Peer Gynt - David Bösch schickt Henrik Ibsens Helden am Münchner Residenztheater auf Weltreise zum Vulgärkapitalismus
Von einem, der auszog, das Ausbeuten zu lernen
von Tim Slagman
München, 14. November 2014. Ein Wald aus giftgelben Kreuzen, zum Glück nur ein Lichtbild, fällt auf diesen armen, bleichen Kerl in der Mitte der Bühne. Dann läuten die "Hell's Bells" von AC/DC den Einmarsch des "Mageren" ein, auf seinem Gitarrenkoffer trägt dieser Teufel in Priestergestalt auch ein Kreuz, freilich ein umgedrehtes, das Signum des Satans. Starke Zeichen sind das allesamt, die aber bloße Verdopplungen der szenischen Situation und der Funktion der Figuren darin darstellen.
Und doch steckt mehr in David Böschs zweiter Inszenierung am Residenztheater nach seinem Orest, in dem ebenfalls Shenja Lacher die Titelrolle übernahm. Bösch hat in seiner noch recht jungen Karriere immer wieder ein Gespür für die Verdichtung und Beschleunigung gerade versgebundener Klassiker bewiesen.
Shenja Lacher als Peer Gynt auf dem Planet der Affen © Thomas Dashuber
Je gewaltiger er nun in Henrik Ibsens "Peer Gynt" mit allen audiovisuellen Elementen eines postmodernen Meta-Spektakels auf das Publikum eindrischt, desto deutlicher schält sich umgekehrt manche Szene heraus, die nur getragen ist von der evokativen Kraft von Schauspiel und Sprache. Da kehrt etwa Peer zum letzten Mal heim zu seiner Mutter, Shenja Lacher fährt Sibylle Canonica im Kinderwagen an den Bühnenrand und erzählt vom großen Fest im Himmel, vom Wein, vom freundlichen Petrus, all dies mit flatternder Stimme, die aber erst bricht, als Peer bemerkt, dass es nichts mehr gibt als die erstarrte Stille um ihn herum, an der seine Worte sich tatsächlich noch brechen könnten: "Mutter, hör doch auf zu sterben!"
Geldscheffelei und Sinnsuche
Die Geschichte von diesem Peer Gynt, der nach dem Tod der Mutter auszieht, das Ausbeuten zu lernen, den es nach Amerika und Afrika verschlägt, schreit in ihren ausladenden erzählerischen Gesten umgekehrt natürlich auch nach ein wenig Bombast: Eine flotte Videomontage von Falko Herold erzählt Gynts Aufstieg, seinen Erfolg mit "money and bitches", Lacher auf dem Cover des Time Magazine, Lacher mit Ghaddafi, Lacher mit Bill Gates, dazu fetter Hip-Hop: eine Parodie auf den Vulgärkapitalismus, dem Gynt verfallen ist.
Es sind diese Momente, in denen man Bösch kaum missverstehen kann: Weniges an diesem Stoff scheint uns heute noch so plausibel wie die traurige Dialektik von Geldscheffelei und Sinnsuche, von erhoffter Selbsterkenntnis und Selbstentfremdung durch Gier. Afrika ist kahl auf der Bühne, ein paar Plastikkanister, ein bisschen Sand – verschwunden sind die Baumstämme des norwegischen Waldes, die bis in den Himmel ragten und schwere Schatten schlugen, zwischen denen Trolle umherspukten und Gynt einluden, zu einem der ihren zu werden: Das vom Geld ausgesaugte Land ist auch ein entmythologisiertes.
Ende in der Nervenheilanstalt
Zwei allegorische Orte, die Sinnbilder sind und auch Seelenlandschaften, breitet Falko Herold auf der Bühne also aus. Selten wurde so deutlich suggeriert, dass der fünfte Akt, die Heimkehr Gynts im hohen Alter, bei der er auch dem rockigen Mageren begegnen wird und sich den letzten Fragen stellen muss nach Schuld, Individualität und der Existenz seiner Persönlichkeit – dass all dieses Traumbilder sein könnten. Immerhin endet Gynts Afrika-Abenteuer bei Bösch damit, dass ihm in der Nervenheilanstalt das Gehirn durch seine verhöhnende Pappkaiserkrone herausgezogen wird.
Michele Cuciuffo als Direktor der Nervenheilanstalt zu Kairo saugt Shenja Lachers Peer Gynt
das Gehirn ab © Thomas Dashuber
Böschs "Peer Gynt" ist letztlich die Chronik einer Projektion, in der sich nahezu jedes Zeichen in der Psyche des Antihelden entschlüsseln ließe. Da flirrt ein Geldschein aus dem größenwahnsinnig herbeiphantasierten Staat "Gyntiania" mit Lachers Konterfei durchs Video. Da spielt Friederike Ott drei Frauenfiguren, denen Gynt im Laufe seiner Reise begegnet: Ingrid, die er von ihrer Hochzeit entführt und dann verstößt, die grüngekleidete Trollprinzessin, die er mit seinem Kind sitzen lässt – und die Beduinin Anitra, in deren Person Gynt die zwei anderen heimsuchen und die sich mit seinem Geld aus dem Staube macht.
Shenja Lacher hat für jeden Lebensabschnitt einen eigenen Gynt im Handwerkszeug. Durch Afrika etwa protzt ein geschmeidig mit den Knien wogender Lebemann, in dem der fahrige, nervös vor sich hin zuckende Besucher bei den Trollen so wenig wiederzuerkennen ist wie in diesem der verschüchterte, seltsam leise unerwünschte Hochzeitsgast. Auch hier gibt es nur Häute, aber keinen Kern der Zwiebel.
Peer Gynt
von Henrik Ibsen
Regie: David Bösch, Bühne und Video: Falko Herold, Kostüme: Meentje Nielsen, Musik: Bernhard Moshammer, Licht: Tobias Löffler, Dramaturgie: Sebastian Huber.
Mit: Shenja Lacher, Sibylle Canonica, Michele Cuciuffo, Andrea Wenzl, Götz Schulte, Friederike Ott, Philip Dechamps, Arnulf Schumacher.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.residenztheater.de
"Diese Aufführung ist nichts für Diabetiker!", warnt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.11.2014), denn man könne sich einen gewaltigen Zuckerschock einfangen. Charme liefere Shenja Lacher, "der netteste Peer seit Inszenierungsgedenken", "eine Niedlichkeitsfigur, die mit den Fingern schnippt." Was hier in aller Herzigkeit an den Tag gelegt werde, ist von einer überwältigen wollenden Kuscheligkeit. Fazit: Am Ende werde "die Niedlichkeit einer alles in Grund und Boden streichelnden Regie: zur Unterschlagung. Einer Welt. Und eines Dramas. Der Rest ist Zucker. Das Münchner Parkett freilich schleckt ihn jubelnd".
Zauber habe die Aufführung, und bis zur Pause komme man sich vor wie ein "Kind, das zu Weihnachten ein prächtiges Märchenbuch geschenkt bekommt", so Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (17.11.2014). "Bösch grübelt nicht, stellt nicht die vielfältigen philosophischen Aspekte aus, er erzählt einfach." Nach der Pause sei Schluss mit der Träumerei, "Bühnenbilder Falko Herold knallt ein Video in den Raum, Lachers Kopf auf Dollarnoten, auf dem Cover des Forbes-Magazins, Peer Gynt in der Welt des Kapitalismus." Am Ende dann aber nochmal Bildersturm, "ein düsterer, ikonografischer Todestraum, und die Aufführung klart wieder auf", – da sei der Zauber wieder da.
Ähnlich wie an den überzeugenden "Orest" sind Regisseur Bösch und sein Darsteller Lachner jetzt an ihren "Peer Gynt“ herangegangen – und haben dabei nochmals die Intensität gesteigert, schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (17.11.2014). Lachner finde den passenden Zugriff auf seine Figur, er spiele beeindruckend facettenreich, mit großer Energie und Präsenz, ohne je angestrengt zu wirken, "ein Glücksfall für diesen Abend – wie auch das Ensemble um ihn". Die Begegnung mit Solveig sei am Ende ein "starkes Schlussbild einer starken Inszenierung".
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Komplette Kritik: stagescreen.wordpress.com/2015/03/01/am-kreuzweg/
Regisseur David Bösch und seinem Hauptdarsteller gelingt es nicht, für die Lebensreise des Peer Gynt stimmige Bilder zu finden. Ibsens Text ist wohl eher als Lesedrama für philosophische Reflexionen denn als Vorlage für zeitgenössische Bühneninszenierungen geeignet. Bösch und Lacher retten sich in eine Nummernrevue. Das geht über weite Strecken daneben: es wird munter gerülpst. Als sich Peer Gynt fast übergibt, murmelt jemand im Publikum: “Ich wusste, dass er diesmal kotzt.”
Auf der sicheren Seite ist Bösch immer dann, wenn er auf dem vertrauten Gelände der Popkultur wieder festen Boden unter den Füßen bekommt. Wenn er Shenja Lacher in einer Szene zunächst Udo Lindenberg und dann Herbert Grönemeyer imitieren lässt, ist das zwar ein gut gemachter, unterhaltsamer Moment, hängt aber völlig unmotiviert im Raum. Die stärkste Szene hat dieser Abend unmittelbar nach der Pause, als Peer Gynt als Reeder kapitalistische Erfolge in Nordamerika feiert. Bösch und Lacher übersetzen dieses Motiv aus der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts mit einem weiteren Zitat aus der Popkultur: ihr Peer Gynt tritt als präpotenter Rapper auf, der mit seinem Reichtum protzt und in einer kurzen Videoshow neben den Mächtigen und Reichen aus Politik und Wirtschaft posiert.
Solche Einfälle bleiben rar. Sybille Canonica ist als Aase unterfordert und Andrea Wenzl als “graue Maus” Solveig kaum wahrzunehmen. Was bleibt, ist - wie immer bei Bösch - die schöne Musik.
Komplette Doppel-Kritik zu "Peer Gynt" und "Orest": kulturblog.e-politik.de/archives/24652-shenja-lacher-als-peer-gynt-und-orest-am-residenztheater-einmal-redundante-soloshow-einmal-ueberzeugende-ensembleleistung.html