Zwischen Bahnhofstraße und Belmont

von Andreas Klaeui

Zürich, 21. Februar 2008. Was gibt's Neues am Rialto? Vokuhila. Venedig trägt Langhaar in mannigfaltiger Variation. Mit Pomade hochgepimpt hat es Bassanio, im prächtigsten Vorn-kurz-hinten-lang frisiert sich Lancelot Gobbo, mit modischem Blondhaarpony trägt's der junge Lorenzo, etwas schütter schon ist es bei Antonio. Und ihm, dem Kaufmann von Venedig, dem melancholisch Liebenden, seinem Bassanio so Verfallenen, dass er für ihn gar ein Pfund Fleisch verpfändet, herauszuschneiden nah beim Herz, ihm gehört der erste Auftritt.

Sehr beiläufig steigt Stefan Pucher mit Antonio in das Stück, schleicht sich fast hinein, mit einem dieser unauffälligen Einstiege, die doch schon ganz bei der Sache sind: Jean-Pierre Cornu, der Antonio, setzt sich an den Bühnenrand, grinst etwas verlegen in das Zürcher Publikum – Ich weiß nicht, warum ich so traurig bin. Vielleicht können Sie mir sagen, warum ich so traurig bin? –, und schon hat die Theaterreise in eine jener Pucher'schen Grenzregionen abgehoben, wie nur er sie zwischen Belmont und Bahnhofstraße finden kann.

Einer wie der andere

Einer, der notorisch Langhaar trägt (Variante schütter), ist der Schauspieler Robert Hunger-Bühler. Er spielt Shylock. Durch einen einfachen Trick der Maskenbildnerei ist hier ganz Venedig zu seinem Eben-, mehr noch: Spiegelbild geworden, vor allen anderen Antonio.

Der Jude von Venedig und der Kaufmann von Venedig, der jüdische und der schwule Outcast: Beide haben die gleiche Statur. Beide sind gesellschaftliche Monster. Wie King Kong, der in einer Videoüberblendung von seinem New Yorker Hochhaus herunter die Zähne fletscht und glaubt, den Finanzplatz im Griff zu haben.

Gefährlich wird es für sie dann, wenn sie ihre Möglichkeiten überschätzen. Sie riskieren ihre Existenz in dem Moment, wenn sie denken, sie hätten die gesellschaftlichen Regeln ganz im Griff. Wenn Antonio nachlässig das absurde Pfand überschreibt – man denke: ein Pfund Fleisch! Wenn Shylock sein Recht vor Gericht einfordern zu können glaubt. Sie haben keine Chance.

Zum Frösteln sanfte Outcasts

Das zeigt Pucher eisig klar in einer gespenstischen Gerichtsszene im letzten Akt, in der sich eine fahle Meute gutvenezianischer Bürger auf den Juden stürzt und auf seine Kosten die verletzte "süße Harmonie" wiederherstellt. In welcher dann freilich auch der Schwule nicht zu seiner Gratifikation kommt.

Es sind Outcasts; und sie sind ganz sanft. Zum Frösteln sanft. Robert Hunger-Bühler spielt einen gebeutelten Shylock: Wenn ihm der Boden unter den Füßen wegbricht, hält er sich an Zahlen und Beträge. Er krallt sich an die Bezifferung der Zerstörung wie an ein Beißholz, wenn's weh tut. Er quält sich masochistisch durch seinen famosen Monolog ("Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Organe, Leidenschaften…"), das Wort "Rache" holt er aus einem weiten, halligen Echoraum.

Jean-Pierre Cornu auf der andern Seite gibt Antonio geradeso sanft, mit würdevoller Tantigkeit, schon etwas schmerbäuchig im transparenten Halbseidenhemd, das ist einer, der sein trauriges Aussehen sorgfältig einstudiert hat.

Ey, Schätzli!

Der Märchenort Belmont wird zur TV-Märchenshow – hier kann man die Traumfrau herunterladen, wenn man nur das richtige Kästchen anklickt (Blei/Silber/Gold). In dieser Show dann hat Fabian Krüger als einer der Heiratsanwärter einen sehr komischen Auftritt: Der Prinz ist ein Zürcher Szeni mit dem gattungstypischen totalen Durchblick – "Ey, Schätzli, chasch mer nöd es anders Chäschtli bringe?". Er darf posen als stände er an der Bar des "Kaufleuten" (jaja, so heisst der Club!) – das reinste Kabarett.

Die Szene ist toll, aber auch lang. Immer mal wieder läuft der Abend Stefan Pucher aus dem Ruder. Aber immer wieder versteht er es auch, in hochkonzentrierten Momenten, Shakespeares Belmont zu erden und an der Bahnhofstraße (zum Beispiel) zu verankern.

Morgen müssen wir uns da beim Friseur mal beraten lassen.

Der Kaufmann von Venedig
von William Shakespeare
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Tina Klömpken, Musik: Marcel Blatti, Video: Chris Kondek, Lichtdesing: Sascha Haenschke, Dramaturgie: Klaus Missbach. Mit: Robert Hunger-Bühler, Jean-Pierre Cornu, Oliver Masucci, Marcus Kiepe, Karin Pfammatter, Miriam Maertens, Joy Maria Bai, Jonas Mues, Marcus Burkhard, Fabian Krüger.

www.schauspielhaus.ch


Mehr zu Stefan Pucher: Der Sturm – Stefan Puchers umjubelter neuer Shakespeare, 8.11.2007.

 

Kritikenrundschau

Pucher sei, so Martin Halter von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.2.2008), u.a. berühmt und berüchtigt für seine "Verpoppung alter Säcke wie Tschechow oder Shakespeare", mache hier aber "Poptheater wie vor zehn Jahren". "Konzeptloses Kabarett und Materialien zur Geschichte von Antisemitismus, Ausgrenzung und Assimilation" passen für ihn nicht zusammen. Was "nicht einmal Pucher wusste: dass Robert Hunger-Bühler Jude ist". So "vorhersehbar" wie "ja auch erfrischend" findet er, dass dieser den Shylock "ohne Rücksicht auf die schwierige Geschichte und Aufführungstradition des Stücks" spiele. Abgesehen von Hunger-Bühler und Jean Pierre Cornu als "traurigem Schwulen" Antonio, sieht Halter im Rest nur "Jux und Tollerei". Bei der gespielten Neuübersetzung von Jens Roselt sei es auch "kein großer Verlust", dass die Schauspieler ihren Text frontal aufsagten, "ohne Beziehung untereinander oder gar zur Sprache".

Auch Tobi Müller in der taz (25.2.2008) setzt sich mit dem Pop-Aspekt auseinander. Was Pop im Theater bedeuten könne, hätte Pucher bereits oft gezeigt: "Puls, Rhythmus, Beat – der Sprache. Seine Anfänge sind wie frisch vom Mischpult, im Morgengrauen rausgespielt: hypersensibel und druckvoll. Schnell sind sie nie. Denn Pop kehrt in Puchers Intros nicht als Abbildung wieder, sondern als Erfahrung." Beim "Kaufmann von Venedig" etwa in der Melancholie der Outlaws ("Der eine hat kein Geld, der andere keine Jugend" – über Bassiano und Antonio als schwules Paar) und der skizzenhaften Offenheit vieler Deutungsangebote. Was Müller gefällt, ist der Nachhall-Charakter der Arbeit. Dass das Gezeigte nicht skandalisiert, sondern als Folge von etwas anderem gezeigt wird: "Was wir sehen, ist die gespiegelte Spirale unerwiderter Liebe: beim Juden Shylock die Ablehnung seitens der Christen, beim Kaufmann Antonio die Furcht vor dem Outing."

Der Kaufmann, konstatiert Peter Michalzik in seiner Besprechung in der Frankfurter Rundschau (23.2.2008), sei nach dem Holocaust ein Stück geworden, das "man nicht mehr … wenigstens nicht mehr 'richtig' machen konnte. Das war auch bei den großen Theatererfindern und Juden George Tabori und Peter Zadek nicht anders." Auch Stefan Pucher könne sich in dieses Stück "nur hineintasten, zaudernd, unsicher, fragend". Der "Grundton einer in Melancholie aufgelösten Verzweiflung" ziehe sich durch den Abend, die "weichliche Weltabkehr" Antonios sei so stark, dass sie ihn zur Hauptfigur des Abends mache, während der Shylock des Robert Hunger-Bühler wie unter einer Glasglocke, "dem jüdischen Alptraum sozusagen", gefangen sei. Obwohl die Aufführung nicht an Puchers Münchner "Sturm" heranreiche, sie in Teilen fehl schlage, sei es nach diesem fünften Shakespeare von Stefan Pucher an der Zeit zu bemerken, "dass hier Stück für Stück der maßgebliche Shakespeare-Kosmos entsteht, den das deutschsprachige Theater in diesen Jahren erfindet."

Völlig entgegengesetzt der Tenor von Barbara Villiger Heiligs Besprechung in der Neuen Zürcher Zeitung (23.2.2008): Pucher benutze einmal mehr einen Klassiker um "eine hübsche, total oberflächliche Performance zu machen mit viel Videokunst, Lounge-Musik und modischem Tingeltangel." Vor den menschlichen Dramen von Antonio und Shylock drücke sich Pucher – "ein Falschspieler, der mit ideologischen Pfunden wuchern möchte, aber, intellektuell gesehen, deutlich über seinen Verhältnissen lebt." Und weiter geht’s mit Puchers Sündenregister: er interessiere sich "kein bisschen" für die Schauspieler; die "vertrackte Problematik von scheinheiligen Christen und bösen Juden" rutsche ihm "unter der Hand weg", mit der "Judenfrage" (kann man das wirklich so sagen in der Schweiz? Judenfrage? – jnm) flirte er bloß. Obwohl Robert Hunger-Bühler versuche seinem Shylock "versonnene Innerlichkeit" zu geben, auch indem er die "hasserfüllte Anklage" (hasserfüllt??) "Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?" als Monolog in sich hineinspreche, bleibe er doch bis zum "bitteren Ende schwammig".

Im Berner Bund (23.2.2008) wundert sich Simone von Bühren, dass Shakespeares "Kaufmann" "in letzter Zeit nicht überall aufgeführt" werde. Puchers Inszenierung fokussiere "auf die gesellschaftlichen und politischen Mechanismen", wobei sie "weise auf oberflächliche Aktualisierungen und explizite Bezüge zu heute" verzichte und nur in einigen Details auf "neuere Konflikte" hindeute. Sie sei außerdem "von Brüchen geprägt", was nicht zuletzt Hunger-Bühlers "hervorragenden Shylock" betrifft. "Faszinierend bedrohlich" wechsele dieser "von gefasster Unaufgeregtheit zu plötzlichen wütend-verzweifelten Ausbrüchen" und zeige "beeindruckend (...) die Anstrengung des Aussenseiters, integriert zu wirken, während er das eigene Leiden reinszeniert". Das erinnert die Rezensentin durchaus ein bisschen an "die geduldigen Sozialarbeiter und netten Kollegen in Großbritannien, die sich eines Tages in der U-Bahn in die Luft sprengen".

Auch Simone Meier hat keine Einwände. Im Gegenteil regt sie in der Süddeutschen Zeitung (26.2.2008) an, "Stefan Pucher seinen ersten Regie-Oscar" zu verleihen. Dafür, dass er einer von jenen sei (ihr Dank geht an die Theater- im Gegensatz zur Filmwelt), "die es immer wieder schaffen, über eine Verbindung von Intellekt und Unterhaltung Einsichten zu vermitteln, die einen geistig ernähren und dch nie belehren wollen." Sie freut sich über die "unzähligen, inspirierenden Deutungsangebote", die er im "Kaufmann von Venedig" mache. Antonio als finanziell tollkühner Schwuler, Shylock, der zwischen "Täter und Opfer" changiere, und überhaupt "sind im Staate Venedig alle moralischen, ethnischen, religiösen und sexuellen Definitionen dermaßen komplex und schwre greifbar, dass es scheinbar die konservativen Kräfte sind, die am Ende Recht haben (...)" – tatsächlich wird das Urteil dann aber von der als Mann verkleideten Portia, quasi "in drag", gesprochen. Schauspielerisch noch etwas disparat, sei dies vor allem der Abend von Robert Hungerbühler als Shylock und Jean-Pierre Cornu als Antonio.

Kommentare  
Kritikenrundschau: Antwort von Nikolaus Merck
Lieber nachtkritikleser 2,
Sie monieren, dass die Rezension von Barbara Villiger Heilig als "unglaubwürdig" hingestellt und zusammengestutzt worden sei. Sie legen nahe, dies sei geschehen, weil sie eine "gegegenteilige" Meinung vertrete. Ich vermute gegenteilig zu unserer Rezension. Das ist definitiv nicht der Fall. Wir versuchen nach bestem Wissen und Gewissen, allerdings in der Tat auf knappem Raum "zusammengestutzt", die Positionen der KritikerInnen zusammenzufassen. Ich als Bearbeiter von Frau Villiger Heiligs Pucher-Kritik bin mir nicht bewusst, ihre Meinung als unglaubwürdig hingestellt zu haben. Allerdings habe ich mein Befremden geäußert über den Ausdruck "Judenfrage", der in der Bundesrepublik schlicht anrüchig wirkt. Und außerdem halte ich die Behauptung, Shylocks Monolog "Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht ..." sei schon bei Shakespeare eine "hasserfüllte Anklage" für sachlich völlig falsch. Das habe ich in Klammern unter Mitteilung meines Kürzels angemerkt. Sozusagen außerhalb der referierten Kritik.
nikolaus merck
Kaufmann-Kritik i.d. NZZ: durch Halbbildung entstellt
Lieber Nikolaus Merck,
nun schreiben Sie ja selbst wie sie sich selbstherrlich und völlig selbstverständlich über Barbara Villiger Heilig wähnen. "Die Judenfrage" ist keineswegs anrüchig, wie Sie unterstellen. Den historischen Terminus "Judenfrage" gibt es seit dem 18. Jahrhundert und wurde neben vielen jüdischen Theoretikern auch von Marx, J.P.Sartre und Zionisten wie Nathan Birnbaum oder Theodor Herzl behandelt, später vom NS Regime in dem Ausdruck "Endlösung der Judenfrage" pervertiert und ist somit wohl ein Kernbestandteil jeder modernen "Kaufmann" Inszenierung. Lernen Sie Geschichte. Und natürlich kann Shylocks Monolog als "hasserfüllte Anklage" gelesen werden. Warum auch nicht ? Wie sehen Sie denn diesen Monolog ? Nicht viel und Sie outen sich durch falsch verstandene und oberflächliche P.C. selbst als Opfer antisemitischer Klischees.
Kaufmann-Kritik i.d. NZZ: "Judenfrage" geht nicht
hallo nachtkritikleser2,
einspruch. das ist sehr naiv, was sie da schreiben. der begriff "judenfrage" wurde nicht einfach pervertiert, er wurde für eine sache gebraucht, der keine irgendwie-sache war: sondern volksvernichtung. und danach kann man den begriff nicht mehr verwenden als hätte es ihn nicht gegeben. das wäre ohne gespür für die geschichte. den begriff endlösung haben übrigens die nazis auch nicht erfunden und trotzdem ginge es wohl nicht, ihn heute zu verwenden. die geschichte geht in die begriffsgeschichte ein, das kann man nicht so schlicht wegwischen, wie sie das tun. und dass sartre, marx, herzl oder sonstwer den begriff verwendet hat, besagt das gar nichts. dadurch wird es nicht richtiger oder besser, das sagt halt nur, dass die den verwendet haben, in einem sehr bestimmten sinn übrigens.
Kaufmann-Kritik i.d. NZZ: Was mehr empört ...
Mäßigung, Mäßigung, Herr nachtkritikleser2! Herr Nikolaus Merck hat hinter die fraglichen Passagen in Villiger Heiligs Text ein leises Fragezeichen gesetzt und kein lautes "Nein! Das darf man nicht!" Was mich mehr empört als die vermeintliche Geschichtsvergessenheit des Herrn Merck, ist, dass Sie trotz Ihrer soliden Bildung so leichtfertig mit dem Antisemitismus-Vorwurf umgehen. Der Verdacht des Antisemitismus soll in der Regel einen Menschen heute intellektuell erledigen - wenn man ihn erhebt, sollte er wohl begründet sein. Wenn man mit ihm leichtfertig hausieren geht, wie Sie das tun, dann verliert er seine Kraft in den Fällen, wo tatsächlich Antisemitismus vorliegt.
(Übrigens kann ich so genau lesen, dass ich bemerkt habe, dass Sie durch Ihr "nicht viel" den Vorwurf gar nicht explizit erhoben haben, aber die Absicht, damit über einen kleinen Umweg trotzdem zu treffen, tritt nur allzu deutlich hervor.)
NZZ-Kritik zu Kaufmann: Status Quo der Goldküstenschweizer
"Judenfrage" sagt man in der Schweiz, weil es dort nie eine Aufarbeitung der Verwicklungen der Schweiz mit dem dritten Reich gegeben hat - insofern lebt ein gewisser Antisemitismus in der Schweiz weiter, der aber gar nicht mit dem dritten Reich und der Vernichtung der europäischen Juden in Verbindung gebracht wird, denn die Schweiz sieht sich völlig frei von der Möglichkeit eines Zusammenhanges - und Frau Villiger Heiliger repräsentiert den Schweizerischen Status Quo der Goldküstenschweizer wie sonst keine Schweizer Kritikerin.
NZZ-Kritik zu Kaufmann: zwischen Semiten und Nichtsemiten
Das ist solch ein Schwachsinn und intellektuell nicht mehr unterbietbar. Frau Villiger Heiliger wird doch durch diese Seite und Herrn Merck in ein rechte Ecke gestellt und jetzt wird ihr auch noch Antisemitismus bescheinigt, weil sie in einer Kritik zu "kaufmann von Venedig" (!!!) einen völlig einwandfreien historischen, soziologischen Terminus benutzt hat, der genau die Problematik des Zusammenlebens zwischen Semiten und Nichtsemiten beschreibt. Widerlich. Vielleicht können sich die Hetzer in diesem Forum zumindest einmal unter "Wikipedia" schlaumachen, was "Judenfrage" oder "Jewish Question" bedeutet. Wie hier durch Halbbildung Menschen desavouiert werden, das ist dann doch sehr, sehr deutsch.
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