Kein Anschluss unter dieser Handy-Nummer

von Alexander Kohlmann

Kassel, 13. Dezember 2014. Nur kurz fahren die schwarzen Schiebetüren auseinander wie elektrische Türen in einem Krankenhaus. Dahinter ein Gang mit Kacheln und ein Mann mit Krone und grünem Klinik-Leibchen. Dann gehen die Türen wieder zu und der Geist ist verschwunden, als sei er nie dagewesen. Vieles in Gralf-Edzard Habbens Inszenierung deutet darauf hin, dass wir hier drei Stunden lang nur einen Traum von einem Hamlet erleben, der längst in einer geschlossenen Einrichtung sein Dasein fristet.

In der Klinik

Das Krankenhausbett, das schon beim Einlass in der Mitte des von schwarzen Wänden umgebenen Bühnenquadrats steht. Oder die Männer und Frauen im weißen Kittel, die am Anfang das Geschehen von einer Art Wehrgang wie in einem gigantischen Experiment von oben verfolgen. Neben den schwarzen Türen sitzt die ganze Zeit eine Reinigungskraft nebst Wagen und kleiner Tischlampe. Irgendwie würde es einen nicht wundern, wenn irgendwann die schwarzen Wände in den Schnürboden entschweben und nackte Klinik-Kacheln das gesamte Spielfeld begrenzen, zu dem auch eine grüne Kunstrasen-Fläche ganz vorne an der Rampe gehört.

hamlet1 560 n.klinger uDie Jugend auf dem Weg zum Grab: Peter Elter (Hamlet), Eva Maria Sommersberg (Ophelia) und Artur Spannagel (Laertes) © N. Klinger

Die Grundaufstellung hat Charme, wenigstens wenn man sie auf das Bühnenbild reduziert. Das ist kein großes Wunder, denn Habben (inzwischen 80 Jahre alt) hat als Bühnenbildner jahrzehntelang deutsche Theatergeschichte mitgestaltet, unter anderem an der Seite von Roberto Ciulli. Wie immer es auch zu dem späten Regie-Debüt gekommen ist, die Wahl Habbens als Hamlet-Regisseur ist eine starke Setzung wider den Jugendlichkeitswahn an deutschen Häusern. Ein Versuch, mit einem erfahrenen Theatermann, frei von Profilierungswillen und ohne Scheu vor psychologischem Realismus, Shakespeares Plot in seiner funkelnden Komplexität zur Geltung zu bringen. Die Lust auf diesen Abend war groß. Alleine, es hat nicht funktioniert. Denn der Realismus, den Habben jenseits des durchaus aussagekräftigen Setting auf die Bühne bringt, hat mit einem psychologischen Durchdringen der Figuren nur wenig zu tun. Komplexe und lebendige Charakterportraits – Fehlanzeige.

Mit Totenschädel und Walzertanz

Die Schauspieler gehen brav auf und ab, üben sich in Standbein und Spielbein, nicken zustimmend und schnaufen bedeutungsvoll. Fast alle Spieler tragen Shakespeares Text so ausgestellt vor sich her wie Hamlet im zweiten Teil den obligatorischen Totenschädel. Überhaupt, der Totenschädel, da fährt der Grabstein auf dem Kunstrasen nach unten um mit zwei Totengräbern wieder hoch zu fahren, die genau jenen Text rezitieren, von dem wir jede Pointe kennen. Etwas interessanter ist es, wie Laertes mit seiner toten, schlaff-herabhängenden Schwester Ophelia einen letzten Walzer tanzt. Aber jenseits dieses stimmungsvollen Settings, was soll man zu diesem schwarz gekleideten Mann, der Laertes' Text spricht, schreiben?

Fast nichts bleibt von all diesen Figuren im Gedächtnis, außer absurden, äußerlichen Details, wie dem Handy des ergrauten Sekretärs Polonius. Ein altes Klapp-Handy ist das, kein Smartphone. Als es klingelt, guckt er erst vorwurfsvoll in den Zuschauerraum, dann kramt er in der Tasche, aus der allerhand Krempel herausfällt, dann findet er es schließlich und geht endlich dran. Mann, müssen solche Späße lustig gewesen sein, in einer Zeit, als die Handys auch auf den Bühnen noch eine unerhörte Neuheit waren.

Pistolenschuss und Schweigen

An diesem Abend sind auch die Kostüme aus einer anderen Zeit. Vom weiß gepunkteten, züchtigen Kleid Ophelias bis zum schwarzen Mantel Hamlets wird eine Heutigkeit behauptet, die längst Vergangenheit ist. Und auch das ehrbare schauspielerische So-tun-als-ob kann in Kassel nicht reaktiviert werden. Eine Überraschung gibt's immerhin im Finale. Die Intrige von Hamlets Stiefvater Claudius beim Duell mitsamt der Verwechslung des Giftbechers, die den versehentlichen Tod von Hamlets Mutter nach sich zieht, sind radikal eingekürzt. Hamlet erschießt Claudius kurzerhand mit einer Pistole und überlässt der Krankenhaus-Putzfrau in der Ecke die berühmten Schlussworte: "Der Rest ist Schweigen".

Vielleicht ist inzwischen eine Schauspieler-Generation herangewachsen, die so ausgiebig schon auf der Schauspielschule eingebläut bekommt, dass das ungebrochene Spielen von Figuren irgendwie von gestern sei, dass diese kunstvolle Form des Theaters in Deutschland inzwischen längst verloren gegangen ist. Vielleicht scheitert der Versuch, das Theater von Gestern noch einmal groß aufleben zu lassen, auch schlicht daran, dass es das Publikum von gestern nicht mehr gibt. Dann wäre das Staatstheater Kassel mit seinem Versuch, ein Stück des Erbes zu bewahren, schlicht zu spät gekommen.


Hamlet
von William Shakespeare
Deutsch von Frank Günther
Regie: Gralf-Edzard Habben, Bühne: Gralf-Edzard Habben, Kostüme: Heinke Stork, Musik: Georgy Vysotsky, Licht: Dirk Thorbrügge, Dramaturgie: Michael Volk, Choreografische Mitarbeit und Kampfchoreografie: Lillian Stillwell.
Mit: Bernd Hölscher, Christian Ehrich, Christoph Förster, Peter Elter Jürgen Wink, Eva Maria Sommersberg, Artur Spannagel, Anke Stedingk, Uwe Steinbruch, Franz Josef Strohmeier, Klaus Strube, Georgy Vysotsky, Marina Vysotsky.
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 

Kritikenrundschau

In der Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen (15.12.2014) schreibt Bettina Fraschke, Habben kreiere in seiner ersten Regiearbeit "Bilderwelten – ohne sie jedoch konzeptuell stringent auszuformen". Er schaffe einen starken Assoziationsraum, arbeite aber inhaltlich zu wenig damit. "Zu klischeehaft ist daneben das Setting am kunstrasenumgrenzten offenen Grab – in den Szenen hier wird einfach klassisch-nett runtergespielt." Getrauert werde hier nicht. "Hamlet verzweifelt an dem fremden, unverständlichen System, in dem er sich zu bewegen hat."

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