Die oder wir?

von Steffen Becker

Freiburg, 28. November 2014. Beim Spazieren gehen Richtung Weinberge fielen mir neulich schmucklose Neubauten auf. Die Stadt möchte darin Flüchtlinge unterbringen – humanitäre Pflichtaufgabe, löblich, richtig, wichtig. Mein erster Gedanke: Wo ist für die der nächste Supermarkt? Der, in dem ich auch einkaufe? Und wird das Naherholungsgebiet am See durch die grillenden Drittgenerations-Türken nicht schon genug verschmutzt? In der Freiburger Inszenierung von Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen" werden ähnliche Fragen von Ganzkörper-Vermummten ebenfalls gestellt, dem Akzent nach werden dabei Mitglieder der gut situierten Wiener Gesellschaft typologisiert.

Ein bisschen viel mit "denen"?

Das spielt auf die Entstehungsgeschichte der "Schutzbefohlenen" an. Die Autorin schrieb ihr Stück unter dem Eindruck von Flüchtlingsprotesten und der Besetzung einer Wiener Kirche. Das war im Winter 2012. Seitdem sind noch mal ein paar Hundert Menschen im Mittelmeer ertrunken, Europa rüstet seine Grenzen hoch und in Deutschland diskutiert man über schärfere Regelungen, weil es langsam doch ein bisschen viel wird – mit DENEN.

schutzbefohlenen1 560 maurice korbel uWir oder sie? Das Buchstaben-Camp von Michael Simon  © Maurice Korbel

DIE und WIR – das darin ausgedrückte Gefühl von Bedrohung greift Regisseur Michael Simon in seinem Bühnenbild auf. Es besteht ausschließlich aus überdimensionalen Wörtern, die als Würfel und Wände bewegt werden und damit das Gesamtbild immer wieder neu konstituieren. Nur die ANGST, die bleibt ganz vorne. Sie mischt sich mit "korrekten" Begriffen, mit denen wir der Flüchtlingsdebatte auf intellektueller Ebene habhaft zu werden versuchen – wie RECHT, WÜRDE (mit abgeschnittenem E) oder HEIMAT. Die Flüchtlinge (Mila Dargies, Lena Drieschner, Jürgen Herold, Holger Kunkel) legen und schrauben auf dem Boden irgendwann das Wort OPFER zusammen und präsentieren es stolz – aha, seht her, man ist ja doch zu etwas nütze.

Freiheit ist Skifahren in den Bergen

Die Ambivalenz zwischen dem, was man als Gesellschaft über Flüchtlinge sagen sollte und dem, was man eigentlich sagen will, hat Regisseur Simon in der Rolle von Johanna Eiworth angelegt. Als Zuchtmeisterin bringt sie den Flüchtlingen die Prinzipien der Leitkultur bei. "Freiheit kann ein Gefühl sein, wie man es etwa beim Sport und in der freien Natur – beim Skifahren in den Bergen – erlebt" (steht so zum Thema "Fundament der Werte" in einer Broschüre des österreichischen Innenministeriums). Im Duktus einer überkandidelten Eigenheimbesitzerin, die um den Wert ihrer Immobilie fürchtet, lamentiert sie über die Flüchtlingswelle, die uns überrollt – immer wieder mit Einsprengseln, die die politisch korrekte Art spiegeln, über das FREMDE zu sprechen.

Ihre Suada ist eine typische Jelinek. Einzelne Wörter dienen als Scharniere, um von einem Thema zu einem völlig anderen zu springen. Protest, Kalauer, Schimpfen gehen ineinander über und unter in einem Strom der Assoziationen. Bei Simon artet das auf schauspielerischer Ebene aber in hysterisches Geschrei aus. Was schade ist, denn gerade die Konfrontation mit den eigenen Ängsten und Ressentiments wäre der interessanteste Zugangspunkt zu Jelineks "Schutzbefohlenen" gewesen. Durch den Slapstick der Darbietung drängt sich diese aber nicht auf.

schutzbefohlenen2 560 maurice korbel uTypische Jelinek-Suada: "Die Schutzbefohlenen"  © Maurice Korbel

Flüchtlingscamp zerlegen

Die Flüchtlingsfiguren selbst sind bei Simon Sprechapparate, die auch gar keine Identifikation anbieten sollen. Damit verdeutlicht er das Grundproblem von Jelinek. Sie kritisiert in ihrem Stück, dass wir Flüchtlinge als Objekte betrachten, die wir nur über Sujets wie Hunger, Hilflosigkeit oder Kriminalisierbarkeit wahrnehmen. Andererseits kann auch sie nur für die Flüchtlinge, aber nicht wie diese sprechen. Auch bei ihr offenbart sich damit die Kluft zwischen der Lebenswelt einer Europäerin und den geschundenen Menschen aus Gott-weiß-woher. Mehr als die Sprache wirken daher die Bilder. Als es um die Blitzeinbürgerung von Opernstar Anna Netrebko geht, segelt ein Abendkleid von der Bühnendecke. Blitzartig stürzen sich alle auf diese 1. Klasse-Eintrittskarte in die Gesellschaft. Diejenigen, die die Chance verpassen, verlassen umgehend das Rampenlicht.

Das stärkste Symbol gelingt der Inszenierung jedoch zum Schluss. So wie das Flüchtlingscamp in Wien geräumt wurde, schrauben auch die Schauspieler in Freiburg ihr "Hab und Gut" auseinander. Auf der Rückseite der Buchstabentafeln stehen die Namen von Menschen, die auf der Flucht ums Leben gekommen sind. Quälend lange und intensiv dauert das vorsichtige Stapeln. Es verursacht Schamgefühle. Die sich auf dem Weg vom Theater zum Hotel noch verstärken. Der führt über eine viel befahrene Bundesstraße. An diese entlang drücken sich Häuser, die dem Augenschein nach ebenfalls von Flüchtlingen bewohnt werden. Ich blicke auf hässlichen Teppiche, die über dem Zaun ausgebreitet sind und achtlos herumstehenden Einkaufswagen. Mein erster Impuls ist Mitgefühl für die Nutzer der angrenzenden Kleingartenkolonie, die ihren Besitz jetzt sicher nicht mehr so genießen wie früher. Ach so: Ich bin kein AFD-Wähler, halte mich für keinen Rassisten, sondern für weltoffen. Jelinek hat gezeigt, dass man sich auf dieser vermeintlichen Gewissheit nie ausruhen darf.

 

Die Schutzbefohlenen
von Elfriede Jelinek
Regie, Bühne & Kostüme: Michael Simon, Video: Ariane Andereggen, Dramaturgie: Julia Reichert.
Mit: Mila Dargies, Lena Drieschner, Johanna Eiworth, Jürgen Herold, Holger Kunkel.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theater.freiburg.de

 

Kritikenrundschau

In der Badischen Zeitung (1.12.2014) schreibt Bettina Schulte, Michael Simon vertraue leider nicht ganz auf die Kraft von puren Sprechakten à la Jelinek. "Zwar verweigert seine Inszenierung jede verlogene oder zumindest fragwürdige Authentifizierung, wie sie Nicolas Stemann bei seiner Uraufführungsinszenierung in Mannheim mit einem Laienchor aus Ausländern und Mannheimern versucht hat", aber schneide dann doch "Paddeln mit Golfspielen zusammen: eine unnötige bildliche Verdopplung". Das Schlussbild gehe aber unter die Haut, die Inszenierung sei insgesamt "packend".

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