Bonjour Tristesse

von Tobias Prüwer

Leipzig, 6. Dezember 2014. "Lebe in den Vorstädten. Heim – Garten – Sonnenschein": Riesengroß dominiert das Werbeschild die allzeit gähnende Schwärze der leeren Bühne. Als hohles Versprechen stellt Enrico Lübbe diese Botschaft in "Zeiten des Aufruhrs" in aller Konsequenz heraus. Doch der Titel des Abends legt eine falsche Fährte. Als "Das Jahr der leeren Träume", erschien der Roman erstmals treffender auf Deutsch. Denn hier lehnt sich niemand auf.

Alles geht seinen Gang

Connecticut 1955: Frank Wheeler ("Wheel" = "Rad") droht unter die Räder zu kommen. Unter die Räder des Vorortzugs, mit dem er aus der ereignisarmen Suburb-Idylle zum nicht weniger langweiligen Bürojob in die Stadt pendelt. Nur ein paar Jahre wollte er das durchhalten, bis seine Frau April das ungeplante Kind groß gezogen hat. Ein zweites Kind folgt, mit Zynismus und einer Affäre versucht sich Frank über seine frustrierende Situation hinwegzuretten. Als April den Plan fasst, gemeinsam nach Paris zu ziehen und zu arbeiten, damit Frank Zeit für seine Selbstfindung hat, muss er überredet werden. Richtig wohl fühlt er sich bei der Idee nicht und ist froh über Aprils erneute unerwartete Schwangerschaft. April stirbt bei einer autoaggressiven Abtreibung. Frank macht Karriere und zieht in die Stadt.

zeiten des aufruhrs6 560 rolf arnold uUnd am Ende das große, schöne Bild vom Frauenopfer. Wie's halt so zugeht bei Mittelstands und ihren Depressionen. Anja Schneider als April, hoffnungsvoll ist
nur der Name.   © Rolf Arnold

"Anti"-Titanic um Alltagsödnis

Der Vorlage treu folgend, gestaltet Lübbe das Stationendrama oberflächlich und emotionsarm, mit abgedämpftem Spiel zwischen Naturalismus und durchregierten Standsprechtheaterformationen. Außer dem Werbeschild sind nur vier Tische auf der Bühne zu sehen, die in verschiedenen Anordnungen Heim oder Büro andeuten. In jeweils verschiedenen Gruppierungen treten auch die Darsteller auf und führen abwechselnd als Erzähler durch die Handlung. Beschriebene Szenen werden nicht immer ausgespielt, oft nur angedeutet. Das funktioniert anfangs ganz gut, gerät aber insgesamt zu monoton, auch weil die Funktion zu deutlich ist. Denn Verzicht auf Kulissenschieberei und der Einsatz der Schauspieler als Erzähler sollen abstrakter Kontrast sein zu den naturalistischen Spielszenen. In diesen ist dann vom Sherry bis zum Rührei alles möglichst detailliert und realitätsgetreu gehalten.

Sprachduktus, Gesten und Mimik erinnern stark an typische US-Filme, der Guckkasten wird zur Cinémathèque. Tatsächlich ist der Stoff bereits 2008 verfilmt worden. Leonardo DiCaprio und Kate Winslet spielten die Hauptrollen der Anti-"Titanic", über die Alltagsödnis einer als Liebe des Lebens missverstandenen Durchschnittsbegegnung. Das birgt eine Falle für die Frank-Figur: Ein durchaus bemühter Felix Axel Preißler ist nicht nur optisch stets zu nah am Filmvorbild, um eigene Färbung zu gewinnen. In dieser Hinsicht freier und am überzeugendsten agiert Anja Schneider als April, bei der immer mal wieder Ansätze einer starken Frau durchbrechen. Falsch machen die anderen Darsteller nichts, nur der Schwenk ins Volkstheater bei der älteren Nachbarin (Jutta Richter-Haaser) nervt. Sie haben auch keine Chance, weil die Regie ihnen neben Satzaufsagen kaum Raum fürs Spiel einräumt.

Aufgemerkt!

Lübbes Konzept ist konsequent, Trostlosigkeit und Konformität der Romanatmosphäre liegen über jeder Szene. Überraschungen will Frank der Pendler ebenso wenig erleben wie der Abend sie bieten. Der inhaltliche Fokus auf die Vororte ist natürlich trügerisch, sie sind ja nur Ausdruck für das Leiden des Kleinbürgers am kapitalistischen Gesellschaftsvertrag. Und das herrschte nicht nur in den USA der 1950er. Aber mit der doppelten Distanzierung durch Handlungszeit und wie unter Milchglas abgeschirmter Emotionalität gerät "Zeiten des Aufbruchs" zum harmlosen Drama, das den Stadttheaterbesucher höchstens durch Länge (dreieinhalb Stunden) überfordert. Schlüsselsequenzen werden gar durch Klaviermusik untermalt, damit jeder weiß: Ah, aufpassen!

Nur einmal bricht die Inszenierung in ein schönes Bild aus. Das Werbeschild kreiselt nach vorn, zeigt ein Neonröhrengitter. Währenddessen rennen die Spieler mit übergroßen Kindermasken – man muss nach dem Einsatz ebensolchen Maskentypus in Und dann, "Wolokolamsker Chaussee" und Die zweieinhalb Leben des Heinrich Walter Nichts allmählich aufpassen, dass es nicht zur Masche wird – über die Bühne, bevor sich April bis aufs Mieder entblößt auf den Boden legt. Ein Dutzend der Röhren fällt aus der Fassung und pendelt wie kalte Strahlen über der Sterbenden. Dann jedoch treten die Spieler wieder ohne Masken zum gesprochenen Epilog an den Bühnenrand.

 

Zeiten des Aufruhrs (UA)
Basierend auf dem Roman "Revolutionary Road" von Richard Yates
Fassung für das Schauspiel Leipzig von Torsten Buß, Enrico Lübbe und Alexander Elster unter Verwendung der deutschen Übersetzung von Hans Wolf 
Regie: Enrico Lübbe, Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Kostüme: Bianca Deigner, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Torsten Buß, Alexander Elsner, Licht: Carsten Rüger.
Mit: Wenzel Banneyer, Anne Cathrin Buhtz, Andreas Herrmann, Matthias Hummitzsch, Hartmut Neuber, Michael Pempelforth, Felix Axel Preißler, Jutta Richter-Haaser, Runa Pernoda Schaefer, Anja Schneider.
Dauer: 3 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

Lübbes Inszenierung von "Zeiten des Aufruhrs" entpuppe sich "als Huldigung des Originals", schreibt Dimo Riess in der Leipziger Volkszeitung (8.12.2014). "Das zeigen schon die Kostüme, die Blümchenkleider, die pedantisch gezogenen Scheitel, die Anzüge (…): Der Abend will nicht an Zeit und Ort rühren, obgleich das Thema nichts von seiner Aktualität verloren hat, sich spielend ins Hier und Jetzt transferieren ließe." Wer den Rahmen akzeptiere, – "die kurze Regieleine, die die Schauspieler oft zu statischen Aufsagern macht, die reduzierte Ästhetik und der Verzicht darauf, einen Schritt über eine Nacherzählung hinaus zu wagen" – der bekomme "dennoch einen beklemmenden, einen weitgehend fokussierten Theaterabend geboten. Denn das Ensemble bringt die von Yates so präzise identifizierten Seelenzustände bis in die Nebenrollen sicher auf den Punkt."

Für Stefan Petraschwesky auf MDR-Figaro (7.12.2014) ist Lübbes Fassung für die Bühne "ganz brauchbar". Die Form sei "eine Art Erzähltheater, weil sämtliche Figuren wie im Theater einerseits in ihren Rollen agieren – aber dann andererseits auch wieder aus ihren Rollen heraustreten und sich selbst dann als Figur weitererzählen." Dadurch bekomme "ihr Handeln etwas Zwanghaftes und Vorherbestimmtes – und je näher wir zum Ende kommen, zur Katastrophe, desto schwerer fällt den Figuren dieses Weitererzählen. Dann nehmen sie ihre ganze Wut, Enttäuschung, Hass mit in die Erzählerrolle mit hinein". Was vor der Pause "noch schaumgebremst, holperig, auch unrhythmisch" sei, sei nach der Pause dann "wirklich gut gespielt".

Lübbe versuche, "dieses Porträt des US-amerikanischen Fünfzigerjahre-Mittelstandes als eine Art zeitenübergreifendes Modell zu inszenieren", schreibt Christine Wahl auf Spiegel online (8.12.2014). Klar wolle "Enrico Lübbe auf der Folie der Wheelers die gegenwärtige Gesellschaft beleuchten. Die Individualitäts- und Selbstverwirklichungsimperative, mit denen sich auch Nach-Wheeler'sche Generationen bestens auskennen. Dabei vertraut er komplett auf die Darsteller und ihr zeitloses Ehekrisen-Spiel. Doch so stringent das theoretisch gedacht sein mag: Wenn man das Buch kennt, wirkt es in der dreieinhalbstündigen Praxis leider zunehmend eintönig, wie die Spielfassung eng an der Romanvorlage Szene für Szene als Tisch-Drama abarbeitet." Schade sei, "dass sich Enrico Lübbe erst zum Finale an spektakulärere Bilder wagt."

Lübbe inszeniere "betont reduziert und extrem konventionell", befindet Barbara Bogen auf Deutschlandfunk (7.12.2014). "Dialoge finden häufig vorn an der Rampe statt, mit Blick ins Publikum, als wollten da Lehrer ihren Schülern die Geschichte von Frank und April erzählen." Das Ganze sei "freudloses Theater über fast vier Stunden, das sichtlich vom Anspruch getragen ist, der literarischen Vorlage gerecht zu werden. Aber die große Qualität von Yates' Literatur liegt in den Brüchen der Figuren, den Distanzen, den langen ambivalent geführten Reflexionen, die schließlich im krassen Widerspruch zu dem stehen, was die Menschen tatsächlich tun."

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.12.2014) schreibt Irene Bazinger, Lübbe habe sich fast vier Stunden für sein "akribisches, elegisch dimensioniertes Kammerspiel genommen und dabei auf jeden regielichen Schnickschnack verzichtet". Er führe die zehn ausgezeichneten Darsteller wie Intrumentalisten durch die abgründig wohltemperierte Partition seiner Adaption. Mit seiner "geduldigen, kunstvoll reduzierten Inszenierung" mache Lübbe aus dem Roman überzeugendes, brisantes, klug packendes Theater.

"Es war eine sehr gute Entscheidung, so lange um diesen Stoff zu kämpfen", findet Helmut Schödel in der Süddeutschen Zeitung (12.12.2014). Dann aber stellt er Fragen: "Wollen sie ein Stück aufführen, das 'Der versteinerte Yates' heißt? Warum haben sie ihre Körper in der Garderobe gelassen? Warum macht Lübbe aus ihnen Komplizen des Theaterschlafs?" Lübbe setze zunehmend auf großes Psychodrama, das die Episierung jedoch nicht zulasse. "Es ist schwer zu übersehen, dass es sich um klassische Stadttheater-Ästhetik handelt. Sie hat Aufführungen tausendmal verziert, tausendmal ist nix passiert."

Lübbe sei es insgesamt "gelungen, die inneren Konflikte des Paares zwischen Sehnsucht und Vororttristesse, aber vor allem die inneren Konflikte der Figur April Wheeler auf subtile, leise Art herauszuarbeiten", findet Eva Marie Stegmann in der Chemnitzer Freien Presse (10.10.2014)  "Es war kein Blockbuster-Theater, was da in Leipzig geboten wurde. Das Publikum zollte der intelligenten Inszenierung mit Jubel und ausdauerndem Applaus Respekt."

 

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