Gruppenbild mit Hund

von Sabine Leucht

München, 19. Dezember 2014. Archie ist Richards und Berthas Sohn. In München heißt er Dine Doneff und lässt mit linkischen Bewegungen seinen Kontrabass fauchen und jaulen. Er reagiert nicht auf Ansprache und sinkt in Spielpausen schlaff in sich zusammen. Dass ihn die anderen seltsam finden, leuchtet ein. Wie sehr dieses Seltsamfinden sie entlastet, spürt man erst am Ende des Abends, wo Archie noch einmal kurz im Zentrum steht und sich die vier Erwachsenen endlich von ihrer eigenen Seltsamkeit erholen können. Die ist gewachsen, je harmonischer Archies Musik geworden ist. Doch der Reihe nach:

Das verborgene Paradies der Hingabefähigkeit
Gelesen ist der Dreiakter schnell. Denn wo der Romancier James Joyce sich in Details erging, kreierte er als Dramatiker vor allem Lücken, Pausen und, ja, auch Rätsel. So ganz glücklich kann er damit aber selbst kaum gewesen sein, denn "Exiles", 1919 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt, weil keine englischsprachige Bühne sich erbarmte, ist Joyces einziges Stück geblieben. Man erkennt in ihm die Liebe zu Ibsens wahrheitssuchenden Selbstzerfleischern und dramatischen Bauplänen. Und die biografischen Details, die es mit seinem Autor verbinden: Joyce verließ 1904 das katholische Irland mit der Hotelangestellten (und späteren Molly Bloom und Mrs. Joyce) Nora Barnacle nach Italien und fühlte sich dort wie ein Vertriebener. Bei Richard und Bertha, die in "Exiles" nach Dublin zurückkommen, könnte eines der Paradiese, zu denen ihnen auch weiterhin der Eingang versperrt ist, das der Hingabefähigkeit sein. 

exiles3 560 judith buss uMarie Jung, Sylvana Krappatsch, Stephan Bissmeier, Kristof van Boven, Dine Doneff
© Judith Buss

Nicht umsonst ziert also bei Luk Percevals Neu-Inszenierung am Ort der Uraufführung ein überlebensgroßes Hundekopf-Bild die Bühnenrückwand; mit wachen Ohren und traurigen Augen, in jeder Situation präsent, sich und den seinen treu und erst gar nicht fähig, sich zu verstellen. Dagegen ist dem Menschen-Quartett, das da knapp unter seinen Lefzen seine Liebeswirren ausbreitet, das Maskenspiel schon in Fleisch und Blut übergegangen. Eine – Marie Jungs Beatrice – trägt eine starre kühle Mine aus Selbstschutz, weil die Seele sonst blank läge. Während ihr Cousin und Ex-Lover Robert in Gestalt des fatsuitgepolsterten Kristof Van Boven seinen sich ständig eklig verziehenden Mund noch nicht unter Kontrolle hat. Dass sein ganzer massiger Leib eine einzige erogene Zone ist, zeigt eine Szene, in der Silvana Krappatschs Bertha erst ihren Hintern an seinem reibt und schließlich rücklings auf seinem Rücken zu liegen kommt.

Die Blick-Sinn-Entkopplung
Perceval, dem es in der Vergangenheit oft gelungen ist, einen scheinbar groben, fluchenden Klotz wie etwa Thomas Thiemes Othello zugleich auch anrührend menschlich zu zeigen, belässt es diesmal bei artifiziellen Figuren. Eine Nähe zu ihnen oder gar Empathie stellt sich nicht ein, dabei ist das, was sie durchmachen, nicht gar so abgehoben: Beatrice hat – vermutlich schon immer – Richard geliebt, der sie zumindest als Muse wiederliebt, aber mit Bertha verheiratet ist, die von Robert begehrt wird und sich vielleicht auch mit ihm einlassen würde. Man weiß nur nicht recht, ob eigenes Begehren dahintersteckt, Rache an Richards wiederholter Untreue oder am Ende gar verquerer Gehorsam; denn während Richard will, dass sie sich alle Freiheiten nimmt, will sie ihm nur gefallen, wozu das Wahrnehmen dieser Freiheiten möglicherweise dazugehört. Jedenfalls legt das Percevals Ansatz nahe, der Krappatsch mit artiger Kleinmädchenstimme von den ersten Knospen ihrer Affäre berichten lässt, was Stephan Bissmeier als Richard mit der ungerührten Haltung eines Inquisitors entgegennimmt.

Der Abend, der Joyces konversationsstückhaftem Kammerspiel mit großer Anstrengung den Kammerspielcharakter auszutreiben versucht, folgt in großen Teilen dem Trend, dass auf den Bühnen der Münchner Kammerspiele derzeit gerne herumgestanden wird, teils aber auch Percevals eigener Vorliebe für eruptive Ausbrüche ohne psychologische Motivation. So ist es zwar lustig und schräg, wenn Robert plötzlich stampfhopsend aus seiner Bühnenecke hervortanzt, Bertha eine laute und grelle Lach-Arten-Persiflage in eine Geisterbahngrimasse münden lässt oder Richard so lange "Machst du mir'n Vorwurf?" fragt, bis der Satz nur noch Geräusch und Melodie ist. Fragen aber werden durch weniger spektakuläre Inszenierungsideen generiert wie etwa durch den lange aufrechterhaltenen Blickkontakt zwischen eigentlich gerade gar nicht interagierenden Figuren. Wer hier gerade angeschmachtet oder losgelassen wird, ist also nicht unbedingt gemeint. Und wen man meint, weiß man vor lauter  gewohnheitsmäßigem Instrumentalisieren vielleicht schon selbst nicht mehr. Da kann der Hund, der – unablässig sich selbst treu – über dem ganzen Menschenschlamassel thront, auch nur weiter die Augen aufsperren.

Exiles
von James Joyce
deutsch von Klaus Reichert, in einer Fassung von dem Ensemble, Luk Perceval und Jeroen Versteele
Regie: Luk Perceval,  Bühne und Kostüme: Katrin Brack, Musik: Dine Doneff, Licht: Mark Van Denesse, Dramaturgie: Jeroen Versteele.
Mit: Stephan Bissmeier, Sylvana Krappatsch, Marie Jung, Kristof Van Boven, Dine Doneff.
Dauer: 1 Stunde, 30 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Wer sich auf die "klare Setzung" dieses Abends "Achtung, Kunst!" nicht einstelle "und während der neunzig Minuten sich nicht auf die Anstrengung (mit) dieser Kunst einlässt", dürfte seine Schwierigkeiten haben, schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (22.12.2014). "So wie die Leuchtkugellampen der Ausstatterin Katrin Brack an ferne Gestirne im Sonnensystem erinnern, die ihren eigenen kosmischen Gesetzen folgen, so ziehen in Luk Percevals Inszenierung auch die Figuren – zwei Männer, zwei Frauen – wie einsame Planeten ihre Kreise umeinander. Auf einer Umlaufbahn, die sie Liebe nennen oder vielleicht auch damit verwechseln." Dabei strahle "eine seltsame Energie" ab, so Dössel: "Wer dafür empfänglich ist, wird etwas spüren von der existentiellen Verlorenheit des Menschen und seinen so traurigen wie lächerlichen Versuchen, ihr durch Paarbildung und Partner-Besitzergreifung zu entkommen."

"Von einer großen Kammermusik bleibt: kleinstknöchelndes Klingeling", wütet Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.12.2014). Man sehe nicht vier komplizierten Menschen zu, sondern vier tierisch durchgeknallten, resteverwerteten Typen. "Joyce für Deppen."

Kommentare  
Exiles, München: Leipzig-Vergleich
Interessante Beschreibung! Percevals Vorliebe oder den "Münchener Kammerspiele-Trend", den sie hier beschreiben, habe ich vor zwei Wochen auch bei Lübbes "ZEITEN DES AUFRUHRS" gesehen. Aber ich muss zugeben, die 1,5 h in München kamen mir länger vor als die 4 h in Leipzig.
Exiles, München: bessere Vorlage
@Trend
das ist ja auch keine leistung! luebbe hatte die bessere vorlage!
Exiles, München: Abschiedsgruß von Stadelmaier?
Stimmt es eigentlich, dass Gerhard Stadelmaier zum Jahresende bei der FAZ in Rente geht? Kriegen wir von ihm noch einen Abschiedsgruß oder waren "Quatsch und Quark" schon seine letzten Worte?
Exiles, München: dictum summum
Wären "Quatsch und Quark" seine (Stadelmaiers) letzten Worte gewesen, es wären würdige: eine alliterierende Essenz seiner Sicht auf das Theater, ein dictum summum all seiner Kritiken!
Exiles, München: multidimensionales Bild
Luk Percevals Exiles macht es dem Zuschauer nicht leicht mit seinen eineinhalb Stunden Stillstand, seinen langen Schweigephasen und noch längerer Sprachmonotonie, seinem starren Herumstehen und strenger statischer Choreographie. Nur Krappatsch darf ein paar Ausbruchsversuche exemplarisch vorführen, während es Van Boven obliegt, die Ebene der Lächerlichkeit einzuziehen. Und doch wird der aufmerksame Zuseher belohnt: Denn was diese diszipliniert und präzise agierenden Darsteller, tun oder eben nicht tun, webt ein multidimensionales Bild der existentiellen Verlorenheit des (post)modernen Menschen, für den Nähe jederzeit verfügbar scheint und doch immer seltener eingelöst wird, der auf die Dauerverfügbarkeit mit immer stärkerer Abschottung reagiert. So ist der digital native unserer Zeit so weit nicht entfernt vom sich in seiner zunehmend unverständlichen Welt fremd fühlende und zutiefst vereinsamte moderne Mensch vor hundert Jahren. Es scheint – und hier stimmt Joyces Text Percevals Interpretation zu – als seien wir nicht besonders weitergekommen. Vielleicht wussten wir das schon, und doch ist es keine Zeitverschwendung, es uns von diesem intensiven und vielschichtigen Abend noch einmal sagen zu lassen.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/03/02/unter-dem-hundeblick/
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