Theater gegen Schicksal

von Reinhard Kriechbaum

Linz, 29. November 2014. "Lerne lesen, lerne schreiben, lerne reden, lerne denken." Die Großmutter hat dies der jungen Frau mitgegeben auf ihren Lebensweg. Und das alles hat Nawal auch wirklich gelernt. Als erste Frau im Dorf hat sie den Namen aufs Grab der Großmutter zu schreiben gewusst. Die Tragik dieser Gestalt: dass ihr das Lesen, Schreiben, Reden, Denken letztlich überhaupt nicht genutzt hat; das sie dann ausgerechnet dem Reden über sich selbst hat abschwören müssen.

Das Flüchtlings-Familiendrama "Incendies/Verbrennungen" von dem frankokanadischen Autor Wajdi Mouawad war bald nach der Uraufführung 2003 auch auf deutschsprachigen Bühnen ein Renner. Die Verfilmung ("Die Frau die singt") vom kanadischen Regisseur Denis Villeneuve von 2010 hat es zu einer Nominierung für den Auslands-Oscar gebracht. Leider verjährt der Stoff nicht. Ob der Libanon (den meint der dort gebürtige Autor) oder Syrien oder ein anderer (Bürger-)Krieg irgendwo auf der Welt, der Migrationsströme auslöst und katastrophale Familienbiographien generiert und zugleich vergessen macht: Schicksalhafte Unerbittlichkeit ist zeitlos. Das wusste schon Sophokles, dessen Ödipus Mouawad paraphrasiert.

Ins Allgemeine gerückt
Auf der im ehemaligen großen Saal des Linzer Landestheaters neu eingerichteten Arena-Bühne (enorme Spielfläche vor radikal zurückgefahrenen Sitzplätzen) setzt Johannes von Matuschka auf ein emotional kontrolliertes, simultanes Erzählen von Geschichten. Eine lange weiße Stoffbahn bedeckt die alte Nawal, ist Symbol für das Rätsel, das diese Frau umgeben hat, das sie selbst erkunden wollte und das endgültig zu lösen sie testamentarisch ihren Zwillingskindern überantwortet hat. Dasselbe Tuch ist, gespannt gehalten, Tisch in der Rechtsanwaltskanzlei, wo Nawals Testament eröffnet wird. Die beiden jungen Leute wussten nichts von der Existenz eines Vaters und schon gar nicht von der eines Bruders. Sie sind erst zu überzeugen von der Sinnhaftigkeit einer Spuren- und Personensuche vor Ort.

verbrennungen1 560 patrick pfeiffer uWas der Schatten birgt... © Patrick Pfeiffer

In der Arena-Situation suggeriert der Regisseur blitzschnell Schauplatzwechsel mit einem Fast-Nichts an Requisiten. Auch zum Live-Videoscreening dient die weiße Stoffbahn. Durch den weit gehenden Verzicht auf Versatzstücke rückt die Geschichte aus den konkreten Orten. "Verbrennungen" dieser Art können überall stattfinden. Auch der (sparsame) Einsatz choreographischer Mittel dient dazu, die Handlung nur ja nicht zu konkret zu verorten.

Unprätentiöse Rollenbilder
Umso konkreter, fassbarer  müssen die Charaktere sein. Glücklich eine Landesbühne, die auf eine Darstellerin wie Katharina Hofmann als Nawal setzen kann. An diese "Frau die singt" werden sich die Überlebenden erinnern, und auch ihrem Peiniger wird die Stimme im Ohr bleiben. Hinter der zurückgenommenen Tragödin bricht sich die Vitalität Bahn, immer wieder tollt sie als Mädchen herum. "Nicht den Zorn als Erbe überlassen", hat ihr die Großmutter mitgegeben, und das beherzigt Nawal, auch wenn sie längst Opfer ist im Bürgerkrieg und guten Grund hätte für überbordenden Hass. Aber gerade dieser Urgrund an Überlebenslust wird sie noch tiefer verstricken in ein Schicksal, das Dimensionen der Unvorstellbarkeit annimmt.

Das Ensemble ist immer zugegen, man schlüpft in unterschiedliche Rollen und Verkleidungen. Dem Erzählen des Autors in schicksalshaften Antiken-Dimensionen – man könnte auch sagen: dick aufgetragen – setzt der Regisseur und setzen die Darsteller unprätentiöse Rollenbilder entgegen. Die Emotion schwappt nicht über, der Energiepegel des Fatums zermalmt nicht die Glaubwürdigkeit. Wir haben es in dieser Aufführung, die von ambitionierten schauspielerischen Leistungen im Kleinen und im Leisen getragen wird, immer mit Menschen zu tun.

Verbrennungen
von Wajdi Mouawad
Deutsch von Uli Menke
Inszenierung und Raum: Johannes von Matuschka, Kostüme: Hella Prokoph, Dramaturgie: Kathrin Bieligk.
Mit: Katharina Hofmann, Anna Eger, Christian Manuel Oliveira, Sebastian Hufschmidt, Jenny Weichert, Björn Büchner, Levin Hofmann, Thomas Bammer, Aurel von Arx.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.landestheater-linz.at

 

Kritikenrundschau

Silvia Nagl schreibt auf nachrichten.at, der Website der Oberösterreichischen Nachrichten (1.12.2014): Johannes von Matuschka nähere sich "respektvoll dieser grandiosen Sprach- und Geschichtskonstruktion". Er bringe "großteils eine verständliche, in den vielen Übergängen von Zeit und Raum sehr gelungene Inszenierung". Kürzungen würden nicht schaden. "Die Live-Filmerei" zeige bei Szenen mit der Mutter "Wirkung", manchmal aber sei sie "überflüssig". "In ihrer Einfachheit verblüffend schöne Bilder gelingen mit einem großen weißen Tuch und mit hunderten Paar Schuhen. Schmerzvolles, eindringliches Theater."

Auf dieser Bühne sei "jedes Wort wichtig, jede Nuance, um aus der Reduktion Intensität ziehen zu können, aus dem Innehalten zwischen Sätzen, aus mimischen Details“, schreibt Philipp Wagenhofer im Neuen Volksblatt (1.12.2014). "Unerträglichkeit kann man ohne Waffen zeigen. Die Psyche ist ein Hund, der geweckt werden will." Großes Lob erhält das Schauspielensemble. Die Darstellungen "sind eindringlich, machen dieses unglaubliche Puzzle zu einem Erlebnis, das den Kreislauf der Vergeltung beenden will und Licht erkennen lässt."

Das Stück könnte "die Zuschauer als brachiale Tragödie erschüttern", doch in der Linzer Inszenierung stiegen "bestenfalls Theaterrauchwölkchen auf", schreibt Milli Hornegger in der Kronen Zeitung (1.12.2014). Regisseur Johannes von Matuschka "verheddert sich in unnötigen Seitensträngen und hysterischem Gerenne, das Medium Video funktioniert einmal mehr nicht wirklich, und so kriecht das Drama nur ganz selten intensiv und direkt unter die Haut."

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