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Berliner Innensenator Henkel greift Gorki Theater wegen Mauerkreuzklau an

Am Opfergedenken versündigt

Berlin, 9. November 2014. Der Innensenator von Berlin Frank Henkel kritisiert die Entwendung von 14 Gedenkkreuzen für die Mauertoten am Reichstagsufer durch das Künstlerkollektiv Zentrum für politische Schönheit (ZPS) aufs schärfste. Er bezeichnet die Aktion in einem kurzen Text für den Berliner Tagesspiegel (9.11.2014) als "verabscheuungswürdige Tat" und greift das Berliner Gorki Theater an, das die Aktion unterstützt habe, auch wenn noch nicht klar sei, in welchem Ausmaß.

Hintergrund: Am Gorki Theater findet vom 7. November bis zum 7. Dezember 2014 das Festival "Voicing Resistance" statt, in dessen Rahmen die Aktion "Erster Europäischer Mauerfall" vom ZPS läuft. Bei dieser wurden Anfang der Woche zunächst die Kreuze entwendet. Die Kreuze hätten, so heißt es in einer Erklärung der ZPS-Gruppe, "kollektiv die Flucht (...) vor den Gedenkfeierlichkeiten zu '25 Jahren Mauerfall' ergriffen". Die Mauertoten seien "in einem Akt der Solidarität zu ihren Brüdern und Schwestern über die Außengrenzen der Europäischen Union geflüchtet". Überdies waren am Freitagnachmittag zwei crowdgefundete Busse mit rund 120 Aktivisten von Berlin aus an die EU-Außengrenze nach Bulgarien aufgebrochen, um dort am 9. November in einem symbolischen Akt den Grenzzaun abzubauen (alles dazu hier). Das ZPS verspricht auf seiner Facebook-Seite (5.11.2014): "Die Kreuze werden mit Sicherheit zurückkehren. Aber am 9. November weilen sie in einem Akt der Solidarität bei den zukünftigen Mauertoten", in der Grenzregion vor der spanischen Exklave Melilla.

"Darf ein Theater Komplize sein, wenn es um die Entehrung von Mauertoten geht? Kann sich eine Intendantin hinter dem Kunstbegriff verstecken, wenn sich am Opfergedenken versündigt wird?", fragt Henkel und gibt darauf die klare Antwort: "Nein." Die Freiheit der Kunst dürfe nicht gegen die unantastbare Würde des Menschen ausgespielt werden. Das Gorki Theater jedoch trete "die Würde der Toten und die Geschichte unserer Stadt so mit Füßen". Die Rolle des Theaters müsse dringend aufgeklärt werden.

Update, 10. November 2014, 22.28 Uhr. Die entwendeten Kreuze befinden sich seit Sonntagabend, 22.30 Uhr, wieder am Reichstagsufer. Das berichtet taz.de (10.11.2014) mit Berufung auf die Berliner Polizei. Nach Beendigung der offiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten zum Mauerfall hätten vier Personen die Kreuze zurückgebracht. Ihre Personalien wurden von der Polizei, die wegen schweren Diebstahls ermittelt, festgestellt.

Update, 12. November 2014, 11:40 Uhr. Das Zentrum für Politische Schönheit stellt laut eigener Pressemitteilung in Reaktion auf den Tagesspiegel-Artikel Strafantrag gegen Innensenator Frank Henkel wegen "übler Nachrede und aller anderen infrage kommenden Delikte" bei der Polizei in Potsdam.

(Tagesspiegel / taz.de / ape / ZPS / chr)

 

Mehr zum Thema:

Im Juli 2014 stellte Sophie Diesselhorst das Zentrum für Politische Schönheit in einem Porträt auf nachtkritk.de vor.

Von den Ereignissen um die Busfahrt an die EU-Außengrenzen berichtete nachtkritik.de-Redakteurin Sophie Diesselhorst von vor Ort – ihre und andere Berichte sind gesammelt im #EUwall-Liveblog.

Sophie Diesselhorsts Kritik der Aktion Erster Europäischer Mauerfall vom 11. November 2014.

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Kommentare  
Senator greift Gorki Theater an: geht zu weit
Gut, dass der Tagesspiegel dem Innensenator diese Plattform gibt, um sich komplett der Lächerlichkeit preiszugeben. Im gleichen Blatt ist zu lesen, dass das Gorki die Aktion generell natürlich unterstütze, nicht jedoch den Teil der Entwendung der Kreuze und von dieser auch keinerlei Kenntniss hatte.
Aber gut, er ist Politiker und hier bietet sich natürlich wieder die Gelegenheit, den Bürgern/Wählern eine Mehrheitsmeinung nicht nur zu suggerieren, sondern jene auch gleichzeitig für sich abzufangen...eigentlich keine Überraschung. Dem Theater jedoch damit Kriminalität zu unterstellen ohne jegliche Beweise zu haben, geht eindeutig zu weit und sollte vielleicht erst recht genauer untersucht werden.
Senator greift Gorki Theater an: andere Bewertung
Mit keinem Wort geht Henkel auf den Inhalt der Aktion ein, nennt sogar die "Würde des Menschen" als Argument. Krass. Einen toten Deutschen scheint er tatsächlich anders zu bewerten als einen toten Afrikaner.
Senator greift Gorki Theater an: Heinrich Böll
Was sie braucht, einzig und allein braucht, ist Material – Freiheit braucht sie nicht, sie ist Freiheit; es kann ihr einer die Freiheit nehmen, sich zu zeigen – Freiheit geben kann ihr keiner; kein Staat, keine Stadt, keine Gesellschaft kann sich etwas darauf einbilden, ihr das zu geben oder gegeben zu haben, was sie von Natur ist: frei.

Gegebene Freiheit ist für sie keine, nur die, die sie hat, ist, oder sich nimmt.

Wenn sie Grenzen überschreitet – nach wessen Meinung ist ganz und gar gleichgültig – wenn sie zu weit geht, dann merkt sie’s schon: Es wird auf sie geschossen. Wie weit sie gehen darf oder hätte gehen dürfen, kann ihr ohnehin vorher niemand sagen, sie muß also zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf, wie weit die ihr gelassene Freiheitsleine reicht. Sie bringt nicht nur, bietet nicht nur, sie ist die einzig erkennbare Erscheinungsform der Freiheit auf dieser Erde.

http://www.zeit.de/1966/40/die-kunst-muss-zu-weit-gehen
Senator greift Gorki Theater an: Solidarität?
Schade. Keine Solidarität der anderen Theater! Muss das Gorki alleine durchstehen... Peymann und Co. machen da weiter, wo sie aufgehört haben - sie machen nur theater!
Senator greift Gorki Theater an: tote Kreuze
Ich wundere mich. Lebende Menschen abschieben darf man, aber tote Kreuze klauen nicht...
Senator greift Gorki Theater an: Vergleich falsch
Bei den Mauertoten hat es sich um Flüchtlinge gehandelt, die den Versuch unternommen haben, aus einem Land herauszukommen, welches ihnen diese Freizügigkeit verwehrt hat. Die Flüchtlinge an den Außengrenzen der Europäischen Union hingegen unternehmen den Versuch, aus ihrem eigenen in fremdes Land hineinzukommen. Ihnen wird also nicht die Ausreise, sondern die Einreise verwehrt. Weshalb der Vergleich dieser Flüchtlinge mit den an der Mauer falsch ist.
Senator greift Gorki Theater an: Vergleich richtig
GESTORBEN wurde und wird an beiden Mauern, wodurch der Vergleich richtig ist!
Senator greift Gorki Theater an: andere Orte
Gestorben wird auch zu Hause im Bett. Oder in autowracke. Oder in Krankenhäusern.
Senator greift Gorki Theater an: alles klar
Reaktionärer geht's nicht...stimmt, weil überall und auf jede erdenkliche Weise Menschen umkommen, ist das Gedenken und die Aufmerksamkeit gegenüber jeglichen Sterbenden hinfällig...alles klar...
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