Die Streber sind Mittelmaß

von Andreas Schnell

Bremerhaven, 26. Dezember 2014. In Peer Gynt steckt viel vom modernen Menschen. Durchaus auch ein Kapitalist, der die Welt erobern will, ein Größenwahnsinniger, der es unter Kaiser gar nicht macht. Aber eben auch ein radikaler Selbstverwirklicher, was alles mehr miteinander zu tun hat, als es zunächst scheinen mag – aber ganz dasselbe dann doch nicht ist.

Nach Individualität gieren

In Bremerhaven ist er vor allem auf der Suche nach sich selbst, fast drei Stunden lang, um am Ende – die berühmte Zwiebel ist gehäutet – unter der letzten Schicht das Nichts zu finden. Die Eroberungszüge in die weite Welt, Afrika, Orient, Okzident, das alles findet eher, wenn überhaupt, als Andeutung statt. Seine teils bizarren Liebesabenteuer sind da schon viel wichtiger.

Das zu erzählen, hat Ulrich Mokrusch, im Hauptberuf Intendant des Bremerhavener Stadttheaters, einiges aufgefahren: Schauspieler, Opernsängerinnen, die Ballettcompagnie, den Opernchor, die Philharmoniker. Letztere geben Edvard Griegs wohlbekannte Peer-Gynt-Suite zum besten, mal atmosphärisch im Hintergrund, mal als Zwischenspiel eingestreut. Und dann ist da noch eine Rockband. Anscheinend glaubt man, dass der Rockstar immer noch zum gängigen Repertoire jugendlicher Identitätsformen gehört – ob auch in dieser braven Ausführung, das steht allerdings zur Frage.

peergynt3 560 heiko sandelmann uGlobal Gartenparty? © Heiko Sandelmann

Dieser Peer Gynt, er scheint jedenfalls auch am Ende noch nicht alt geworden zu sein. Und kein bisschen weise. Dass ihm am Ende der Knopfgießer lediglich mitzuteilen hat, dass sein Streben im Mittelmaß resultiert, ist folgerichtig: denn wo eine ganze Gesellschaft danach giert, unverwechselbares Individuum zu sein (wenn schon sonst meist wenig), sind sich ihre Mitglieder dann eben doch wieder sehr gleich.

Grüner Teppich unter den Füßen

Ganz nach oben wollen sie alle. Der Weg dorthin, in Bremerhaven ein grüner Hügel, vielleicht auch ein Deich, was zur Stadt am Meer passen würde, ist abschüssiges Gelände, auch wenn es noch so einladend grün daherkommen mag. Und das Grün kann – einem Teppich gleich – den Strebenden, wie es hier später geschieht, unter den Füßen weggezogen werden, um eine nüchterne Holzfläche freizugeben, auf der es auch nicht mehr Halt gibt.

So schlicht das Bild, so opulent, wie angedeutet, das Geschehen. Schon gleich zu Beginn wird Peer Gynt als Doppelwesen eingeführt, den einen gibt der Schauspieler Sebastian Zumpe, den anderen der Tänzer Oleksandr Shyryayev, die beiden umtänzeln sich, kreisen umeinander spiegeln sich – die Verdoppelung des Individuums. Immer wieder wird Shyryayev dem hochfahrenden Helden den Spiegel vorhalten, dem Zumpe allerdings kaum gewachsen ist. Die Intensität, "die Anarchie, dieses Lebenwollen, dieses Rauswollen aus der Enge" und das "Über-Grenzen-gehen", die Mokrusch an der Figur interessieren, wie er im Programmheft zu Protokoll gibt, sie bleiben Behauptung.

Weihnachtsmärchen für Erwachsene

Selbst hochemotionale Szenen wie der Tod der Mutter (Isabel Zeumer) geraten merkwürdig kühl; mit diesem Gynt mitzuleiden, dem Mokrusch eine Perspektive zugestehen will, fällt schwer. Immerhin die Sopranistin Regine Sturm als Solveig kann vor allem in den Liedern die Bedingungslosigkeit ihrer Liebe zu Peer Gynt glaubhaft machen. Auch Andreas Möckel, unter anderem als Knopfgießer, und Kay Krause, Bremerhavener Schauspiel-Urgestein, der hier vor langen Jahren selbst als Peer Gynt auf der Bühne stand und jetzt unter anderem als Trollkönig mitwirkt, lassen ahnen, was aus diesem Abend hätte werden können, wenn doch nur die Hauptrolle adäquat besetzt wäre und man sich inhaltlich fokussiert hätte – und weniger auf Weihnachtsmärchen für Erwachsene gesetzt hätte.

Dass Mokrusch auch anders kann, hat er zuletzt mit seiner spektakulären Inszenierung von Peter Maxwell Davies' Oper "Kommilitonen!" bewiesen. Doch diesmal erleidet die Inszenierung das Schicksal ihres Helden: Eine Erlösung findet nicht statt. Am Ende sitzt Peer Gynt ratlos da. Ein bisschen wie sein Publikum, das, nachdem denn nichts so richtig zünden wollte, eher verhalten applaudiert.

 

Peer Gynt
Spartenübergreifendes Projekt mit Text von Henrik Ibsen und Musik von Edvard Grieg
Regie: Ulrich Mokrusch, Musikalische Leitung: Ido Arad, Choreographie: Sergei Vanaev, Ausstattung: Okarina Peter, Timo Dentler, Dramaturgie: Karin Nissen-Rizvani, Juliane Piontek.
Mit: Sebastian Zumpe, Isabel Zeumer, John Wesley Zielmann, Regine Sturm, Kay Krause, Andreas Möckel, Svetlana Smolentseva, Iris Wemme, Oleksandr Shyryayev, Cristina Commisso, Volodymyr Fomenko, Lidia Melnikova, Joshua Limmer, Opernchor und Balletensemble des Stadttheaters Bremerhaven, Philharmonisches Orchester Bremerhaven.
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.stadttheaterbremerhaven.de

 

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