"Los, Passant, komm!"

von Jan Oberländer

Berlin, 21. Februar 2008. Auf allen Bühnen, in allen Foyers, Sälen und Lounges von HAU 1–3, Sophiensaelen und Theaterdiscounter schüttet das 100°-Festival vom 21. bis 24. Februar einen großen Sack theatraler Gemischtwaren über dem Publikum aus. Alles, was sich zur freien Theaterszene zählt, konnte sich um eine Stunde Spielzeit bewerben. Beim ersten Festival im Jahr 2004 nahmen noch 100 Gruppen teil, mittlerweile sind es 150.

Was angemeldet wird, solange es freie Plätze gab, bekommt eine Chance: die improvisierte Lebensgeschichtserzählstunde ebenso wie die Eins-zu-eins-Begegnungsperformance oder die Tanzchoreographie. Das Programm ist dicht gedrängt, vielversprechende Aufführungen finden parallel statt, als Zuschauer muss man sich notgedrungen in Beschränkung üben. Mithilfe des Programmbuches kann man ein bisschen vorausplanen, letztlich muss man sich jedoch einfach immer wieder neu überraschen lassen.

Kürzestdramen aus der Jukebox

Was immer dazwischenpasst, sind die Kürzesttheaterstücke der beiden schwarz gekleideten, dezent geschminkten und sardinenmäßig in einen alten Sperrmüllspind gequetschten Performer von "Affe und Kuchen". Ihr bei allem betriebskritischen Überbau hochcharmanter "Klassikerautomat" macht das Theater zu einem käuflichen Konzentrat: Man lässt eine Münze durch den Geldeinwurfschlitz in die dahinter genagelte Tomatenmarkdose klimpern und wünscht sich eines der gut 200 auf der schmalen Schranktür aufgelisteten Dramen. Dann geht die Tür auf und Woyzeck pöbelt: "Was gafft Ihr so?!", oder es wird sich fünf Sekunden lang großäugig gesehnt und "Nach Moskau" gehaucht, bevor die Tür wieder zugeht (noch am 22.2. vor dem HAU 1, am 23.2. im Innenhof der Sophiensaele, am 24.2. im Theaterdiscounter).

Internetsex im Hotel California

Vielleicht erwischt man eine der Shuttle-Limousinen, die zwischen den einzelnen Spielorten hin- und herfahren. Im Theaterdiscounter war am Eröffnungsabend eine überraschend überzeugende Performance namens "Hotel California" zu sehen. Hierfür hat der Regisseur Christian Seltmann Original-Interviews mit amerikanischen Pornodarstellerinnen zu einer etwas grob gestrickten, aber witzigen und in Zeiten von allzeit verfügbarem Internetsex durchaus relevanten Awareness-Show über die "Chancen und Risiken des Online-Entertainments" verarbeitet.

Was sind das eigentlich für Frauen, die für ihre Fans so ziemlich alles anatomisch Vorstellbare – sowie noch so einiges mehr – mit ihren Körpern anstellen? Und was sind das für Fans? Das powerpointgestützte, ironisch-didaktische Frage- und Antwortspiel von Seltmanns drei Performern bezieht den Zuschauer direkt mit ein. Dabei unterhält es prächtig. Und entzaubert letztlich die Pornoindustrie als durchrationalisierten "Fleischwolf".

Flirting with Teheran

Martyna Starosta und Melanie Schlachter bleiben beim O-Ton. Ihre Installation "Flirting with Teheran" erzählt von der im Iran verbreiteten Praxis unter jungen Erwachsenen, von Autofenster zu Autofenster Telefonnummern auszutauschen. Der Straßenverkehr bietet im stark reglementierten öffentlichen Raum eine so rare wie willkommene Gelegenheit, Kontakt zum anderen Geschlecht aufzunehmen. Das Tonbandgerät immer im Anschlag, haben die beiden Künstlerinnen im Sommer 2007 eine Gruppe junger Iranerinnen bei mehreren Autofahrten durch die nächtliche Stadt begleitet und sich dabei mit ihnen – und mit einem jungen Mann, dessen Telefonnummer sie eingesammelt haben – über das Leben und Lieben im Iran unterhalten.

Der Clou: Den gut halbstündigen, mit iranischem Schmusepop durchsetzten Zusammenschnitt dieser auf Englisch geführten Gespräche hört man von CD aus den Lautsprechern eines Autos auf der Fahrt durch die an einem Donnerstagabend ziemlich langweilige Berliner Nacht. Zwar erschöpft sich der kontrastive Reiz der Präsentationsform nach einiger Zeit, dennoch bleibt die Installation ein eindrucksvoller Einblick und eine auch dokumentarisch wertvolle Ergänzung des westlichen Iran-Bildes.

Daseinsfeier mit Verena Unbehaun

Zurück im HAU 2 erwartet einen nach Stadtrund- und Shuttlefahrt eine wunderbar verspielte, die Formate von Schlagerschnulze und kabarettistischer Publikumsansprache aufs Wunderbarste unterlaufende Stunde von und mit Verena Unbehaun. Schwer zu erklären, was Unbehaun, die im HAU regelmäßig in Patrick Wengenroths "Planet Porno"-Produktionen mitwirkt, da eigentlich macht. Reden – improvisiert wirkendes, sprachspielerisches, niedliches, berührendes, absurdes Zeug, als hysterische Lehrerin und durchdrehende Geliebte. Und Singen, begleitet von Keyboarder Andy Reich. Herrliche Hymnen: "Los, Passant, komm! Nimm mich an der Hand! Berühr mich, wenn dir an Menschen etwas liegt!". Große Kleinkunst. Daseinsfeier.

Nee ehrlich: Det is' Berlin Alexanderplatz

Und am Ende dann die vier von der Ernst Busch. Da kleben sich vier junge, schöne Menschen einen weißen Klebebandquadratmeter auf die Hinterbühne des HAU 1, legen ein einziges Licht drauf und eröffnen damit und mit ihren Körpern und Stimmen einen riesengroßen Theaterraum: "Berlin Alexanderplatz oder was (eine Annäherung könnte man meinen nee ehrlich)".

Da ist Franz Biberkopf mit Tarntanktop (Sebastian Zimmler), da ist Mieze in Leggins und Katzenohrenhaarreif (Luise Wolfram), da ist Reinhold in ganz kurzer Hose (Michael Wächter), und da ist Eva im Rüschenkleid (Pedro Martins Beja, auch für Text und Regie verantwortlich). Aber da sind eben immer auch, und das ist das Wunderbare, die Schauspieler selbst, die sich ihren Figuren und einander, ja, annähern, sich ständig betasten, sich ohrfeigen und küssen. Die sich halb geprobt und halb improvisiert anätzen, privat und persönlich werden – immer mit der Frage im Hintergrund, wer hier jetzt eigentlich gerade wen konstruiert. Die fließend Döblinsch sprechen können und trotzdem immer und ausschließlich aus dem Jetzt kommen. Krönung des Abends. Man bleibt dran, bis zur letzten Sekunde.

Um Mitternacht: Bier und Reflexion

Ein Bier? Ein Bier. Nebenbei unterhalten sich – übrigens an jedem der drei 100°-Spielorte parallel – zwei "Mitternachtssprecher" über die Stücke, die sie in den vorangegangenen Stunden gesehen haben. Im Fall des Theaterwissenschaftlers Jens Roselt und des Regisseurs Peter Kastenmüller gelingt das uhrzeitangemessen lässig und ist sogar auch dann durchaus vergnüglich, wenn man ganz andere Stücke gesehen hat. Das ist ja eben das Schöne an diesem Überforderungsfestival: Dass man sich auf so viele verschiedene Weisen überraschen lassen kann.

 

100° Berlin
Das 5. lange Wochenende des freien Theaters
vom 21. bis 24. Februar 2008

www.theaterdiscounter.de
www.hebbel-am-ufer.de
www.sophiensaele.com

 

Kommentare  
100°/Gegen-Werther: Großartige Darsteller
„Die Leiden der alternden Medea / Der Gegen-Werther“ UA im Hebbel am 21.02.08 um 22: 00 Uhr

Lieber Arnd!

Meine Glückwünsche zur gelungenen Aufführung gestern im Hebbel Theater!
Ich fand die Hauptdarstellerin sehr überzeugend und besonders die musikalische Untermalung/Gesang hat mir sehr gut gefallen!
Es ist Dir gelungen, die Geschichte und Psyche der Charaktere in ca. 40 min auszubreiten. Ich habe ganz vergessen auf die Uhr zu schauen, so sehr wurde ich durch das Spiel der großartigen Darsteller in das Geschehen hineingezogen.
Die Reduktion der Mittel, Gesten war ein ausschlaggebender Grund für den Erfolg dieser Produktion.
Um Gottes Willen, warum war der Abend nur so kurz? Ich habe mir an dem Abend noch drei andere Produktionen vor der „Medea“ angesehen, da habe ich mich doch eher gefragt, warum spielen die so lang.
Seit den siebziger Jahren, des letzten Jahrhunderts, klebt die Off-Theaterszene an der Performance-Kunst wie ein lästiges Kaugummi, welches sie nicht entfernen lässt. Performance-Art geht mir zurzeit total auf den Geist, gerade wenn es als die Endeckung gefeiert wird. Nicht selten versteckt sich hinter einer Performance schlechte Kunst.

Die Dopplung der Jason – Figur, ist ein genialer Schachzug von Dir gewesen, wie eine Janusfigur trat Sie in das Räderwerk des Geschehens.

Die Liebe Kreons, zu seiner Tochter, die mir im Schussbild deutlich gezeigt wurde, hat die Tragik beider Figuren abgerundet.

„Wunderwaffe“ und „Drachenwagen“ der Neuzeit, so stellte ich den Bezug zu dem Bild der „roten Rakete“ her. Die lebenden Toten voller Hybris sowie Kinder der Religion, die den Menschen nur Unheil gebracht hat.
Wer hat das Bild gemalt? Oder ist es ein Druck?

Bei der herausragenden Leistung Deiner Truppe muss sich doch eine Bühne finden lassen, wo das Stück einem breiten Publikum gezeigt werden kann. Alles andere wäre eine Schande!

Ich hoffe, dass Du auch zufrieden mit dem Ergebnis warst.

Das war einer meiner "introvertierten" Abende, drum hab ich mich auch schon gleich nach der Aufführung wieder auf den Nachhauseweg gemacht.

Lieber Gruß!
Markus
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