Schauspiel im Livestream – Fluch oder Segen?

10. Dezember 2014. Während große Opernhäuser ihre Vorstellungen regelmäßig ins Netz streamen, das Londoner National Theatre seine Inszenierungen in Kinosäle auf der ganzen Welt sendet und die Berliner Philharmoniker eine "Digital Concert Hall" betreiben, sind die deutschsprachigen Theater sehr zögerlin, was die Übertragung von Aufführungen ins Netz angeht. Bisher ist das Theater Ulm das einzige Stadttheater, das regelmäßig und kostenlos Livestreams von Schauspielinszenierungen im Internet anbietet.

Das Volkstheater Rostock streamte 2011 eine Premiere, die vor leerem Zuschauerraum stattfand – aus Protest gegen die Schließung des Großen Hauses aus sicherheitstechnischen Gründen. Im April 2014 plädierte die Piratin und Netzaktivistin Tina Lorenz auf nachtkritik.de für eine stärkere Vernetzung der Theater und die Öffnung der Häuser via Streaming. Im September 2014 schob Berlins Kulturstaatssekretär Tim Renner die Diskussion an, indem er freies Livestreaming von Berliner Opern- und Theatervorstellungen forderte – was sehr gemischte Reaktionen in Presse und Kulturbetrieb hervorrief. Unter anderem anderem antwortete der Theaterverleger Bernd Schmidt mit einem Debattenbeitrag auf nachtkritik.de.

Die Heinrich Böll Stiftung griff die Diskussion nun, in Kooperation mit dem Schauspiel Dortmund, mit dem Fachgespräch "Schauspiel im Livestream – Fluch oder Segen?" auf. Von 19.30 bis 20.30 Uhr wurde die gut 60-minütige Aufführung 4.48 Psychose von Sarah Kane in der Regie von Kay Voges live aus Dortmund nach Berlin übertragen – aus Urheberrechtsgründen allerdings im geschlossenen Kreis der Anwesenden.

Im Anschluss diskutierten Geraldine de Bastion (Digitale Gesellschaft, re:publica), Daniel Hengst (Medientechniker und Videokünstler), Anne Peter (nachtkritik.de), Tim Renner (Kulturstaatssekretär Berlin), Ulf Schmidt (Blogger und Theaterautor), Nils Tabert (Rowohlt Theater Verlag), Kay Voges (Schauspiel Dortmund) und Kay Wuschek (Theater an der Parkaue, Rat für die Künste), Moderation: Christian Römer (Heinrich Böll Stiftung).

Die Diskussion wurde an dieser Stelle live gestreamt. Für alle, die's verpasst haben, gibt's hier den Mitschnitt:

{denvideo https://www.youtube.com/watch?v=1-aP86vO2Ms}

 

Gesammelte Texte zum Thema gibt's in unserem Livestreaming-Dossier.

In seinem Blog hat der Theaterschreiber und Diskussionsteilnehmer Ulf Schmidt im Nachhinein noch einmal seine zentralen Gedanken aufgeschrieben (11.12.2014).

Unter den Hashtag #theaterstream wurde via Twitter mitdiskutiert – hier nachzulesen:

 

 

[View the story "Diskussion "Schauspiel im Livestream – Fluch oder Segen?"" on Storify]

 

 

Presseschau

Auf der Website von SWR 2 schreibt Gerd Brendel (11.12.2014), obwohl er "sehr interessante Einblicke" gehabt habe durch den Livestream von "4.48 Psychose" aus Dortmund, hätte er "lieber einen Raum gehabt, in dem ich mit diesen Menschen atme, die sich da zu dritt versucht haben, im wahrsten Sinne des Wortes das Leben aus dem Leib zu spielen", womit er auch die Reaktion Tim Renners auf die Dortmunder Übertragung noch einmal paraphrasiert. Die "Sehnsucht, den realen Raum mit den Schauspielern zu teilen", haben den Saal durchzogen wie die "verheißungsvollen Düfte einer Weihnachtsbäckerei". Den Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner treibe mit seinem Diskussionsanstoß, "Theateraufführungen umsonst online-live zu übertragen", die Sorge um "die analogen Kulturstätten" um. Die Erfahrungen anderer Theater, etwa in Ulm, bewiesen, dass es möglich sei "neue Generationen in tradierte Formen wie Theater" zu locken, wie Renner es sich wünsche. Alle seien sich aber auch einig gewesen: Der Live-Stream könne das reale Erlebnis nicht ersetzen.

Bei der Diskussion in der Böll-Stiftung habe Renner seinen Alles-livestreamen-Vorschlag nun relativiert, so Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (12.12.2014): "Nur Inszenierungen, bei denen es künstlerisch Sinn mache, sollten gestreamt werden, sagte er. Livestreaming sei kein Ersatz für das echte Theatererlebnis, sondern eine Ergänzung – auch für die, die nicht mobil sind, kein Geld haben, am falschen Ort wohnen oder aus Schwellenangst kein Theater betreten." Die live gestreamte Kane-Inszenierung aus Dortmund hat Meiborg durchaus mit Gewinn gesehen. Man habe durchaus "Kunst erlebt. Nicht dieselbe wie die Zuschauer in Dortmund. Sondern eine andere." Die Trennung von Schauspielern und Zuschauern durch den Gaze-Vorhang sei bei Voges "Programm, sie steht für die Abschottung der seelenkranken Protagonistin. Der Video-Livestream, der eine räumliche Entkoppelung bewirkt, verstärkt diese Idee der Inszenierung. Trotzdem fehlt das physische Erleben." Dafür sorgten zusätzliche Kameras "für neue Perspektiven". Die Kamera funktioniere "wie ein Opernglas – nur, dass der Zuschauer es nicht selbst bedient. Die Video-Regie fügt die Bilder aber so organisch aneinander, das man sich daran kaum stört." Überdies zeigten die Videobilder auch "die Techniker hinter der Bühne, also die Herstellung des Abends. Ein Bonusmaterial, das viele Zuschauer interessieren dürfte." Livestreams könnten also durchaus "Vermittlungsarbeit leisten. Aber taugen sie auch als primäres Medium? Wie kann man verhindern, dass Theater durch Abfilmen zum schlechteren Fernsehen wird, das Zuschauer nicht anzieht, sondern abschreckt?" Zunächst müssten sich die Theater jetzt "Gedanken über die möglichen Adressaten von Live-Übertragungen machen. (...) Die Metropolitan Opera mag Fans in Japan haben. Das deutsche Sprechtheater eher nicht. Vor allem aber müssten die Theater das Thema inhaltlich ernst nehmen".

Ausgerechnet Renner, berichtet Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (12.12.2014), habe nach Ansicht des Dortmunder Livestreams bekannt: "Ich wäre gerade lieber in Dortmund gewesen." Bei der Böll-Veranstaltung habe man herausfinden wollen, ob "die Seele des Theaters Schaden nimmt, wenn man es in Datenpäckchen zerlegt und an anderer Stelle wieder zusammensetzt, also Produktion und Wiedergabe entkoppelt." Auf dem "etwas zu üppig und zu einig besetzten Podium" habe sich Renner "Rückendeckung" für seine "Vision der Niedrigschwelligkeit" abholen können. "Seine Kernthese: 'Das politische Ziel wäre erreicht, wenn wir jedem, der da draußen arm, krank oder gerade am falschen Ort ist, es ermöglichen, dabei zu sein.' Nicht zwingend bei allen, aber bei ausgewählten Inszenierungen." Es gäbe aber noch einige "Dinge zu klären": die Rechtefrage (Autoren), die Finanzierung, wobei es "sehr auf die Ausgestaltung der Übertragung" ankäme (Kino-Events, Bezahl-Mediathek oder Gratis-Stream?). Seine ursprüngliche Rede vom kostenlosen Livestream modifizierte Renner und könne sich nun auch ein "Pay-Modell" vorstellen. "Von den Finanzen hängen am Ende die ästhetischen Möglichkeiten ab."

Oliver Kranz schreibt auf srf.ch, der Seite des Schweizer Radio und Fernsehens (13.12.2014): nach Meinung des Theaterverlegers Nils Tabert sei der Haupteinwand gegen das Livestreaming, nämlich die Frage der Urheberrechtsvergütung, "kein gravierendes Problem". So sei der Debatte gleich zu Beginn "die Spitze abgebrochen" worden. Streaming, schreibt Kranz angesichts ders Livestreams von "Psychose 4.48" aus Dortmund könne "zu neuen Erzählweisen im Theater führen", den "Besuch im Theater ersetzen" könne es nicht. Eine Leinwand schaue man anders an "als einen lebendigen Darsteller – man hat die Sinne nicht geschärft, weil man nicht damit rechnen muss, dass ausserhalb der Leinwand etwas passiert". Trotzdem seien Video-Streams für Menschen, die nicht ins Theater kommen können, "ein spannendes Angebot". Die Erfahrungen des Theaters Ulm mit 1000 Zugriffen pro Übertragung bestätigten das. Der kostenlose Stream rentiere sich dadurch, dass Menschen, die den Stream gesehen haben, später ins Theater kämen. In der Schweiz habe es bisher nur wenige Versuche, Aufführungen ins Internet zu übertragen. Für das Schauspielhaus Zürich komme ein Live-Stream nicht im Frage, vor allem die Kosten sprächen dagegen. Streaming könne den Theaterbesuch nicht ersetzen, betone der Pressesprecher des Theaters Basel. Doch gehe es nicht um ersetzen, so Kranz, sondern darum, das Theater "zu ergänzen und sichtbarer zu machen".

 

Weitere Radio-, Blog- und Presselinks

"Fazit"-Gespräch mit Susanne Burkhardt auf Deutschlandradio Kultur (10.12.2014)

Ein paar Gedanken zum Livestreaming von Schauspieltheater #theaterstream von Ulf Schmidt auf postdramatiker.de (11.12.2014)

Wie echt ist Theater im Internet? Schauspiel im Live-Stream – ein Gespräch mit Kay Voges auf WDR 3 (11.12.2014)

Livekritik zu 4.48 Psychose von Marie Golüke auf livekritik.de (12.12.2014)

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