Hotdogs und Hamlet

von Dorothea Marcus

Teheran, März 2005. Rauchschwaden ziehen durch das Theatercafé, als gäbe es in der verschmutztesten Stadt der Welt nicht schon genug Staub in der Luft. Anfang Januar hat die Stadtregierung die Kindergärten wegen Smog geschlossen. Nichts, was jemanden abhalten würde, am Wochenende auf die Skipiste in den nahen Bergen zu gehen - und das süße Leben der jeunesse dorée zu feiern, so westlich aussehend, als hätte es nie eine Revolution gegeben. Wenn man dagegen nach unten in den armen Süden fährt, ein U-Bahn-Ticket kostet 7,5 Cent, erstrecken sich kilometerweit die Gräber der „Märtyrer“ im Iran-Irak-Krieg. Zehntausende junge Männer mit Samtblicken, jeder hat ein Foto in einem Schränkchen unter einem Areal von Wellblechdächern. Die gleichen, die noch vor sechzehn Jahren als Kanonenfutter dienten, stürmen heute das Theater in Teheran.

"Glauben Sie, dass alle Iraner Terroristen sind?" fragt Reza, der sich zu uns setzt. Das haben auch mehrere Taxifahrer gefragt. Was bleibt uns Botschaftern des Kulturdialogs übrig, als erschrocken zu beteuern, wie weltoffen und kulturinteressiert Iraner sind - und dass es bei uns leider oft anders empfunden wird. Dass kaum jemand den Iran vom Irak, Perser von Arabern unterscheidet, dass Frauen für verschreckte, verschleierte Wesen gehalten werden – egal, wie oft man wiederholt, dass 64 Prozent der Studenten weiblich sind, prozentual mehr Frauen an verantwortlicher Stelle arbeiten als in Deutschland. Dass Perserinnen selbstbewusste, elegante Personen sind, von denen ein Großteil der Energie ausgeht, die hier zu spüren ist. Dass nicht vorstellbar scheint, wie eine kleine Zahl überalterter Fundamentalisten sie bändigen kann. Aber es gelingt, immer noch. Jeden Tag könnten wieder Schlägertrupps ausschwärmen, um die locker gebundenen Kopftücher, die lässigen Turnschuhe, die händchenhaltenden Paare brutal zur Räson zu rufen. Auf uns wirkt diese Bedrohung abstrakt und verschwommen.

 

Wir sind in Teheran, beim größten Theaterfestival im Nahen Osten. Vor 23 Jahren wurde das Fadjr-Festival gegründet, als Feier der Revolution - und dauert zehn Tage. Eine Morgenröte (Fadjr auf Persisch), so lang wie Khomeinis Weg vom Pariser Exil heim nach Teheran. Eine theokratische Selbstfeier ist es schon lange nicht mehr. Spätestens seit seiner Internationalisierung vor fünf Jahren werden hier provokative und politische Stücke gespielt. Ein gigantisches Theatertreffen mit rund 50 000 verkauften Karten und an sich schon ein Widerspruch zur Vorstellung, der Iran sei ein "Vorposten der Tyrannei". Hier im Theatercafé, bei Hotdogs, Coca Cola und alkoholfreiem Bier ist von Drohgebärden aus USA nichts zu spüren. Das Bier hat einen süßlichen Malzgeschmack, eine Restillusion von Alkohol, das Hotdog ist ein Wurstbrot mit Mayo. Ein Kommunikationspool, wo man ins Gespräch kommt, kaum dass man sich setzt.

 

Nur über Politik möchte niemand sprechen, auch Reza nicht. Dass wir Iraner mögen, macht ihn glücklich. Erst als ich nochmals frage, wie es sich anfühlt, vielleicht nächstes Zielgebiet der USA zu sein, erzählt Rezas Mutter, dass sie letztens geträumt hat, wie Bomben auf Teheran fallen. "Sie hat Wahrträume", sagt Reza, als sei Hellsehen eine Tätigkeit wie Geschirr spülen. "Drohungen sind wir gewohnt", sagt Masoud, der auch am Tisch sitzt. Masoud ist Schauspieler, seine Eltern leben seit acht Jahren in Norwegen. Er ist mit der Welt über ein unsichtbares Headset verbunden, und wenn er einen unhörbaren Anruf empfängt, entschuldigt er sich, hebt ein wenig das Kabel und spricht lässige Sätze hinein. Wenn wir in "Hamlet" wollen, müssen wir jetzt los, sagt er. Das Foyer des kreisrunden Stadttheaters von Teheran ist überfüllt. Ein Ticket hat drei Euro gekostet, so viel wie der Mindestlohn, die neue Leitung hat die Preise erhöht. "Theater for all" steht auf Transparenten. "Das ist ein schlechter Witz", hat Zarah, 23, gestern erzählt, "in diesem Jahr ist es total schwer, Karten zu bekommen, selbst für Theaterstudenten". Die Zeiten sind düster, sagen viele, seit bei den Parlamentswahlen kein Reformer zur Wahl zugelassen wurde.

Bei "Hamlet" werden jedoch alle hereingelassen: sie setzen sich zu zweit auf die Sitze und stehen hinter den Reihen. Die Inszenierung des Kuwaiters Sulayman Al Bassam ist auf arabisch. Hamlet spielt in einem Parlament, die dänische Königsfamilie sind machtbesessene Bürokraten des 21. Jahrhunderts. Hamlets Stiefvater ist gemäßigter Diktator eines arabischen Staates, mild lächelt sein Porträt. Der Geist ist ein Amerikaner: nachts überzeugt er Hamlet, dass sein Vater von imperialistischen Agenten ermordet wurde. Hamlet ist vom Willen zur "Reinheit" durchdrungen. Er zieht ein Mullah-Gewand an, wird zum Terroristen, dem alle zum Opfer fallen. Hamlets Wahn zum Guten mit religiösem Fundamentalismus gleichzusetzen, ist brisant, aber schlüssig. Im Gottesstaat scheint das niemanden zu interessieren. In Windeseile haben sich die Reihen geleert, andere senden MMS oder telefonieren. Auch Masoud geht, angewidert vom "Antiamerikanismus", der arabischen Sprache, die kaum ein Iraner beherrscht.

 

"Das war zu plakativ", sagt eine Zuschauerin, "das sind Probleme von Arabern, das hat mit Iran nichts zu tun." "Das sollte wohl aussagen, dass Krieg und Terrorismus aus der westlichen Kultur kommen. Aber sowas interessiert uns nicht", eine andere, "wir haben hier genug Politik. Was wir brauchen, ist mehr Kunst".

 

"Die Leute sind 26 Jahre nach der Revolution müde", sagt Laleh Taghian mit müden Augen, die wir im Dramatic Arts Center besuchen, eine zierliche Theaterkritikerin Ende 50. "Keiner hat mehr Kraft, sich für Politik zu interessieren". Früher war sie eng mit dem Festival verbunden, doch nun sind ihre Theaterzeitschriften eingestellt worden. "Das Festival droht, bedeutungslos zu werden", sagt sie, "Die neue Leitung versteht nichts von Theater, es sind politische und religiöse Männer." Seit sie da sind, herrscht Desorganisation, werden Theaterleute unter Druck gesetzt. Auch die Zensur hat sich verschärft - vielleicht auch, weil es bei einem Festival in der Provinz Khozestan vor kurzem zum Eklat kam. Eine armenische Gruppe trat in durchsichtigen Kostümen auf, seitdem sitzen die Leiter in Haft.

Tatsächlich wird in diesem Jahr wenig Politisches auf der Bühne verhandelt, als einzige deutsche Gruppe wurde das Freiburger Kinder- und Jugendtheater im Marienbad mit seiner von Puppen und Menschen gespielten Liebesgeschichte "Pero" eingeladen, bei der eine Wäscherin sich in einen Fremden verliebt, um ihr Glück doch zuhause zu finden. Obwohl die Iraner hingerissen sind, findet Taghian das bedenklich: "Jetzt wird also Puppentheater eingeladen. Wozu soll das gut sein?".

 

Die zweite Produktion der Freiburger könnte man auf die Situation iranischer Frauen beziehen: es die Geschichte der Schwestern Brontë, die, eingeschlossen im viktorianischen Wertekorsett, in ihren Köpfen Weltliteratur schufen. "Ich möchte den Schweiß aus deinen Poren saugen", sagt Charlotte zu ihrem imaginären Liebhaber Lord Byron - er will, dass sie ihr Haar öffnet. Es muss für den islamischen Sittenkodex wie Pornografie wirken, wird aber nicht zensiert. Die Haaröffnung findet im Kopf der Zuschauer statt, da ohnehin jedes Frauenhaar unter dem Kopftuch stecken muss, kaum dass man iranischen Luftraum erreicht. "Jede Iranerin hat das Stück auf sich bezogen - gerade dadurch, dass es sie nicht direkt beschrieben hat. Frauen im Iran können ihre Talente auch nicht zeigen. Es sagt uns, dass wir was tun müssen", sprudelt Sepideh nach der Vorstellung, deren Haaransatz man deutlich sieht. Kann man mit Theater Ehrenvolleres erreichen?

 

Die Iraner sind von einem Stück, das ihre Situation nur indirekt vorführt, jedenfalls viel begeisterter als von der provokativen deutsch-iranischen Koproduktion zur Festivaleröffnung. Mit iranischen Schauspielerinnen durfte die Berliner Choreografin Helena Waldmann ein Tanzstück erarbeiten, obwohl hier auf der Bühne nicht getanzt werden darf - das größte Projekt des Goethe-Instituts mit dem Iran in diesem Jahr, finanziert mit rund 30.000 Euro. Waldmann steckt ihre Schauspielerinnen in unförmige Alltagszelte, die hier am Strand und im Park benutzt werden und demonstrativ daran erinnern, dass "Tschador", Schleier, auch "Zelt" bedeutet. Ein groteskes Durcheinander von sprechenden Zelten, die aussehen wie monströse Kinderbuchfiguren. Eine gewaltige Metapher, die Zeltstädte nach dem Erdbeben von Bam und Identitätssuche assoziiert, aber vor allem die Kopftuchpflicht im Iran. "Ich hätte am liebsten alles heruntergerissen", sagt eine Iranerin. Für ihren Sohn ist das jedoch "Kunst, die zur Parole wird", andere reden von "Theatersport" und "typisch westlicher Sicht". Im Iran mag man keine Belehrungen, auch wenn sich viele bewusst sind, dass die iranische Theaterszene nicht mit der westlichen mithalten kann.

 

Der Leiter des Dramatic Arts Center, Khosrow Neshan, sieht das anders. Er ist stolz, dass zum ersten Mal über 50 europäische Festivalkuratoren - die meisten Deutsche - iranisches Theater in der Welt verbreiten werden. Vor allem aber ist er stolz darauf, wie häufig auf der Bühne Videos eingesetzt werden, als würde so das iranische Theater ein für alle Mal modernisiert.

Es wirkt jedoch eher wie eine pflichtschuldige Möblierung der bühnenbildarmen Stücke, bei denen meist wenige Personen auf düsteren Bühnen stehen. Wenn die Beamer überhaupt funktionieren, werden vorherige Arbeiten oder Bühnenbilder eingeblendet. Ansonsten besteht iranisches Theater aus vielen westlichen Stücken: Büchners "Woyzeck" ein folkloristisches Spektakel. Ein frech inszenierter "King Lear" von Shakespeare, in dem die Töchter ihrem Vater Wassermelone ins Gesicht spucken. Der melancholische Norweger Jon Fosse als lautmalerischer Comic. Don Quichote, humoristisch und lärmend als Kritik an der Festivalleitung. Beckett, Frisch, Miller, Antigone, Medea. Diverse Kriegsstücke, Liebeshöllen, Ausreißdramen junger Mädchen, die vor ihren Vätern flüchten. Zwei berührende Performances fallen auf: "Bitter as honey" von Attila Pessyani und "Recent Experiences" von Amir Reza Koohestani, der unter den Festivalkuratoren gehandelt wird wie ein heißes Rennpferd. Pessyani, so etwas wie ein Förderer des experimentellen iranischen Theaters, würde gerne an das große Shiraz-Festival aus vorrevolutionären Zeiten anknüpfen. Er nennt sich unpolitisch und hat dennoch einen beklemmenden Abend inszeniert: man hört nur das fürchterliche Wimmern eines blinden, tauben und stummen Mädchens im Niemandsland. Ein gefallener Engel mit blinkendem Herzen wird ihr einziger Verbündeter. Zwei fremde Mächte bedrohen sie, dahinter werden gewalttätige Bilder von Umerziehung projiziert. Die einzige Rettung der beiden scheint die mystische Entrückung nach oben - vielleicht der einzige Ausweg vieler junger Iraner.

Koohestanis Stück "Recent Experiences" ist erholsam einfach dagegen. Fast flüsternd erzählen sechs Schauspieler abwechselnd an einem Holztisch die Leidensgeschichte einer Familie. Nüchtern werden Jahreszahlen eingesprochen, während Schicksalsschläge und Glücksmomente auf sie einprasseln, sie weinen und lachen.

 

Der letzte Tag des Festivals ist der höchste schiitische Feiertag. In der Stadthalle findet eine pompöse Abschlusszeremonie mit Gebeten und Predigten statt. Auf dem Teheraner Hausberg Towchal sind die obersten Stationen der Skigondel wegen Überfüllung geschlossen. Auf dem Märtyrerfriedhof hocken schwarz verschleierte Frauen auf den Grabplatten ihrer Söhne. Der Muezzin ist auch heute kaum zu hören im Straßenverkehr. Gott scheint im islamischen Gottesstaat weit entfernt. Näher ist die Kunst.

 

zuerst erschienen in: Frankfurter Rundschau, 3. März 2005