Ein Märchen über Mut und Mobbing

von Stefan Keim

Gelsenkirchen, 9. November 2014. Lisa fliegen gleich alle Herzen zu. Weil sonst niemand die fast Neunjährige liebt. Dabei ist sie gar nicht besonders schräg, sondern hat nur einfach Pech gehabt. Mit den Eltern, der Schule, eigentlich mit allem. Sibylle Berg hat ihr erstes Kinderstück geschrieben, und es ist ein typisches Berg-Werk geworden. Allerdings hat "Mein ziemlich seltsamer Freund Walter" ein positives Ende. Und das ist dann doch ungewöhnlich für die Autorin.

freund-walter 560a martinmoeller uDie Schule kann ein ziemlich fieser Ort sein: Am Boden Lisa (Charis Nass), drumherum Fabian Staller, Jennifer Münch und Moritz Fleiter @ Martin Möller

In ihren Stücken für den Abendspielplan – die letzte Uraufführung Viel gut essen hatte vor drei Wochen in Köln Premiere – ist Sibylle Berg zuletzt immer galliger geworden. Pointen und Magenschläge sind gar nicht mehr unterscheidbar, der Blick ist bitter auf eine Gesellschaft ohne Werte, Gefühl und Orientierung. Solche Menschen gibt es auch im Kinderstück. Lisas Eltern sind arbeitslos, schlafen lang und sitzen dann nur auf dem Sofa, trinken Wein und fressen Tiefkühlpizza, die Lisa in den Ofen schiebt. Für ihre Tochter interessieren sie sich kein bisschen. Lisa muss sich ganz allein durch fiese Tage quälen. Vorbei an rauchenden Jugendlichen, die ihren Tornister ausleeren und sich immer neue kleine Foltern einfallen lassen. In die Schule, wo  niemand neben ihr sitzen will und sie auch kein Lehrer leiden kann. Eine Pädagogin bedauert zutiefst, dass sie der stets stummen Lisa keine schlechten Noten reinwürgen kann, weil die Arbeiten immer gut sind. Das Kind ist intelligent. Auf die Idee, mal nach persönlichen Problemen zu fragen, kommt niemand. In der Schule lernt man halt fürs Leben. Und im Leben interessiert sich niemand für Außenseiter.

Ein gestrandeter Alien

Sibylle Berg erzählt diese tieftraurige Geschichte mit großer Leichtigkeit. Erzählpassagen wechseln mit inneren Monologen, die Texte sind präzise pointiert und nur ganz leicht over the top. Es fällt einem leicht, sich mit Lisa zu identifizieren. Von ähnlichen Antihelden erzählt auch Tim Burton oft in seinen Filmen, in "Frankenweenie" oder  "Edward mit den Scherenhänden". Die Rettung kommt oft aus dem Bereich des Phantastischen, einer Welt, die den Normalen verborgen bleibt. "Mein ziemlich seltsamer Freund Walter" ist ein Außerirdischer, den Lisa eines Tages hinterm Haus findet. Walter heißt eigentlich unaussprechlich anders und hat während einer Rundreise über die Erde seine Aliengruppe verloren. In diesem gestrandeten Pauschaltouristen, der auch noch ein Kind ist, findet Lisa nicht nur einen Freund, der für andere unsichtbar bleibt. Sondern auch einen Helfer, der ihre Probleme löst, ihr Kung Fu und Selbstbewusstsein beibringt.

Charis Nass – eine kindertheatererfahrene Performerin – spielt die fast Neunjährige mit großer Energie und Glaubwürdigkeit. Anrührend ist ihre Verletzlichkeit, wenn sie die gemeinen Jugendlichen bittet, doch einmal das Quälen zu verschieben, weil sie spät dran ist. Später genügt ein kraftvoller Blick, um sie in die Ecke zu jagen. Das Ensemble des Consol-Theaters spielt präzise und liebevoll, die freie Bühne auf einem ehemaligen Zechengelände in Gelsenkirchen-Bismarck gehört seit vielen Jahren zu den führenden Jugendtheatern Nordrhein-Westfalens. Die Regisseurin Andrea Kramer schafft mit augenzwinkernden Choreographien und entspannten Songs eine offene, spielerische Atmosphäre.

Lisa muss hart einstecken

Am Anfang liegt Lisa auf mehreren Matratzen wie die Prinzessin auf der Erbse. Dabei ist sie das genaue Gegenteil dieser Märchenfigur, ein Mädchen, das richtig hart einstecken muss. Die Bühne von Tilo Steffens deutet mit frei stehenden Schränken und Türen konkrete Spielorte an, unterläuft sie aber auch, wenn im Schrank zum Beispiel das Schlafzimmer der Eltern liegt. Das Stück ist ein Auftragswerk der Kunststiftung NRW, die damit mehr Aufmerksamkeit auf die hervorragende Arbeit der Kinder- und Jugendtheater lenken will. Eine mehr als sinnvolle Förderung, die fortgesetzt werden sollte.

freund-walter 560 martinmoeller uZiemlich seltsam: Lisa (Charis Nass) und Walter (Moritz Fleiter)

Das Ende ist märchenhaft. Lisa entkommt dem Mobbing, der Kälte, der Einsamkeit. Sogar die Eltern benehmen sich wieder wie Eltern, kochen Spinat und kümmern sich um sie. Während Walter eine Rückreisemöglichkeit findet und verschwindet. Das geht alles ein bisschen glatt und wird von der Regie leicht ironisiert. Hier hätte Sibylle Berg ein bisschen böser und differenzierter bleiben können. Vielleicht hat sie gedacht, in einem Kinderstück müsse alles hundertprozentig positiv enden. Muss es aber nicht, die Jugendtheater haben sich längst über die reinen Mutmachgeschichten hinaus entwickelt. Gerade deshalb ist es wichtig, starke Autoren anzuregen, für Kinder zu schreiben. Sie haben dort mehr Freiheiten, als sie denken mögen. Sibylle Berg jedenfalls entdeckt den Charme wieder, der viele ihre schönsten Stücke wie "Helges Leben" auszeichnet. Vielleicht war die Beschäftigung mit einem Kinderstück für sie so etwas wie ein "ziemlich seltsamer Freund Walter". Eine Anregung, nicht nur die bitteren Seiten des Lebens zu sehen.

 

Mein ziemlich seltsamer Freund Walter (UA)
von Sibylle Berg
Regie: Andrea Kramer. Dramaturgie: Sylvie Ebelt. Bühnenbild: Tilo Steffens. Kostüme: Sabine Kreiter. Video: Aaron Jablonski.
Mit: Jennifer Münch, Charis Nass, Moritz Fleiter und Fabian Sattler.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.consoltheater.de



Kritikenrundchau

Barbara Seppi findet auf dem Portal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung derwesten.de (10.11.2014) Sibylle Bergs Geschichte "eindrucksvoll". Das Stück sei ein "kompakter Aufruf von Eigeninitiative", und "erwachsene Zuschauer sind, auch dank der hervorragenden schauspielerischen Leistungen der vier jungen Künstler, allen voran Chariss Nass mit ihrer intensiven Körpersprache, aufgerüttelt. Kinder brauchen Halt und Zuwendung, die Botschaft ist mehr als angekommen."

"Kein großes, aber ein gutes, sinnvolles, munteres Stück von Sybille Berg für junge Menschen" hat Jörg Loskill für die Website von Theater Pur (11.11.2014) erlebt. "Andrea Kramers musikalisch und tänzerisch inspirierte Inszenierung steht ganz in der hervorragenden Tradition des freien Gelsenkirchener Consol Theaters: Wort, Spiel, Video, Tanz und Musik bilden eine den Menschen bezeichnende Einheit."

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