Wer besser tanzen kann

von Katrin Ullmann

Hamburg, 16. Januar 2015. "Ich möchte Sie küssen, zum Abschied" – fordert Astrow (Paul Herwig) gegen Ende. Bevor Elena Andrejwna (Anja Laïs) geht. Zuvor hatte er mit ihr geplaudert, ihr seine Hingabe offenbart und seine totale Verzücktheit. Elena, geschmeichelt, tänzelt, weicht zurück, küsst ihn und umarmt ihn dann. Lang. Viel zu lang. Eine schreckliche Ewigkeit lang. Vor allem, wenn man diesen Abschied durch die Augen von Sonja (Lina Beckmann) sieht. Ungelenk und möglichst unauffällig hatte sie zwischenzeitlich den Arzt umarmt. Zart und doch mit Nachdruck, hinterrücks, heimlich und das Herz auf der Stirn. Dabei rutscht ihr Körper immer weiter an ihm ab, bis ihr Gesicht schließlich in seiner Kniekehle landet und da verweilt. Verzweifelt ob der nicht erwiderten Liebe und doch voll glühenden Glücks, dem Doktor so nahe zu sein.

Es ist eine der berührendsten Szenen an diesem Tschechow-Abend. Ein Abend, der sonst nicht so viele berührende Szenen hat, der sich stattdessen oftmals in einer merkwürdigen Groteske verliert, nicht vor Klamauk und Komik zurückschreckt und auch nicht vor lautstarker Blasmusik. Es ist ein "Onkel Wanja", der die Gutshoflangeweile tänzerisch belebt, der Slapstick und Albernheiten zeigt, der auch Polka, Pelz und Samowar nicht ausspart. Die größte und damit auch berührendste Ernsthaftigkeit zeigt Karin Beier immer wieder in der Zeichnung der Frauenfiguren.

Überforderung für Sonja, Fanfaren für Jelena
Harsch, roh und doch mädchenhaft ist Lina Beckmanns Sonja. So ernüchtert in ihrem Lebenssinn "Wir müssen arbeiten", "Wir werden zur Ruhe kommen!", so überfordert ist sie in ihrer Liebe. In einem befreiten Glückstanz offenbart Beckmann einmal Sonjas Innenleben mit einer fast schmerzhaft ehrlichen Wucht, später zeichnet sie ihre Hingabe und Verzweiflung in klaren, fast ikonenhaften Gesten und Positionen.

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Federnd, vogelhaft, zwischen Koketterie und Stolz spielt Anja Laïs die Grande Dame und zweite Frau des eremitierten Professor Serebrjakow. Sie ist sich ihrer Schönheit bewusst und ihrer Bewunderer gewiss – ihre ersten Auftritte werden von zarten Fanfaren untermalt, ihr Kopf ist mit einem extravaganten Beinah-Krönchen (Kostüme: Greta Goiris) geschmückt. Nahezu alle Herren des Stücks legen ihr ihre Liebe zu Füßen. Sie tänzelt, mal auf dem schmalen Steg, den Bühnenbildner Johannes Schütz über ein schier endloses Erdreich gebaut hat, mal auf dem Acker selbst – wie ein Kranich bei der Balz.

Schnarchen und Gackern gegen die Melancholie
Und Wanja (Charly Hübner) macht sich einfach nackig. Äußerlich nur den Oberkörper, emotional aber die ganze Packung. Leise und bittend. Wanjas Disput mit dem Professor (Oliver Nägele), seine Wucht und sein Gebrüll, als jener den Gutshof verkaufen möchte, inszeniert Beier dann wieder so laut und grotesk, dass man an Westernparodien denkt und an schlechte Agentenfilme. Außerdem fällt da schon der Schnee in dicken Flocken vom Bühnenhimmel, alle vertragen sich wieder und "Alles bleibt beim Alten." Nur jetzt inklusive gebrochener Herzen.

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Viel von Tschechows erzählter Ausweglosigkeit und Langeweile löst Beier auf in folkloristischer Musik, schönen Tänzchen und überdrehten Aktionen. Da wird gesungen, Balalaika gespielt und laut geschnarcht, gewimmert, gejault und auch mal hühnergleich gegackert. Da bleibt (zu) wenig Platz für Melancholie und die großen Endlichkeitsfragen. Und auch ein eindeutiger Fokus zeigt sich nicht – vielleicht: den Tschechow um die Schwermut erleichtern? Grandios sind bei all der betriebsamen Unruhe das Bühnenbild – ein dunkler bühnentiefer Erdraum im Geiste Walter de Marias – und so mancher Darsteller, also tatsächlich: Lina Beckmann und Anja Laïs.

Onkel Wanja
von Anton Tschechow
Deutsch von Angela Schalenec nach einer Übersetzung von Arina Nestieva
Regie: Karin Beier, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Greta Goiris, Musikalische Leitung: Jörg Gollasch, Choreografie: Valenti Rocamora i Tora, Licht: Annette ter Meulen, Dramaturgie: Christian Tschirner.
Mit: Lina Beckmann, Marlen Diekhoff, Yorck Dippe, Paul Herwig, Charly Hübner, Juliane Koren, Anja Laïs, Alexej Mir, Oliver Nägele.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Ein Versuch, das Figuren-Ensemble aus dem vorrevolutionären Russland irgendwie in unsere Gegenwart hinüber zu retten, ist nirgendwo zu erkennen, stattdessen wird brav psychologisch-realistisch gespielt", berichtet Alexander Kohlmann im Deutschlandradio Kultur (17.1.2014) und fragt: Wozu das Ganze? Kohlmanns Fazit: Ohne die Bühne bliebe "nur eine Tschechow-Klamotte an der Rampe übrig".

"Vom Beginn bis zum Schneeschauer rezitiert auf dem Steg eine Reihe sehr guter Schauspieler Tschechow-Texte wie bestellt und nicht abgeholt", schreibt Stefan Grund in der Welt (18.1.2014). "Dazu verzapfen sie eine Reihe überzogener Gesten, machen skurrile Bewegungen, sprechen übertrieben emotionsgesteuert, werden zu schnell zu laut und verschütten mit dieser Groteske Tschechows Witz. Das ist traurig."

Karin Beier habe "einen ziemlich irritierenden 'Onkel Wanja' angerichtet", befindet Wolfgang Höbel auf Spiegel online (Zugriff 19.1.2015). "Es ist ein fast durchgehend auf Spaß getrimmtes Drama, [das] in einer stockfinsteren, kahlen, kaputten Landschaft spielt." Wie "in allen besseren Tschechow-Inszenierungen" sehe "man hier Menschen, die im Bewusstsein der eigenen Lächerlichkeit sich und der Welt etwas vormachen. Nur dass die Regisseurin Beier die Kraft für diesen Verzweiflungshumor nicht im tiefsten Seelengrund der Figuren sucht, sondern in den Muskeln und Gliedmaßen ihrer Darsteller." Beier biete "zwei Stunden lang intelligentes, manchmal krawalllustiges und vom Publikum am Ende heftig bejubeltes Unterhaltungstheater, in dem alle Figuren irgendwann ihren weichen Kern offenbaren dürfen."

"Tschechows Studie eines Depressiven" erscheine bei Beier trotz der traurigen Umstände "als rundum charmante Verzweiflung", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (19.1.2015). Charly Hübners Wanja sei "ein so trotziger Liebesbotschafter in eigener Sache, dass für Trübsal kaum Zeit bleibt". Die "große Schau des Abends" aber sei "die Ober-Unglückliche, Sonja (…). Es ist der Abend der Lina Beckmann, die alle Register liebenswerter Naivität zieht, um Zuneigung für ihren Albtraum zu gewinnen. In einer normal langsamen Tschechow-Inszenierung wäre ihre unbarmherzig vergnügliche Zerbrochenheit sicher zu viel des Guten. Aber in der leichten Manier, mit der Karin Beier ihre Russenlust als Frohsinn inszeniert, kann Beckmanns Operette der Schüchternheit ihren vollen Klang entfalten."

Was erzählt uns dieser Abend, fragt Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (19.1.2015). "Man weiß es nicht. Ein bisschen Komik, ein bisschen Klamauk, etwas Trauer und Melancholie ergeben noch keinen stimmigen Theaterabend." Manches wirke "willkürlich, ungenau. (…) Man will ein bisschen von diesem, ein wenig von jenem. Doch Komödie und Tragödie, Redseligkeit und stummes Begehren, Sehnsucht und Wahn scheinen hier nur touchiert, nicht wirklich ausgeleuchtet." Aus den "isolierten Einzelgängern" dieser Inszenierung forme "sich keine stimmige, aussagekräftige Inszenierung. Tschechow wollte in seinen Tragikomödien 'das Leben so beschreiben, wie es ist; und weiter weder piep noch pup'. Hier gibt es leider zu viel 'piep und pup'".

"Bis an die Schmerzgrenze" gehe Beier "bei der Überzeichnung und zeigt dadurch die große Einsamkeit und Leere, unter der Tschechows Figuren leiden. Das hat Witz und Drive und – und das ist das Entscheidende: Das Lachen kann jederzeit in Weinen umschlagen", meint Katja Weise auf ndr.de (Zugriff 19.1.2015). Das "eigentliche Zentrum der Inszenierung" sei Lina Beckmanns Sonja. Beckmann spiele "die Nichte Wanjas mit so viel Witz, Tiefe, Naivität und Ernsthaftigkeit, dass die Aufführung hier, in dieser Figur, ihre Balance, ihren Dreh- und Angelpunkt findet".

 

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