter seinem gewohnten Aktionsradius mitmischt. Auch nicht, weil Castorfs notorische Zermürbungsdramaturgie hier unbarmherzig wie lange nicht zuschlägt. Nach zehn Minuten finden Szenen ihren Punkt, nach fünfzehn verlieren sie ihn wieder, nach zwanzig dauern sie noch immer. Wer grad noch ein ukrainischer Mechaniker war, ist jetzt schon Adliger in Stockholm. Alles fließt. Das Stück wird zum Memory-Spiel für Gelehrte, ohne Buch- oder besser gleich Gesamtwerkkenntnis Malapartes dürfte der Genuss gen Null tendieren.

Verherrlichung des ewig Bestialischen

Nein, das alles wäre nicht schlimm, wenn der sechsstündige Abend nur einen Funken mehr abwerfen würde als die schlichte Einsicht, dass Menschen niederträchtig, böse und gewalttätig sind. Was sicher richtig ist, wenn man allein auf den Ausnahmezustand schaut und den Krieg zum Vater aller Dinge erhebt. Noch die Befreier aus den USA erscheinen Malaparte in all der Prostitution als Verlängerung des humanen Desasters, das sich an den Weltkriegsfronten darbot. Castorf setzt ihm da nichts entgegen, stellt alles vielmehr neutral als radikale Künstlerfantasie mit Provo-Appeal hin. Apokalyptiker haben noch immer ästhetischen Mehrwert abgeworfen. Ihre Verherrlichung des ewig Bestialischen bürgt für Schaudern.

Dabei ist Castorfs Ästhetisierung des Falls Malaparte selbst Ausdruck einer gänzlich anderen Epoche. 1955 rollten US-Panzer auf West-Berlin zu, in dem launigen Musikfilm "Liebe, Tanz und 1000 Schlager". Und hinter ihnen fuhr ein bunter Tour-Bus mit dem italienischen Allroundtalent Caterina Valente, dem smarten österreichischen Sänger Peter Alexander und einer ganzen Reihe US-Jazzmusiker, Stepptänzer und weiterer Artisten neuen Typus an Bord. Es ist der Auftakt des Pop in Deutschland, des schillernden Spiels mit Zeichen und variablen kulturellen Codes. Ganz sicher eine unheroische Zeit, aber keine finstere.

 

Kaputt. Tour de force européenne
nach Curzio Malaparte
Regie: Frank Castorf, Bühne und Kostüme: Bert Neumann, Licht: Lothar Baumgarte, Kamera: Andreas Deinert, Mathias Klütz, Video-Schnitt: Jens Crull, Ton: Wolfgang Urzendowsky, Christopher von Nathusius, Ton-Angel: William Minke, Dramaturgie: Sebastian Kaiser.
Mit: Jeanne Balibar, Margarita Breitkreiz, Bärbel Bolle, Frank Büttner, Georg Friedrich, Patrick Güldenberg, Britta Hammelstein, Horst Günter Marx, Mex Schlüpfer, Axel Wandtke und Harald Warmbrunn.
Dauer: 6 Stunde, eine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

In der Frankfurter Allgemeinen (10.11.2014) konstatiert Irene Bazinger: "Ob es um Massaker an Juden geht oder die Schönheit deutscher Frauen, um Havanna-Zigarren oder Wehrmachtsbordelle, um Max Schmeling oder Friedrich Hölderlin, immer lautet die Devise: Auf sie mit Gebrüll! Im Container tobt auf engem Raum das pralle Leben, im Zuschauersaal überwiegt Erschöpfung und Resignation." Penetrant dräue "Kunstnebel in die bizarren Szenerien, doch von Kunst kann trotzdem keine Rede sein." Mit Kaputt habe sich "Frank Castorf gehörig verhoben – was angesichts des zwiespältigen Romans eigentlich auch ganz gut ist."

"Erzählökonomie sei Castorfs Sache nicht", meint Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (10.11.2014). "Und so gibt es auch an diesem Abend von allem: zu viel." Castorf schaue "sich die Welt von unten an, von ihrer schlechten Seite. Und sucht dort nach Menschlichkeit. Irgendwann lichten sich die Reihen. Die Schauspieler haben ihren Ekel herausgeschrien und sind heiser. Es wird still im Saal. Auf der Bühne fragen sich die kriegsversehrten Figuren, was das eigentlich ist, der Mensch. Der Zuschauer findet keine Antwort."

"Die Leinwand leuchtet, die Bühne dreht Säulentorsi im Kreis, die Schauspieler rudern durch die Textmassen: Innen glüht leer laufendes Virtuosentum, außen herrscht Finsternis. So krachend dualistisch ging es bei Castorf lange nicht zu", schreibt Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau und Berliner Zeitung (10.11.2014). "Und so simpel botschaftsorientiert auch nicht." Castorf schmecke "das berühmte Paradox durch, dass die Geschichte sich zwar nie wiederholt, in ihr aber immer das Gleiche geschieht. Und er hat eine handfeste Erklärung: weil der Mensch sehr böse und sehr verkommen ist. Auf dieser Basis lässt sich hervorragend schulmeistern." "Kaputt" sei "Frontalunterricht in Menschen- und Geschichtskunde. Außer Nicken, Einschlafen oder Davonlaufen sieht der Volksbelehrungsabend keine Zuschauerreaktion vor."

Peter von Becker vom Tagesspiegel (10.11.2014) hat tatsächlich "Inseln der Spannung" entdeckt, allerdings "in einem Meer von Langeweile". Zudem beklagt er, dass Jeanne Balibar leider "fast nur sentimental" erscheine: "Die französische Actrice markiert den vermutlich bisexuellen Malaparte zwar mit romanischer Grazie, aber oft auch in einem hohen Jammerton. Das Monströse, zwielichtig Spannende der Figur wird da unfreiwillig verkitscht. Castorf, wenn er nicht gerade hysterisch brüllen und zappeln lässt, versüßt und versülzt, was Malaparte als letzte Tage der europäischen Menschheit beschwört. Und am Ende geht die sonst völlig textlastige, undramatische Aufführung buchstäblich baden, apokalyptisch geflutete Leiber und Schreier, doch die Sintflut ist bloß knöcheltief."

Schon Bert Neumanns Bühne sei diesmal "unterkomplex ausgefallen", meinte André Mumot auf Deutschlandradio Kultur (9.11.2014). Die Auffürung selbst kämpfe "sich matt durch eine Szene nach der anderen, bewegt sich schleppend durch die titelgebende 'Tour de force européenne' (…), an der die Zuschauer aber nie wirklich teilnehmen können." Man erlebe eine "verkrampfte, verbissen trostlose Geschichtsstunde, die das, was sie über die Verworfenheit des Menschen zu sagen hätte, nicht über die Rampe bringt, während sie nicht aufhört, zu schwatzen, zu salbadern, zu fuchteln, zu schimpfen, zu jammern und zu greinen."

Angst sei, so meint Jan Küveler in der Welt (10.11.2014) "das zentrale Motiv des Abends", der "ein sechsstündiger Nervenkrieg" sei, ein "Potpourri aus Szenen des Kriegs wie eine defätistische 'Mutter Courage'". Irgendwann heiße es "in den sechs Stunden voller Mitleid und Mitleidverachtung: '"Kaputt' ist die Metamorphose von Siegfried zum Opfer." Das ist Castorfs metaphysische Hypothese, die Geburt des Antisemitismus aus dem Geist des Selbsthasses."

Der Roman "Kaputt" wirke wie der Stachel in aller Erinnerungsseligkeit, schreibt Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (11.11.2014): "Die Geschichte tritt hier vor allem als Gemetzel auf." Castorf klebe der Vorlage an den Lippen. "Der Abend will so eine Gesamtstimmungslage moralischer Richtungslosigkeit erschaffen: Wir sollen den Krieg fühlen, die Gewalt schmecken." Dabei mutiere die Inszenierung zur zähen Volksbelehrung: "Der Mensch ist schlecht, das (deutsche) Volk krank. Für sechs Stunden Theater ist das dann doch etwas wenig – und gibt der alten Vermutung recht, dass die Bühne als blosse Botschaftsplattform denkbar ungeeignet ist."

"Castorfs Weltverwünschungsorgie hinterlässt ein atmosphärisches Vakuum, sie stimuliert eine apokalyptische Naherwartung, das Warten auf das einschneidende Ereignis", das "alles Mögliche sein" könne, "irgendetwas Mythisches und Charismatisches, Hauptsache, es stürzt den Sieger der Geschichte in den Staub", schreibt Thomas Assheuer einlässlich und lang in der Zeit (13.11.2014). Der hier gemeinte Sieger der Geschichte ist der amerikanische Liberalismus, der bei Castorf/Malaparte nah an den Faschismus gerückt werde. "Kaputt ist das Weltkriegseuropa, und kaputt ist Europa heute. Verwüstet nicht von den Nazis, sondern vom Westen, von Amerikanern, Liberalen und Abzockern mit Dollarzeichen in den Augen." Bei Castorf im "schwarzem Weltcontainer sind die Ideologien so austauschbar wie Max Schmelings Boxhandschuhe, mal kleben die Stars and Stripes drauf, mal irgendein anderes Abzeichen, es scheint völlig egal."

Kommentare  
Kaputt, Berlin: Die Angst und das Elend
Hygienische Verachtung

Castorf macht "Kaputt" an der Berliner Volksbühne

Curzio Malaparte wünscht einen spielbaren Tod. Der Autor verspricht sich allerhand von der Agonie. „Das ist nicht Passives“, sagt er. „Das ist der Kampf des Lebens gegen den Tod.“

Jeanne Balibar spielt in Frank Castorfs Auffassung von Malapartes Roman „Kaputt“ den Berühmten. Sie zeigt ein zwischen Obsession und Luzidität irrlichtendes Super-Ego. Malaparte weiß, dass man ihm „einen strengeren Tod wünscht“, als jener, der auf ihn wartet. Der sterbende Schriftsteller lässt ein Tonband kommen und versagt in der Handhabung. Als Chronist des eigenen Todes ist er nicht auf der Höhe.

Castorfs Inszenierung ist eine lange Erzählung mit viel Kino und auch genug Theater. Immer wieder wird ein indirektes (übertragenes) Spiel unterbrochen für Action directe am Bühnenrand des europäischen Wahnsinns. Rommel erscheint wie ein anderer Sepp Herberger: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Über einer Pfütze schwebt ein Waggon, er lässt an Modalitäten des Waffenstillstands von Compiègne denken. Malaparte geht dem Krieg auf den Grund, er spricht mit seinen Fürsten in einem gesprengten Führerbunker, der sich zu römischen Ruinen mausert. Gertrude Stein kommt mit einer Bemerkung ins Spiel, Malaparte weiß: „Die Jugend wählt immer den leichtesten Weg der Auflehnung.“ Man sieht einen Wald vor lauter Leichen nicht, die Leichen leben an Kreuzen, sie verlangen ihren Tod, der nach Malaparte mit nichts Schluss macht. Die Versager von vorher werden als Gestorbene weiter versagen. Der Tod birgt weder Trost noch Gnade.

Hans Frank (Patrick Güldenberg), der „Judenschlächter von Krakau“, äußert sich über den „angeborenen Schmutz“ der Judenkinder. Malaparte begegnet ihm gut erzogen und mit cupiertem Sarkasmus. Er hat eine Schwäche für Sieger und im Augenblick sehen die Deutschen so aus.

Jemand empfiehlt eine Seife aus Mist. Ihr einziger Nachtteil, sie riecht nach ihrem Material. Ist das lustig? Meine Nachbarn lachen nicht. Aber hinter mir geht was in Richtung Freude am Spiel. Im Augenblick warten alle auf Max Schmeling. Er hängt noch über Kreta am Fallschirm.

Das Stück zaubert Wörter aus den alten Hüten deutscher Albträume. Eine Junkers 52 kreidet den Himmel über Berlin an. Sie wird mit ihrem Spitznamen „die gute alte Tante Ju“ begrüßt.

Frank Büttner spielt Max Schmeling, so wie er nach dem Krieg auftrat. Die Nazis hätten lieber mehr Glanz für das Regime aus Schmeling gezogen. Endlich mochten sie ihn nicht mehr. Schmeling gesteht Darmkrämpfe, er bietet sich Malaparte als Geschlagener an. Er muss nicht in jeder Lage nach Einsichten und Erkenntnissen angeln, so wie der nervöse Italiener, der gar kein richtiger Italiener ist: „I am proud to be a bastard!“.

1942/43 betrieb Malaparte literarischen Journalismus auf den Kriegsschauplätzen der Achsenmächte. Er war akkreditiert wie ein Diplomat, ein Freund geistig solventer Faschisten. Seine Reportagen für den Corriere della Sera dienten „Kaputt“ als Fundus.

Der Schriftsteller erinnert sich an eine Genese, während er den Geist aufgibt. Er bleibt unversöhnlich, das macht den Reiz der Aufführung. Dass sie nie knieweich wird, auch wenn sie die Geduld des Zuschauers strapaziert. Ich lasse mich durch Längen schleifen, zu schön ist der Abgrund Europa in den besten Momenten auf die Bühne gemalt.

Ein Panzer fährt auf. Malaparte, einst Parteigänger Mussolinis, wipfelt in der Larmoyanz: „Ich habe deutsche Soldaten in allen Städten Europas gesehen, aber ich will sie nicht in Paris sehen.“ Ja, der große Halbitaliener hat seine Empfindlichkeiten, Pogrome in Polen gehen ihm nicht genauso unter die Haut.

„Die Ideen sind die großen Menschheitsverderber“, behauptet Louis Ferdinand Celiné, auch er ein Borderliner der Geschichte. Malaparte attestiert die Krankheit der Deutschen. Sie bestünde in Angst vor Schwäche. Sie lungern zwischen Luger und Beluga herum solange sie die Sieger sind. Dann geht das Saallicht an, es wird nie wieder richtig dunkel werden in dieser Nacht der Menschheit an der Volksbühne.

Malaparte zelebriert die „Stunde des Cognacs“ gemeinsam mit Himmler. Er geht mit Himmler in die Sauna und nennt das einen Akt „hygienischer Verachtung“.

Himmler gewinnt im direkten Umgang, während die überseeischen Sieger in Neapel sich schließlich nur Blößen geben. Malaparte beschreibt seine Stadt als einzige Überlebende des Altertums. Nun wird sie „von amerikanischer Leichtfertigkeit geschändet“. Georg Friedrich spielt den US-Offizier im Furor totaler Überlegenheit. Er befasst sich mit Malapartes Arsch, er kann sich auf nichts Geistiges konzentrieren. Malaparte verliert die Geduld, ist am Ende seiner Kräfte: „Alles, was menschlich ist, ist schmutzig und feige. Es gibt nichts Widerwärtigeres, als den Menschen in seinem Glanz.“

Für seine Agonie hat er sich ein goldenes Kleid gekauft, Benito oder Mao, es bleibt alles eitel. Nur Christus könnte helfen. Das Kleid steht dem Sterbenden. Als Mancher schon gegangen, sagt Malaparte noch: „Die Angst und das Elend sind wunderbare Dinge. Sie haben einen höheren Wert als das Glück.“
Kaputt, Berlin: der Zuschauer gehört auch zum Theater
Selten habe ich mich derartig gelangweilt, schon vor der Pause mit dem Schlaf gekämpft. Selten habe ich mich derartig wenig gemeint gefühlt. Theater, das ist nicht nur Regie und Schauspiel. Zuschauer gehören unbedingt auch dazu. Aber warum interessiert sich Castorf einfach überhaupt nicht für uns?
Kaputt, Berlin: Eintopf Apokalypse
Es ist geradezu erschreckend, wie wenig dieser Tanz auf dem Vulkan, dieses irrwitzige europäische Leben, an diesem langen Abend zu sagen hat, an dem Castorf ermüdungs- und Auswalzungstaktik viel zu schnell zum Selbstzweck gerät. Güldenberg ist vielleicht die Entdeckung des Abends, Büttner und Schlüpfer die üblichen Castorf-Berserker, Britta Hammelstein eine Furie des Untergangs und Margarita Breitkreiz eine Entsetzen bringende Visionärin der Apokalypse. Retten können sie diesen Abend nicht. Dabei gelingt es Castorf durchaus, die verschiedenen Handlungsfetzen sich ineinander auflösen, die Figuren mitten im Satz Schauplatz und Identität wechseln zu lassen, nur fehlt all dem eben jegliches Ziel, ist dem Zuschauer dieser Eintopf hausgemachter Apokalypse zunehmend egal, weil er der Regie merklich egal ist. Am Ende beobachten wir einen Regisseur, dabei, wie er eitel sein selbstentwickeltes Instrumentarium ausstellt, mit kindischem trotz den Zuschauer auch dann noch quält, wenn ihm beim besten Willen nichts mehr einfällt und das Anarcho-Label wie ein Schild mit ausgestrecktem Mittelfinger vor sich herträgt. Am Ende fehlen sechs Stunden ersatzlos vergeudete Lebenszeit.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/11/09/eine-darmkolik-namens-europa/
Kaputt, Berlin: Jubel wie in Nordkorea
Im Schnitt gibt es einen Einfall pro Stunde. Also sechs am ganzen Abend. Kaum einer weist über das Niveau hinaus, zB. Frauen in Unterwäsche in ein Wasserbecken zu stellen und Text aufsagen zu lassen. Das muss dann über die nächste Stunde tragen, manchmal auch länger. Und dann kommt das nächste tausendmal gesehene Klischee. Entsprechend unberührend bleibt das ganze, da helfen auch die musikalische und bildhafte Schwülstigkeit nicht weiter. Erstaunlich bei all dem allerdings die Beifallseligkeit der Volksbühnen-Zuschauer, die das ganze zuverlässig mit Ovationen bedenken als wären sie auf einem nordkoreanischen Parteitag. Kann es sein, dass die Zeit, als an diesem Ort auf originelle Weise nachgedacht wurde, unwiderruflich vorbei ist? Die einst subversive Volksbühne scheint endgültig zum geistlosen Affirmationsverein verkommen zu sein.
Kaputt, Berlin: Wann kommt der Wechsel?
Die Volksbühne wird doch von Castorf nur noch für Fingerübungen benutzt. Die können allerdings auch mal etwas länger dauern. Wann kommt endlich der Wechsel? Wann ist endlich die Castorf, Peymann, Ostermeier Starre in Berlin beendet?
Kaputt, Berlin: Theaterkoma
Herr Castorf hat da etwas ganz Grundsätzliches missverstanden. Langweilige Videoabende auf You Tube verbringt man in der Regel mit sich alleine. Man lädt sich dazu keine Freunde ein und schon gar nicht die ganze Gemeinde. Installiert man ein miserabeles Hörspiel in einem grotigen Container, dass man leidenschafftlich und permanent falsch bebildert, dann verschickt man einen Link über seine Mailbox zu einem Livestream. Es tut nicht Not ganze Zuschauerräume hierzu in ein gelbes Elend zu versetzen, in dem das Publikum in ein vergeistertes Theaterkoma hineingezwungen wird. Und so sind der eigentliche Skandal an diesem Abend die Zuschauer, die sich das wohlfeil und eitel gefallen lassen. Mehrheitlich junge Menschen an diesem Abend, die offensichtlich der Meinung waren, sie hätten noch genügend Lebenszeit zu zersitzen, um einen Abend am Ende auch noch gut zufinden. Bigotte Spießer, die mit einer reaktionären Langmut einen Abend abhangen, um zum Schluss dem Meister, unter dem Abspielen eines schmissigen Songs, Beifall spendeten. Ich habe noch nie gehört, das Senf im Kühlschrank schimmel kann. Hier war es möglich. Ein Regisseur, der uns nichts mehr zu sagen hat und nicht mehr weiß, was er tut, dies aber sechs Stunden lang. Nach wenigen Minuten war der falsche Grundton gefunden und wurde durchgehalten. Nach zwanzig Minuten hätte man auch jeden anderen Roman als Blechbüchse um das castorfsche Sprechfleisch wickeln können, es wäre kaum aufgefallen. Ich verbeuge mich tief vor einigen Schauspielern, darunter die wunderbare Margarita Breitkreiz, die mir schon einen Schauer über den Rücken laufen lässt, wenn sie mir nur zufällig auf der Straße begegnet und die ganz groß ist vor der Kamera, nicht aber vor diesen gierigen Pornolinsen, die man hier um sie aufbaute.
Kaputt, Berlin: Gequatsche
"Das Gequatsche allerdings schien endlos, ja, es hörte und hörte einfach nicht mehr auf..."

https://www.freitag.de/autoren/andre-sokolowski/kaputt
Kaputt, Berlin: Fragen an den Dramaturgen
Sehr geehrter Herr Kaiser,

als Dramaturg der Produktion „Kaputt“ schreiben Sie im Ankündigungstext, der auf der Internetseite der Volksbühne zu finden ist: „Wir sollten uns bewusst machen, dass […] wir anderen Minderheiten, mit denen wir uns so gern etwa im Ausland solidarisieren und die sich gegen die jeweiligen Autokraten und eigene Benachteiligung auflehnen, nur dann wirklich in einem emanzipatorischen Anspruch ähneln, wenn wir uns selbst bei uns zu Hause zu einer Minderheit machen und visionäre künstlerische und politische Streiche entfachen, die nicht einfach unsere moralisch-ökonomische Hegemonie und unsere Mehrheitsmeinung reproduzieren.“

Eine kurze Frage: Von welchem „wir“ sprechen Sie hier? Ist es das „wir“ der Castorfschen Volksbühne, die sich mit einem Abend wie „Kaputt“ in künstlerischer und politischer Vision den minderheitlichen Emanzipationsbewegungen ähnlich machen will? Das riecht mir so doch sehr nach unverschämter Selbstbeweihräucherung – angesichts eines Theaterabends, der sich in seinen hinlänglich bekannten Theatermitteln selbst zu genügen scheint. (Ein anderes Wort für Minderheit wäre Elite und erschiene mir in Ihrem Falle angemessener, auch wenn es nicht so schön nach Subversion klingt.)

Und selbst wenn Sie die Kritik sicherlich bereits kennen und mit einer Haltung als „enfant terrible“ bzw. „senior terrible“ abwehren können, erklären Sie mir, wie Sie Ihrem eigenen Anspruch gerecht werden wollen – oder ist auch das nur ein ironisch gemeinter 'Streich'?: „Gebt allen Menschen die Möglichkeit, an den geistigen Gütern der Menschheit teilzunehmen, schließt ihnen das Reich der Kunst, der Schönheit und Harmonie auf, füllt ihr Ohr mit Klängen, ihr Auge mit Bildern, ihre Gedanken mit Fragen, Zweifeln und Lösungen, erschüttert sie, macht sie weinen um Großes, laßt sie lachen, macht ihr Leben reich und weit und frei durch die Kunst!“

Wenn ein Abend wie „Kaputt“ Ihr ernstgemeinter Beitrag zum „Bau von Volkskunsthäusern“ ist, würde ich gerne meine Hilfe zum Abriss anbieten.

Mit freundlichen Grüßen
Michael Isenberg
Kaputt, Berlin: der Jubel der Jüngeren
Lieber Herr Baucks, was ist denn verkehrt daran, wenn sich "mehrheitlich junge" Menschen an den Inszenierungen eines Castorf erfreuen? Die Hochzeiten in den 90ern durften sie ja nicht miterleben. Es ist doch schön, wenn sie jetzt daran teilhaben können und Spieler/innen wie Breitkreiz, Rois, Scheer, Friedrich, Angerer etc. bejubeln können. Lieben Gruß, Marcos
Kaputt, Berlin: eigene Kenntlichkeit suchen
Lieber Marcos, man kann heute die Neunziger nicht mehr sichtbar machen, suchen sie nach einer eigenen Kenntlichkeit . Meine Kritik ging auch nicht gegen die Jüngeren, sondern gegen die reaktionäre Langmut der Betrachtung.
Kaputt, Berlin: warum nur noch kaputte Themen?
@ Marcos: Junge Menschen, welche Castorf in einer Haltung unkritischer Hipness bloß "bejubeln", brauchen wir nicht. Denn sie können ja tatsächlich nicht wissen, wie luxusübersättigt und zynisch das Castorf-Theater seit den 90ern größtenteils geworden ist. Warum zum Beispiel widmet sich Castorf jetzt hauptsächlich nur noch dem Kaputten, Kranken, Bösen, Hässlichen usw.? Ich persönlich möchte mich nicht sechs Stunden mit der "totalen Entmenschlichung und Zerstörung des Planeten" auf der Theaterbühne beschäftigen, wenn ich das auch in fünf Minuten vor dem nächstgelegenen Lidl-Markt erleben kann: Eine "kaputte" junge Frau, welche sich scheinbar in einen Hund verwandelte. Wirklich wahr.
Kaputt, Berlin: ein Erlebnis, jetzt gekürzt, aber immer noch zu lang
Heute war die Inszenierung gekürzt worden (nach 2:10Min war Pause!), Marc Hosemann spielte für Georg Friedrich. Ich war angenehm überrascht, fand ich die erste Hälfte sehr gut! Toll gespielt, Videoeinsatz störte mich gar nicht (bin kein häufiger Castorf-Gänger), eine Atmosphäre wurde geschaffen, die mich fesselte.

Leider war das Parkett zu ca. 1/4 gefüllt, nach bereits einer Stunde verließen Zuschauer die Vorstellung und die Reihen lichteten sich bis 22:30Uhr immer mehr. Dann musste ich auch gehen (muss morgen früh raus).

Danke, Herr Castorf, für solch ein Theatererlebnis. Auch, wenn der Abend insgesamt immernoch zu lang erscheint.
Kaputt, Berlin: Verzögerung
Kam mein Post nicht an?

(Sehr geehrte/r S.K., die Arbeit an den frischen Nachtkritiken in der Frühe sorgt gelegentlich für Verzögerungen bei der Freischaltung der nächtens eingegangenen Kommentare. Mit besten Grüßen aus der Redaktion, Christian Rakow)
Kaputt, Berlin: Nur noch fünf Stunden
Nach den sehr kritischen Rezensionen zur Premiere nutzte Castorf die vergangene Woche, um das Stück zu straffen und von sechs auf knapp fünf Stunden (inklusive Pause) zu kürzen. Wie üblich erleben wir lange Video-Sessions. Weite Strecken spielen sich hinter der Bühne ab und werden live auf die Leinwand projiziert. Knietief waten die Dialoge, die sich bei Curzio Malapartes Weltkriegs- und Faschismus-Erinnerungs-Wälzer Kaputt (1944) als Text-Steinbruch bedienten, durch ausschweifende Betrachtungen über einen angeblichen Nationalcharakter – wahlweise von Polen, Deutschen und Italienern.

Auch Patrick Güldenberg, der vor einem Jahr aus Zürich nach Berlin wechselte und in der sehenswerten Kinokomödie Wir sind die Neuen als neurotisch-streberhafter Jura-Student zu erleben war, kann den langen Abend nicht mehr retten, obwohl er als Hans Frank, Generalgouverneur im von den Nazis besetzten Polen, die stärksten Szenen einer ansonsten in zu viele Bruchstücke auseinanderberstenden, anstrengenden Inszenierung hat.

Kompletter Text: http://e-politik.de/kulturblog/archives/1379-kaputt-an-der-volksbuehne-castorf-wuehlt-sich-durch-curzio-malapartes-kriegsberichte.html
Kaputt, Berlin: viel besser geworden
Ein wirklich bemerkenswerter Abend. Castorf sollte man nie zur Premiere sehen. Diese, die 5. Aufführung, war nur 5 Stunden lang, inklusive 30 Minuten Pause.
Castorf bleibt anstrengend und das ist auch gut so.
Kaputt, Berlin: Theaterabend des Jahres
Die Inszenierung war eine Glanztat Castorfs - ein sehr ernstes Stück, die Figuren bewegen sich auf einem abstrakten Level, die Realität geht sie an, aber nicht direkt, sie verbrennen eher an der Hitze über dem Feuer als an der Flamme selbst. Und bei all der Abschweifung werden Knotenpunkte gesetzt, in welchem die Emotion klar gebündelt herausbricht, auf das Essentielle - oder das als solches Empfundene - reduziert, und dadurch gewaltig. Für mich einer der besten Theaterabende des Jahres.
Kaputt, Berlin: energy, commitment, passion
I loved this performance. As a visitor from England, it was inspiring to see a director willing to take risks with the length of a production in this way. The energy, commitment and passion of the actors was fantastic, and it felt a privilege to sit through this time with them. The set was original and the use of the camera well-thought-out and economical. I loved the emotional energy of this piece! Well done Herr Castorf and the cast. Wish there was more theatre like this.
Kaputt, Berlin: Freude
seeeehr schöner abend!
sehr intensiv
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