Endstation Filmset

von Grete Götze

Frankfurt am Main, 6. Dezember 2014. Letzten Endes existierten vier relevante weibliche Rollenfächer, hat Peter Kümmel gerade in der "Zeit" geschrieben: die Mutter, die lüsterne Frau, die Heilige und die Rächerin. Am Schauspiel Frankfurt findet man derzeit viele Stücke mit tragischen Heldinnen im Spielplan, auch wenn es mehr tragische Helden gibt. In Karin Henkels Dogville ist Claude de Demo die Rächerin Grace, Constanze Becker spielt die sich rächende Mutter Medea. Bettina Hoppe versucht in Thalheimers Nora so gut es geht heilig zu sein, ebenso wie Lisa Stiegler in Kriegenburgs Glaube Liebe Hoffnung. Und nun kommt Blanche DuBois hinzu, eine verzweifelt lüsterne, verarmte Frau aus reicher Südstaatenfamilie.

Die Meßlatte liegt hoch

Der Zuschauer sieht ihr in Kay Voges' Inszenierung von "Endstation Sehnsucht" pixelgenau dabei zu, wie sie bei ihrer Schwester Stella und deren Mann Stanley in New Orleans Zuflucht sucht. Nachdem sie aus einer Straßenbahn mit der Endstation Sehnsucht ausgestiegen ist. Und alles nur noch schlimmer wird. Das ist schon deswegen gewagt, weil seinerzeit der aneckenden Intendantin Elisabeth Schweeger zumindest eine herausragende Inszenierung attestiert wurde, nämlich 2004 "Endstation Sehnsucht" in der Regie von Burkhard C. Kosminski mit Susanne Lothar als Blanche. Märchenprinzessin, Schneekönigin, schrieben die entzückten Kritiker. Die Latte liegt hoch.

endstation sehnsucht1 560 birgit hupfeld uStephanie Eidt als Blanche und Viktor Tremmel als Mitch © Birgit Hupfeld

Kay Voges, Schauspieldirektor in Dortmund, tritt die Flucht nach vorn an. Er setzt Tennessee Williams' 1947 uraufgeführtes Südstaatendrama nicht kammerspielartig leise um, sondern groß und grell (genauso grell sind auch seine neongrünen Schuhe bei der Verbeugung) und filmisch. Die Bühne teilt sein Bühnenbildner in drei Flächen. Rechts und links zwei riesige Leinwände, in ihrer Mitte findet die Handlung statt. Rechts eine typisch amerikanische Außentreppe, links eine beengte Zweizimmerwohnung. Aufgenommen von zwei ständig filmenden Kapuzenkameramännern werden die Livebilder auf die Leinwände projiziert. Die Schauspieler tragen Mikroports, das Drama wird verstärkt.

Voges, so zeigt schon der Beginn, will einen Film aus Williams' Drama machen. Riesige Lettern kündigen die Darsteller an. (Wir wissen schon seit seinem 2013 erschienenen Dortmunder Manifest, dass er das Kino und das Theater künftig vereint wissen will.) Mit dem Videokünstler Daniel Hengst erzählt er mittels Kino-Ästhetik eine Theatergeschichte. Eines ist sofort klar: Stephanie Eidt als Blanche und ihren Mitstreitern guckt man lieber überlebensgroß auf der Leinwand zu als im Bühnenausschnitt hinter Kameramännern versteckt. Leinwand schlägt Realität.

Sehnsucht nach kleinbürgerlichem Leben

Stephanie Eidt spielt um ihr Leben. In elegantem Zwirn, entrückt und ständig betrunken versucht sie ihre Schwester Stella (Claude de Demo) zu überzeugen, dass deren prolliger Ehemann Stanley (Oliver Kraushaar) sozialen Abstieg bedeutet. Doch Kraushaar ist als ihr Gegenspieler zu schwach. Man glaubt ihm in Cowboystiefeln und mit tiefer Stimme zwar sein Bedürfnis nach viel Alkohol und Sex. Aber die Bösartigkeit, mit der er seine kapriziöse Schwägerin vernichtet, die sich zwischen ihn und seine Stella drängt, traut man ihm nicht zu.

Claude de Demo hat es als unbeschwerte Dritte schwer, sich zwischen beiden Polen aufzureiben. Aber es gibt ein paar schöne Schwestern-Bilder. Stella auf der Toilette mit heruntergezogener Unterhose, ihr benutztes Klopapier begutachtend. Aber eigentlich nur die unheilvolle Schwester loswerden wollend, um wieder Kleinbürgerin zu sein. Und Blanche im Ledersessel, Stella anflehend, aus der schäbigen Realität zu fliehen. Auch Viktor Tremmel spielt Blanches zwischenzeitlichen Hoffnungsträger Mitch schön naiv.

Nervenleiden mit Bildstörungen

Zwar hat der Zuschauer durch die zwei Kameras mehrere Perspektiven auf die Figuren, die selbst zwischen Realität und Selbstbetrug hin und her wechseln. Zwar zeigt Voges, dass die Projektionen mehr anziehen als die Bühnenrealität. Zwar ist die Kameraführung genau überlegt. Aber das, worum es eigentlich geht, um die Hinwendung einer Verzweifelten in den Wahnsinn als einzig verbleibendem Sehnsuchtsort, das kommt durch den filmischen Aufwand zu kurz.

Voges traut der Imaginationskraft der Zuschauer nicht. Der Verrücktheit, die Blanche durchlebt, verpasst er Bilder. Auf die Leinwand projiziert er wiederkehrend Bildstörungen, "Glitches". Schwarz-weiß ein junger Mann, vielleicht ihr Ehemann, der sich einst umgebracht hat, dann wieder hinter Pixeln verschwindend. Und die Erinnyen, die Blanche verfolgen, ihre Angstzustände, werden zu projizierten Fratzen mit unheimlichen Masken. Am Ende verliert Stephanie Eidt so den Boden unter den Füßen, dass der Zuschauer sie vor Sternenbildern im All wieder sieht. Das ist eine schöne Idee. Aber es bleibt eine Inszenierung, der es mehr um ihre imposanten Bilder und schlaue Regieideen geht, als darum, einer der verführerischsten Frauen der Theatergeschichte bei ihrer Selbstzerstörung zuzusehen. Einer, die mühelos weibliche Rollenfächer durcheinander bringt.


Endstation Sehnsucht
von Tennessee Williams
Deutsch von Helmar Harald Fischer
Regie: Kay Voges, Bühne: Daniel Roskamp, Videoart: Daniel Hengst, Kostüme: Mona Ulrich, Musik: T.D. Finck von Finckenstein, Dramaturgie: Hannah Schwegler.
Mit: Stephanie Eidt, Claude De Demo, Oliver Kraushaar, Viktor Tremmel, Susanne Buchenberger, Ralf Drexler, Sebastian Volk, Alexander Dumitran, Jele Disgo, Sebastian Volk, Huanita Gonzales, Jos Diegel/Alexander Dumitran (Live-Kamera).
Dauer: 2 Stunden, 10 Minuten, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

Kay Voges' Inszenierung sei "letztlich konventionell", befindet Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (8.12.2014) – "sobald man den Film vergisst (was allerdings, wie gesagt, unmöglich ist)". Dabei gebe es zwei "erschütternd überzeugende Hauptdarstellerinnen", deren Bilder zwar üppig in Szene gesetzt würden, die selbst aber dahinter schier verschwä den.

"Widersprüche, Schicksale und Schauspieler-Können genug für zwei Stunden Aufführung, an deren Ende deutlich ist, dass das New Orleans von 1947 auch 2014 allgegenwärtig ist, dass nicht wenige von uns vergleichbare Traumata mit sich schleppen und wir alle uns an Traumwelten klammern" hat Dieter Bartetzko für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.12.2014) gesehen. Mit seinem Live-Film-Konzept kneife Voges allerdings vor dem Theater und seiner Besonderheit. "Denn nach kurzer Zeit starrt man nur noch auf die Leinwände, erlebt jeden Blick in die Mitte, wo die Schauspieler zu winzigen gestikulierenden Figuren geschrumpft scheinen, als Enttäuschung."

"Der Film präsentiert sich hier als eine weitere Möglichkeitsform der Bühne", findet Shirin Sojitrawalla in der taz (8.12.2014). Dabei inszeniere Kay Voges das Stück als ungeheuer handfeste und kraftvolle Sozial- und Seelenstudie fernab jedweder Südstaatenromantik. "Als Zuschauer darf man sich fühlen wie in einer Filmmischung aus David Cronenberg, David Lynch, Animation und Horror-B-Movie." Fade werde das selbst in der "Überlänge" von 2 Stunden und 15 Minuten nicht.

 

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