Im Wirbelwind der Lüste

von Thomas Rothschild

Stuttgart, den 12. Dezember 2014. Eine junge Frau im strengen schwarzen Kleid mit weißem Krägelchen, wilder Mähne und einer Plastikreisetasche an der Schulter wie eine Touristin aus Osteuropa kommt mit ihren zwei Brüdern nach Paris. Es ist Denise Baudu, und weil ihr Onkel keine Arbeit für sie hat, sucht sie eine Anstellung im Warenhaus "Paradies der Damen" gleich gegenüber, wo sie erst einmal von ihren Kolleginnen getriezt wird. Sandra Gerling spielt diese Denise, und sie ist das Abenteuer des Abends. Sie beherrscht die Meisterschaft der Andeutung, ist bis zur Pause der ruhende Pol inmitten grotesker Übertreibung.

paradies 4 560 bettina stoess uSandra Gerling und Christian Czeremnych  © Bettina Stöß

Woher wir kommen, woran wir knabbern

Erst neulich hatte am Stuttgarter Schauspiel "Pfisters Mühle" Premiere. Gerade ein Jahr vor Wilhelm Raabes Roman, auf dem die Bühnenfassung basiert, ist Émile Zolas Roman "Das Paradies der Damen" ("Au Bonheur des Dames") erschienen, der elfte innerhalb der Serie "Die Rougon-Macquart". Armin Petras und seine Dramaturgie bleiben also am Ball: Die Epoche der Hochindustrialisierung, die von der Dramaturgin im Programmheft aus unerfindlichen Gründen zur "Zeit des beginnenden (!) Kapitalismus" mutiert, bleibt das Modell für eine Wirtschaftsordnung, die heute, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, zwar selbstbewusster und unangefochtener da steht als je zuvor, an deren ökonomischen und ökologischen Auswirkungen wir aber nach wie vor zu knabbern haben.

Zolas minutiös recherchierte Geschichte eines Warenhauses könnte nicht aktueller sein, als sie es in Stuttgart 21 ist. Die Warenhäuser des späten 19. Jahrhunderts wurden durch Einkaufszentren oder Shoppingmalls ersetzt, aber die Marketingstrategien und Mechanismen der "geheimen Verführung" sind weitgehend dieselben. Als im vergangenen Monat gleich zwei solche Malls in Stuttgart eröffnet wurden, berichtete die Presse darüber mit einer Hingabe, von der kulturelle Einrichtungen nur träumen können. Das Paradies der Damen ist, scheint's zum Paradies schlechthin geworden, sein Gott heißt Konsum. Dass uns Regisseurin Mareike Mikat nicht mit der Nase darauf stößt, sondern Zola, an dessen Text in der Übersetzung von Hilda Westphal sie sich eng hält, und der Übertragungsfähigkeit des Publikums vertraut, gehört zu den Meriten dieses Theaterabends.

paradiesderdamen 560a bettina stoessMatti Krause und der Tempel der Lüste  © Bettina Stöß

Oben und unten

Das Warenhaus stellt, wie die Markthallen oder die Börse, denen sich Zola in anderen Romanen gewidmet hat, eine Welt für sich dar und kann zugleich als Metapher für die kapitalistische Gesellschaft im Ganzen verstanden werden. Für die Dramatisierung hat das den Vorzug, eine überschaubare Zahl von Menschen an einem Ort zusammen zu bringen, an dem es – sozial wie räumlich – eine deutliche Opposition von Reichtum und Armut, von Machtausübung und Abhängigkeit gibt. Was die Antagonisten mehr als nur an einem Ort zusammen bringt, ist das erzähltechnisch oder dramaturgisch nicht eben originelle Motiv der Liebe. Zwischen Aschenbrödel und Prinz und Pretty Woman's Julia Roberts und Richard Gere haben Zolas kleine Verkäuferin Denise und der Warenhausbesitzer Octave Mouret ihren Platz. Immerhin zeigt uns die Stuttgarter Inszenierung eine Denise, die ihre Selbstachtung bewahrt, auch wenn sie dem Drängen Mourets nachgibt.

Den liebeskranken Kaufhausbesitzer, der zur banalen Erkenntnis gelangt, dass Geld allein nicht glücklich macht, spielt Matti Krause. Die übrigen fünf Darsteller schlüpfen auf offener Bühne, einer Spielfläche mit einem Miniaturwarenhaus auf einem blauen Sockel, einer engen Aufsichtskabine, die über eine Treppe erreichbar ist, und einer weißen Kiste, der die Figuren entsteigen, in vierzehn Rollen, wandlungsfähig und agil.

Karikatur mit Intermezzo im Schnee

Weil sich der Roman nicht ganz in Dialoge auflösen lässt, sprechen die Figuren Fragmente des Erzählertextes, reden also zwischendurch über sich selbst in der dritten Person. Naturalismus, den man gemeinhin mit Zola assoziiert, hatte die Regie nicht im Sinn. Sie bevorzugt bis zur Pause die Karikatur. Danach ändert sich die Tonlage. Die Begegnung von Denis und Mouret im Schnee gerät zu einem lyrischen Intermezzo. Den Konkurrenzkampf zwischen dem Warenhausmogul und dem Onkel von Denise inszeniert Mikat als Duell der Zaubertricks, Mourets Werben um Denise als ungestümen Tanz.

Vor dem Ende realisiert Denise eine Utopie vom Warenhaus als philanthropischer Anstalt. Wir aber wissen: sie ist so illusionär wie die Liebe zu dritt zwischen Jules, Jim und Catherine. Jeanne Moreaus Chanson Le tourbillon de la vie aus Truffauts Film zieht sich leitmotivisch durch den Abend.

 

Das Paradies der Damen
nach dem Roman von Émile Zola, Übersetzung von Hilda Westphal
Regie: Mareike Mikat, Bühne: Simone Manthey, Kostüme: Katharina Müller, Musik: Moritz Krämer, Dramaturgie: Katrin Spira.
Mit: Christian Czeremnych, Sandra Gerling, Horst Kotterba, Matti Krause, Abak Safaei-Rad, Christian Schneeweiß, Birgit Unterweger.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause 

www.staatstheater-stuttgart.de 

 

Kritikenrundschau

Cornelie Ueding sprach ihre Kritik in "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (13.12.2014): In der Version von Mikat trete die Liebesgeschichte "plakativ in den Vordergrund", so dass Zolas "eigentliches Anliegen" fast verloren ginge: "mit welcher Brutalität und Gnadenlosigkeit der Siegeszug unserer schönen neuen Warenwelt einsetzte". "Theatralisch blutleer" sei der Abend, der Romantext nicht theatertauglich adaptiert worden, statt "Verkaufsstrategen und modebesessener Kundinnen" erlebe man nur "versonnene Erzähler ihrer selbst". Das Resultat: "Peinigende Verlangsamung und bleischwere Lethargie". "Komische Sprünge in und aus der engen Kiste", in der die kleinen Familienbetriebe steckten, nötigten "allenfalls Respekt für die akrobatischen Fähigkeiten der Darsteller" ab.

Auf SWR 2 sagte Rainer Zerbst: Natürlich sei Mareike Mikat nicht um eine Anspielung auf das neueste Stuttgarter Einkaufzentrum Milaneo herum gekommen. Filmbilder von drei durch das Haus lustwandelnden SchauspielerInnen kombiniert mit denselben sich in Stoffbahnen suhlenden SchauspielerInnen gäben ein gelungenes Bild für den "Kaufrausch" ab und eine "der besten Szenen des Abends". Leider aber versuche Mikat gar nicht, den Roman für die Bühne umzusetzen, und so erlebe man über weite Strecken Erzählungen "mit eingestreuten theatralischen Szenen".

Auf der Website der Stuttgarter Zeitung (15.12.2014) schreibt Roland Müller, Mikat erzähle nichts aus Zolas Roman was "irgendeine Dringlichkeit, irgendeine Stoßrichtung erkennen" ließe. Sie folge einfach dem "Handlungsverlauf von A bis Z", ohne eigene Schwerpunkte zu setzen, die szenische Fantasie bleibe "überschaubar", im Theater breite sich "lähmende Harmlosigkeit" aus. "Vorschriftsmäßig" exekutiere das siebenköpfige Ensemble den "gängigen Katalog der Romandramatisierungen", allein Sandra Gerling als "wundersame Märchenfigur aus einem Kaurismäki-Film, gemischt aus Aschenputtel und hässlichem Entlein" rette diese "ideenarme Aufführung" vor dem sofortigen "völligen Vergessen".

Wer vernichtende Konsumkritik erwartet hatte, sei wohl enttäuscht worden, schreibt Judith Engel, die sich in den Stuttgarter Nachrichten (15.12.2014) weitgehend mit der Beschreibung des Vorfindlichen begnügt. Statt Konsumkritik habe es "zauberhafte Bilder" gegeben, wie auch Zolas Roman voller Bilder sei. Leider stehe die seichte Liebesgeschichte am Ende "zäh im Vordergrund", spannender sei, was "nebenbei" geschehe: Zauberkunststücke oder die in Stoffballen wühlenden Schauspielerinnen.

 

Kommentare  
Paradies der Damen, Stuttgart: Mohrrübe vor dem Esel Proletariat
Emile Zola: Das Paradies der Damen, Regie: Mareike Mikat

„Das Paradies der Damen“ ist im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts im Roman Zolas eine Art ideales Kaufhaus in Paris, das für modernes Management und Verkaufsmethoden steht, ein Riesenkaufhaus, das den Niedergang des Pariser kleinen Einzelhandels betreibt und beerbt. Man könnte also sagen, es stand am Anfang jenes Prozesses der Warenästhetik, der in Stuttgart mit dem Gerber und dem Milaneo zwei neue und letzte (Sumpf-)Blüten treibt.
Die theatralische Rückschau auf die Entstehung des modernen Kaufhauses und Einzelhandels, von dem wir nicht wissen, ob ihm der Online-Handel nicht den Garaus machen wird, versprach spannend zu werden, zumal der Autor Zola für jene Art des Romans steht, den man Realismus (eigentlich Naturalismus, aber das spielt hier keine Rolle) nennt, und der im postmodernen Theater leider etwas selten geworden ist. Der Neoliberalismus, das ökonomische Pendant zur Ideologie der Postmoderne, liebt den Nebel freier Assoziation, Paradoxes, Klamauk und individuelle Hybris, von Realismus kann keine Rede mehr sein.

Nun betreibt das postmoderne Theater auch eine Art name-dropping, eine Art Verwurstung des kulturelles Erbes der Aufklärung, in dem sich Intendant und Regisseure an großen und kleineren Namen abarbeiten: von Brecht über Thomas Mann zu Wilhelm Raabe und jetzt eben Zola.

Zumindest der erste Teil des Abends war freilich am Roman orientiert und schildert eine Geschichte, nämlich wie eine junge Frau vom Lande nach Paris kommt, eine Anstellung sucht und in jenem neuen Kaufhaus findet. Auch wenn der Ton des ersten Teils mitunter etwas klamaukig ist, wurde eine interessante Geschichte auf amüsante Weise erzählt. Leider ging der Regisseurin Mareike Mikat wohl die Puste aus, der zweite Teil endet im Kitsch der Liebeswirren und Fantasien der beiden Protagonisten, dem Kaufhausbesitzer und jener jungen Frau vom Land. Zwar wird noch mächtig von der Rolle gezogen, aber das Thema des Romans, wie die junge Frau das Kaufhaus umtreibt, verschwindet im „Menschlichen“ und Utopischen.

Den angekündigten Bogen zur Konsumwelt von heute, der auch in der Presse angekündigt war, erkennen wir nur in ein paar Video-Sequenzen und Papiertüten, die Aktualisierung bleibt also dünn; die Kannibalisierung des Einzelhandels, die wir auch in Stuttgart und der Umgebung erleben und erleben werden, ist nur historisches Thema. Auch Alternativen, wenn es die denn gebe, sehen wir nur in karikierter Form als „sozialistische“ Fantasien über die Wohltaten des Kaufhauses.- Die Frauen werden als blindwütige Konsumenten dargestellt, warum sie dazu wurden, steht dahin, auch wenn die Beschreibung der Verführungskünste der Warenwelt immer wieder sehenswert ist.
Theater und Roman vermenschlichen gesellschaftliche Entwicklung anhand ihrer Protagonisten, machen typischen Konflikte in gesellschaftlich relevanten Prozessen verständlich und in ihrer Tragik wie Komik menschlich nachvollziehbar und nach-erlebbar. Was wir gesehen haben, ist ein Handels-Kapitalist in Aktion in der Hochphase des Konkurrenzkapitalismus. Eine Charaktermaske und doch auch eine Persönlichkeit dahinter mit einer Message, die sich der Dialektik ihrer Handlung und deren Folgen wohl bewusst ist. Diese Offenheit des Eroberers macht ihn auch anfällig für das historisch Zurückgebliebene, den Charme des Mädchen vom Lande, hier könnte man von Authentizität sprechen. Hinter der Charaktermaske des Kapitalisten verbarg sich noch ein Mensch, der, wir wiederholen uns, den Folgen seines Tuns, die Ruinierung der alten Einzelhandels, wohl bewusst war. D.h. aber auch, in diesem Punkt ist das Stück nicht aktualisierbar, weil der einzelne Kapitalist als Unternehmer schon lange durch Manager und Aktiengesellschaften abgelöst ist; und hinter deren Charaktermasken verbirgt sich nichts mehr.

Die Entfremdung der Menschen im Neoliberalismus hat einen Grad erreicht, bei dem auch die Liebe die Klassengegensätze nicht mehr überbrücken kann, wenn das nicht schon immer Lüge war, und auch der Aufstieg durch Fleiß den meisten Arbeitnehmer ebenfalls nur noch als faulige Mohrrübe vor dem Esel Proletariat erscheint.
Wenn nun auch durch den ersten Teil des Stückes auf der absteigenden Linie der literarischen Bearbeitungen in Stuttgart ein Anderes versucht wurde, so bleibt doch insgesamt nach dem Besuch der ausverkauften Premiere ein Gefühl der Unzufriedenheit, dem Thema mal wieder nicht gerecht geworden zu sein. Daran ändert auch der lange verdiente Beifall für die SchauspielerInnen nichts.
Kommentar schreiben