Wer ist hier verrückt?

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 26. November 2014. Ein letzter Schluck Rotwein, ein letzter bereits ironischer Kuss in die Luft, an deren Veratmung die nunmehr Ex-Gattin gerade noch beteiligt war. Dann geht das Licht aus, und Steven Scharf sitzt im Dunkeln. Befreiend fürs Publikum, das die vergangenen zwei Stunden im Dunkeln verbracht hat, wäre, wenn nun die Fantastischen Vier Jetzt ist sie weg rappten.

Aber nein. Die Geschichte ist nicht zum Lachen oder immer nur kurz, und in diesen kurzen Momenten scheinen die Schauspieler sich stets gerade aus der Regie zu stehlen – wenn zum Beispiel Susanne Wolff als Ellida Wangel, während sie halb lachend, halb weinend den "Fremden" herbeisehnt, den Mann von vorher, den sie während ihrer fünfjährigen Ehe mit dem braven Doktor Wangel nicht vergessen konnte, mit ihren Händen die Merkel-Raute formt, wie um sich aus der Soap Opera, in der sie da gelandet ist, gewaltsam hinauszumarkieren.

frauvommeer2 560 arnodeclair hIm Ehekrisemodus: Susanne Wolff als Ellida, Steven Scharf als Wangel © Arno Declair

Was für ein seltsamer Stoff "Die Frau vom Meer" von Henrik Ibsen aber auch ist; mit der Geschichte der unglücklichen Ehe zwischen Ellida und Doktor Wangel im Zentrum, die seit dem Tod des gemeinsamen Kindes nicht mehr vollzogen wird; im Stückverlauf stellt sich heraus, dass es daran liegt, dass Ellida im Traum von einem Seemann heimgesucht wird, dem sie die Ehe versprochen (und das Versprechen dann wieder gelöst) hatte, bevor sie Wangel begegnete, der ihr lebenslängliche Sicherheit versprach.

Die Fremdheit austreiben

Und dann taucht der "Fremde" am Ende auch noch auf, so wie es ein junger Künstler prophezeit hat, der den Doktor wegen seiner Lungenkrankheit konsultiert. Die Figur dieses jungen Künstlers wie auch die Figuren der Töchter Wangel aus erster Ehe Hilde und Bolette werden von Ibsen nur angerissen, versprechen aber einiges; die Schwestern sind klug; die ältere, Bolette, kann damit einiges anfangen; die jüngere, Hilde, begnügt sich (noch?) damit, mit ihrer scharfen Zunge alles durchzuschneiden, was ihr über den Weg läuft.

Franziska Machens und Lisa Hrdina als Bolette und Hilde dürfen ein paar Szenen zu kleinen Diamanten pressen; aber sie dürfen die Inszenierung nicht prägen, die sich auf die Ehegeschichte Wangel konzentriert – der Stephan Kimmig und sein Ensemble die Fremdheit, die sie beim Lesen des Stücks hat, allerdings nur in kleinen und durchweg nicht überzeugenden Ansätzen austreiben können. Der erste und am konsequentesten ausdeklinierte ist die Ausdehnung des Wahnsinns, der Ellida Wangel im Stücktext immer wieder von allen Seiten bescheinigt wird, auf alle Figuren, vor allem auf ihren Mann. "Wer ist hier verrückt?", soll man sich beispielsweise wohl fragen, wenn Ellida ihn, der sich coram publico in den "Fremden" verwandelt hat, für den anderen hält – sie oder er, der sich verkleidet hat?

Wer läuft als erster weg?

Recht breit ausgewalzt wird außerdem der Ansatz "Beziehungsanalyse per Psychodrama", indem die Schlüsselszene gedoppelt wird, in der Ellida Wangel von dem "ersten Mann" berichtet. Egal wer wann gereizt und wer wann ruhig ist – dass Susanne Wolff und Steven Scharf starke, kluge, offene Spieler sind, stellen sie einmal mehr unter Beweis. Die Sisyphos-Arbeit ist angerichtet, und eigentlich ist jetzt nur noch die Frage, wer von beiden als erste/r wegläuft; das sagt diese Dopplung, so wie sie in Kimmigs filmische Erzählweise auf einer Drehbühne mit Holzbungalow mit Außendusche eingespannt ist. Szenen wie diese, in der in beiden Varianten Langeweile in Verzweiflung umschlägt, was die Beteiligten zuverlässig in die Krampfigkeit treibt, sind typisch für die Inszenierung.

"Lass uns über die Wirklichkeit reden", hatte Ellida zu Wangel gesagt, kurz bevor sie ihn sitzen ließ. Dass das alles andere als einfach ist, diese Erkenntnis besiegelt dieser Ibsen-Abend von Stephan Kimmig. Dass das Theater ja gerade die Möglichkeit bietet, es trotzdem zu versuchen, scheint ihm egal zu sein.

 

Die Frau vom Meer
von Henrik Ibsen
Aus dem Norwegischen von Heiner Gimmler
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Anja Rabes, Musik: Michael Verhovec, Dramaturgie: Sonja Anders.
Mit: Steven Scharf, Susanne Wolff, Franziska Machens, Lisa Hrdina, Michael Goldberg, Benjamin Lillie, Timo Weisschnur.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Schon Ibsen habe in der "Frau von Meer" "mit dem Holzhammer gearbeitet (…) und eine Moral gefunden, die uns heute verstaubt erscheinen mag, da sie so offene Türen einrennt: Nur eine frei gewählte Beziehung, die auch aus freien Stücken jederzeit beendet werden kann, ist etwas wert", sagt André Mumot auf Deutschlandradio Kultur (27.11.2014). Stephan Kimmig nun greife "noch tiefer in die Klischee-Kiste und erzählt zum gefühlt millionsten Mal von der spießigen Hölle bürgerlicher Ehen, aus der man nur so schnell wie möglich entkommen muss, wenn das was werden soll mit dem guten Leben." Der Abend aber biete "zu keinem Zeitpunkt mehr als eine verkniffene Notlösung. Ein Vergeuden von Schauspielkraft ist das, ein Abarbeiten an einem Stück, an dem der Regisseur keinen Gefallen finden mag und das er – wenn schon, denn schon – nun auch dem Publikum endgültig vermiest."

"Psycho-Wrestling" hat Till Briegleb für die Süddeutsche Zeitung (28.11.2014) in Kimmigs "Frau von Meer"-Version gesehen. "Doch wie beim richtigen Show-Catchen handelt es sich auch bei diesem psychologischen Zweikampf unter Wohlstandsbürgern nur um großspurige Gesten in einem abgekarteten Spiel." Sich zwei Stunden lang "übertriebenes Pseudo-Kranksein anzusehen", mache aber "leider ziemlich depressiv".

Kimmig lasse "seine Spieler mit virtuoser Überzogenheit agieren − alle scheinen kurz vor dem Nerven-Kollaps zu stehen − treibt aber gleichzeitig das Reflexionsniveau in die Höhe", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (28.11.2014). "Wir Zuschauer sollen uns nicht sofort in die Identifikation verkriechen, sondern Abstand halten, sollen wissen, dass die Spieler spielen, prägnante Neurosen vorführen, die einem wohlbekannt sind, wenn auch zumeist in der kompensierbaren Hausgebrauchsvariante." Und Seidler resümiert wohlig: "Sich die Schauspieler bei der wohlgeratenen Figurenarbeit zu besehen, den verzwickten Situationen auf die Spur zu kommen und deren Ausklamüserung für zu Hause zu trainieren, das ist ein so gepflegtes wie nützliches intellektuelles Vergnügen."

Kimmigs Inszenierung stelle "ihre eigene Ratlosigkeit und auch ihr Befremden über den Stoff – nicht eben hyperaktuell in Zeiten der Selbstverwirklichungsimperative und großkoalitionären Frauenquoten-Diskussionen – überdeutlich aus", meint Christine Wahl im Tagesspiegel (28.11.2014). "Mit dem Ergebnis allerdings, dass auch der Zuschauer sich bald fragt, was er hier eigentlich gesehen hat." Punktuell gehe die Aufführung zwar "ganz lustig dahin, zumal Susanne Wolff und Steven Scharf meist die nötige Genre-Souveränität beweisen", doch "die seltsam blass bleibenden Nebenhandlungen um die Töchter nebst Anhang ziehen die Sache leider enervierend in die Länge." Immerhin enthalte der Abend "erfreulich interpretationsoffene Darstellungselemente", die zur "postperformativen Foyerdiskussion" einlüden.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.12.2014) schreibt Irene Bazinger: "Susanne Wolff und Steven Scharf entwickeln ihre Szenen keiner Ehe mit solch präzisem Gespür und treffender Attitüde, als säßen Ellida und Wangel wie heutige Lebensabschnittsneurotiker beim Italiener um die Ecke." Die Inszenierung sei dicht gewoben, habe ein paar überraschende Momente und lasse das Ensemble glänzen. "Doch in ihrer intellektuellen Reduktion und unkritischen Aktualisierung wird sie Ibsens komplexer Studie über Abhängigkeit, Emanzipation und geplatzte Illusionen doch wenig gerecht."

Kommentare  
Frau vom Meer, Berlin: Frage
kann mir mal jemand diese Kritik erklären?
Frau vom Meer, Berlin: warum nicht klar und deutlich?
@ staw: Mir geht es genauso? Warum können Kritiken nicht einfach klar, präzise, verständlich und deutlich sein mit einem eindeutigen Fazit und einer Aussage zu einer Kaufempfehlung?????
Frau vom Meer, Berlin: verstehen wollen
@ken Kaufempfehlung muss gar nicht sein. ich würde nur gerne verstehen was die Kritikerin ausdrücken möchte.
Frau vom Meer, Berlin: Murks ist Murks
Lieber Ken, Sie sind wohl schon in Weihnachtskauflaune. Jedoch die Theaterkritikerin gleich zu einer "Kaufempfehlung" zu nötigen, halte ich schon für eine etwas merkwürdige Auffassung von Kritik. Wenn sich das Fazit zu dieser Inszenierung im Vagen verliert, dann liegt es sicher auch an der Unentschlossenheit des Regisseurs selbst. Das hat Frau Diesselhorst doch versucht zu erläutern. Allerdings scheint auch das Interview der DT-Granden Khuon und Matthes mit dem Tagesspiegel nachzuwirken. Da wurde ja kolportiert, dass sich u.a. Herr Kimmig von der Berliner Theaterkritik, ich sage mal, etwas unverstanden fühlt. Die Frage ist daher durchaus berechtigt, ob sich nun die Kritik, Selbstkritik übend zurücknimmt und Murks nicht mehr klar und deutlich als Murks bezeichnen will. Zu Kimmigs neuer Inszenierung muss man tatsächlich das Programmheft lesen, um es halbwegs zu kapieren, warum die da oben den halben Abend lang psychologisch animierte Körpergymnastik (Ich dachte, ich gehe erst heute zum Tanztheater) aufführen und nach zwei Stunden Tappen im Halbdunkel, einem Teller Suppe und zwei Glas Rotwein das Licht ganz ausgedreht wird. Es erschließt sich nicht, warum die Figuren handeln, wie sie handeln und der Waschlappen Wangel nach der Suppe der Erkenntnis das Handtuch wirft. Um es mit dem alten Fontane zu sagen: "Es geht, aber es geht mir zu flink." Womit nicht das sich schier endlos ziehende, aggressiv fahrige Vorspiel zum Trennungssouper gemeint ist. Dass das alles noch halbwegs genießbar ist, liegt sicher an den beiden Hauptdarstellern (Siehe auch Matthes im Interview zum Ensemble. Allerdings ist „in der Breite“ hier auch ein sehr dehnbarer Begriff.). Die Regie hat dazu nicht allzu viel beigetragen.
Frau vom Meer, Berlin: Verstiegenheit
Die Kritik, die sie, die Kritikerin, da schrieb, ist in ihrer Verstiegenheit – stilistisch vor allem – tatsächlich schwer zu lesen, was durch die vielen Satzzeichen, die hier verwendet werden, erst befördert wird und so sucht man, obgleich gutwillig und konzentriert, doch zu oft den Fortgang des Grundgedankens eines Satzes, der drei Zeilen zuvor begann, zu finden, woran man aber – schade drum – scheitern muss.
Frau vom Meer, Berlin: danke für Erläuterungen
lieber stefan. trotz ihrer Verteidigung der Kritik, habe ich durch ihre paar Erläuterungen, mehr von dem Abend erfahren, als durch die Kritik von Frau Diesselhorst.
Frau vom Meer, Berlin: viele Fehler
Wahrscheinlich ist das der größte von vielen Fehlern, die man in dieser Inszenierung gemacht hat: Dass man dem Ibsenstück seine Fremdheit ausgetrieben hat, weil man im Dt immer noch mehr der plattesten Pärchen-Psychologie glauben schenken will, als dem schwer verdaulichen Symbolismus eines Schriftstellerhirns des 19. Jahrhunderts zu folgen. Denn übrig bleibt leider nicht viel mehr als eine auf Breitwandformat aufgezogene Ehe-Soap für Idioten, die eine Realität von vor 50 Jahren abbildet - das aber hübsch zeitgenössisch inszeniert. Mit viel Ambition der Regie, dem Ganzen doch noch irgendwie einen schrägen Drive zu geben (siehe Tanztheater). Aber wozu dieser Versuch, wenn man die Eigenheit des Stückes auf schnödeste Weise durchrationalisiert hat. In dieser Inszenierung vertraut niemand dem Mysterium des Theaters, wie es Ulrich Matthes im Interview im Tagesspiegel formuliert hat. Dabei hat der Abend alles, was ihn hätte gut machen können: Großartige Darsteller, ein fulminantes Bühnenbild und einen irrationalen Text.
Frau vom Meer, Berlin: zwischen den Zeilen eindeutig
@Ken

Ich möchte die Kritikerin mal in Schutz nehmen. Denn zwischen den Zeilen ist das Urteil dann doch ziemlich eindeutig: Also in ihrem Sinn keine (Kauf)-Empfehlung.
Frau vom Meer, Berlin: hingehen!
ich hab's heute Abend gesehen und fands doch sehr spannend. düster und erdrückend wird das ganze zum psychodrama und ich finde es gibt schon einige glanzmomente.

also hingehen!
Frau von Meer, Berlin: konsequent gedacht, unschlüssig inszeniert
Kimmig sucht den Kern des Stücks in der inneren Leere der Noras und Heddas und stellt sie als sinnbefreites feindliches Universum dar, in der jeder Schutz lächerliche Illusion bleiben muss. Das ist durchaus konsequent gedacht, aber viel zu unschlüssig inszeniert. So wirkungsvoll der Schluss ist, so blutleer bleibt das meiste der vorangehenden zwei Stunden. Die hölzernen Nebenfiguren (am ärgerlichsten Michael Goldbergs cholerischer Arnholm, am stärksten noch die verlorenen Schwestern Franziska Machens und Lisa Hrdina) tun ein Übriges, aber das Hauptproblem des Abends ist die schale, uninspirierte Banalität, mit der Kimmig ein unerhebliches Ehedrama entfaltet. Mit dem Einbruch des Fremden kann er merklich nicht umgehen, die Uminterpretation von Ellidas verlorenem und – real oder fantasiert? – zurückkehrenden Geliebten als zweites Gesicht des Gatten ist pure Küchenpsychologie. Und so kollabiert das alptraumhafte Kartenhaus, weil das, was in ihm passiert, nicht selten über Seifenopernniveau hinausreicht. Der Symbolismus verpufft, die Bedrohung bleibt aus. Außer in der starken und frösteln machenden Schlussszene. Nur ist hier eigentlich schon alles zu spät.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/12/07/alptraum-als-seifenoper/
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