Das Männlein ohne Eigenschaften

von Tim Schomacker

Bremen, 11. Dezember 2014. Wo die Bühne leer ist, sind nicht selten die Herzen voll. Voller Liebe und Hass und Sehnsucht und Gier. Als Kammerspiel im Fast-Nichts inszeniert Frank Abt seinen Dostojewski. Dunkle Podeste. Zunächst mittig, später weiter hinten, abgeteilt durch einen flirrenden Lametta-Vorhang. Links steht ein Klavier, daneben ein Plattenspieler. Eine Reihe von Stühlen steht erst hinterm Vorhang in Reihe, in der zweiten Hälfte dann locker gruppiert um die Podeste herum. Die Requisiten wirken winzig: der Dolch, mit dem Nastassja Filippowna später vielleicht ermordet wird oder die Kreuzketten, die Myschkin und Rogoschin austauschen. Viel Platz also für große Gefühle. Und wenig Ablenkung.

Im Wald des Petersburger Bürgertums

Abts Fassung des russischen Klassikers "Der Idiot" um den sonderbaren Fürsten Myschkin, der nach Jahren des Sanatoriumsaufenthalts in der Schweiz in Erbschaftsangelegenheit nach Petersburg kommt und die dortige Gesellschaft mit seiner naiven – oder sagen wir besser doch: realistischen – Sicht der Dinge durcheinanderbringt, möchte dem Text Raum geben. Möchte sich anlehnen, anschmiegen fast an Myschkins Perspektive.

Wohl deshalb hat Abt mit Alexander Swoboda einen Fürsten entwickelt, der sich zumeist schauspielerisch gar nicht in Krankheit oder Wahnsinn suhlt, sondern der lange (und nur selten von Ausrastern und Anfällen durchzuckt) wie ein sanfter, ruhiger Beobachter dabei steht. Und im Grunde nicht fassen zu können scheint, was die da alle so machen. Warum etwa Nadine Geyersbachs mit düster expressionistischem Eifer dargebotene Nastassja Filippowna ein Spiel daraus macht, heiratswillige Männer nach dem Geldbeutel zu beurteilen (und so ihre eigenen Aufstiegsambitionen wörtlich umzumünzen). Warum überhaupt monetäre und soziale Dimensionen von Liebe – oder eher "Liebe" – derart hoch stehen im Kurs.

deridiot 560 theaterbremen uAlexander Swoboda spielt Dostojewskis Fürst Myschkin als Projektionsflächenfigur
© Jörg Landsberg
Swoboda agiert besonnener und irgendwie normaler – oder eben "normaler" –, als es das Drehbuch der europäischen Literaturgeschichte für das Wahnsinns-Motiv eigentlich vorgesehen hat. Dies nimmt dem Abend sicher einiges von möglicher Verve, überzeugt aber – wenn auch nicht in jeder Sekunde von Swobodas bisweilen zu zurückhaltender Myschkin-Darstellung – durch den konsequenten Perspektivwechsel. Dieser Myschkin ist so etwas wie die invertierte Form der großen historischen Projektionsflächen à la Lulu – oder Moby Dick. Mithin ein Männlein ohne Eigenschaften, das im Walde des Petersburger Bürgertums (Alteingesessene wie Emporkömmlinge inbegriffen) still und stumm herumsteht.

Ming-Vasen-Swing

Was dem durchaus längeren Abend über weite Strecken fehlt, sind strukturierende Elemente. Seien es solche schauspielerischer Natur oder musikalische, lichttechnische, was auch immer. Abt verlässt sich ein wenig zu sehr auf den zu sprechenden Text. Anstatt diesen durch – sei's illustrierend-stützende, sei's gezielt kontrapunktisch gesetzte – Gänge und Bewegungen dramaturgisch-choreographisch zu untermauern. Das nimmt dem Abend einiges an Kontur, alles fließt so dahin, eine Szene gleicht der anderen. Erst als Johannes Kühn seine Rolle des Nastassja-Verehrers Ganja (weitgehend) aufgibt und fürderhin singend zu schmalen Akkordfolgen für die Bühnenmusik verantwortlich zeichnet; erst als Justus Ritters leise lamentierender Revolutionär durch gezielte Körper-Stille das Gruppen-Bild als solches schärft; erst als nach der Pause das Ensemble sich als (beeindruckend harmoniebündiger) mehrstimmiger russischer Volkslied-Chor zur Hochzeitsgesellschaft formiert, gelingt eine optische und akustische Gebundenheit, die diesem Dostojewski zuvor lange abgegangen war.

Direkt wohltuend – und dabei im Sinne der Myschkin-Perspektive ziemlich plausibel – eine Slapstickeinlage. Nachdem die Generalstochter Aglaja den so herzensguten Fürsten für sich (und als passenden Baustein für ihren Karriereweg) hat gewinnen können, kommt sie vor der Hochzeit doch nicht umhin, Myschkin zu bitten, erstens auf die gesellschaftlichen Gepflogenheiten – und zweitens auf Mamas kostbare Ming-Vase Rücksicht zu nehmen. Zum swingenden "Lovecats" von The Cure hüpft, kurvt, läuft Swoboda dann um das teure Stück herum, es scheinbar ein ums andere Mal in tausend Stücke rennend. Seine Freude einerseits und die ob des kostbaren Objekts angstlustigen "Oh"s und "Ah"s der Umstehenden kartographieren die Kräfteverhältnisse auf akustische Weise. Schließlich zaubert Swoboda aus der großen Vase eine kleine, die schlussendlich am Fußboden zerschellt. Der Schreckmoment entlädt sich in einem Gelächter, das Myschkin nicht recht lesen kann. Er meint, ihm sei dies Missgeschick wie grundsätzlich sein Anderssein verziehen – was ihm zu einem großen Monolog über die Aufrichtigkeit Anlass gibt, die doch "so viel wert (sei) wie eine kultivierte Geste."

Doch diese Gleichung geht in Dostojewskis Petersburger Realität so wenig auf wie die stets ein wenig mutlose Illustration ihres Bremer Regisseurs.

 

Der Idiot
nach dem Roman von Fjodor Dostojewski
Deutsch von Svetlana Geier, Fassung von Frank Abt und Viktoria Knotková
Regie: Frank Abt, Bühne: Michael Köpke, Kostüme: Annelies Vanlaere, Musik: Johannes Kühn, Licht: Joachim Grindel, Dramaturgie: Viktoria Knotková.
Mit: Betty Freudenberg, Nadine Geyersbach, Johannes Kühn, Siegfried W. Maschek, Kristina Pauls, Justus Ritter, Susanne Schrader, Robin Sondermann, Matthieu Svetchine, Alexander Swoboda.
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.theaterbremen.de

 

Kritikenrundschau

Auf Kreiszeitung.de (12.12.2014) schreibt Johannes Bruggaier: Jede Theaterfassung des "Idioten" begegne einem Hauptproblem: "einen nicht eben einfachen Plot in verständliche und doch zügige Handlung umzuwandeln". In Abts "episodenhafter Abfolge von Verhaltensexperimenten" schienen alle Szenen wie Wiederholungen, "nur mit neuen Gesichtern". Es zeige sich "bald", dass Dostojewskis "dunkle" Prosa sich nicht ohne Weiteres auf "eine sachlich kühle Versuchsfläche zerren" lasse. Es komme zu "fatalen, offenkundig unbeabsichtigten Deutungsmustern". Erst spät gelänge es Alexander Swoboda dieser statischen Versuchsanordnung so etwas wie eine Entwicklung entgegenzusetzen.

Im Online-Auftritt der Nordwest-Zeitung (13.12.2014) schreibt Sabrina Wendt: "Wer den Roman nicht kennt, der kann der Geschichte nur schwer folgen. Das Stück leidet an dem Vorsatz, möglichst viele Handlungsstränge mit einzubeziehen, und verliert dabei den Überblick." Welche Verbindung die Charaktere zueinander haben und welche Ziele sie verfolgen, bleibe unübersichtlich. "Abt lässt dem Zuschauer viel Raum für Interpretationen – für einige offensichtlich zu viel, sie verlassen das Theater vorzeitig." An den Schauspielern liege es aber nicht. "Die Stärke des Stücks liegt in den knackigen Dialogen und der Gestik der Akteure."

Im Weser-Kurier (13.12.2014) schreibt Uwe Dammen, vor allem der erste Teil der mehr als drei Stunden dauernden Inszenierung sei extrem textlastig. "Die zum Teil übersteigerte Sprache in den Dialogen und Monologen der Protagonisten strengt die Zuhörer an. Für Abwechslung sorgen lediglich Musikstücke." Nach der Pause komme mehr Schwung in die Inszenierung.

 

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