Margot will Endlichkeit

von Jenny Berg

Zürich, 16. Januar 2015. Sterben müssen wir alle. Nur wann? Und wie? – "Ähm, Markus: Du hast vergessen, Deine 8-Uhr-Tabletten zu nehmen!" sagt der eine Markus. Der andere Markus antwortet: "Herrje, irgendwas ist immer! – Merci!" Er fummelt bunte Pillen aus einem graublauen Medikamentendispenser und spült sie mit einem Sirup-roten Partygetränk von der festlich gedeckten Tafel hinunter.

So eröffnen Markus & Markus ihre sehr freie Adaption von Henrik Ibsens "Gespenster". Die beiden Markus (Schäfer und Wenzel) sind die Namensgeber der Theatergruppe aus Hildesheim, stehen jeweils auf der Bühne; der Rest der Beteiligten (Katarina Eckold, Lara-Joy Hamann und Manuela Pirozzi) dahinter. Beziehungsweise hinter den Zuschauerbänken, zumindest an der Premiere in der Gessnerallee Zürich. Gerade einmal 40 Zuschauer dürfen dem Schauspiel auf der kleinen Südbühne beiwohnen. Wobei – was ist hier Schauspiel? Was Performance? Was Videodokumentation? Was ist Ernst, was Humor, was Würde, was Lächerlichkeit?

Die Entsprechung einer Ibsen-Figur
Markus & Markus spielen virtuos mit den Ebenen, jonglieren mit den Erwartungen. Nach der Eröffnung wird gestorben, in den schönsten Varianten der Literatur: Mit Goethes Werther ("Lotte!"), dem Schläfen- wie dem Mundschuss, mit Shakespeares Dolchstoss, dem Sturz aus höchster Höhe, mit Musik und ohne. Diese zum Konzentrat verdichtete Performancecollage zieht den Bühnentod ins schrill-bunt Lächerliche.

gespenster2 560 komun ch uVersuchsaufbau Sterben mit zweimal Markus und im Hintergrund auf Video Margot © komun.ch

Endlich tritt Margot auf. Sie ist der Osvald, den Markus & Markus gesucht haben: der junge Mann, der in Henrik Ibsens "Gespenstern" nach einem längeren Auslandsaufenthalt nach Hause kommt und seine Mutter bittet, ihm Sterbehilfe zu leisten, wenn die Symptome der Syphilis, mit der er sich angesteckt hat, zu schlimm werden. Ibsen hat Osvald einer realen Person nachempfunden, die er zur Kunstfigur erhob. Markus & Markus machten es nun umgekehrt und suchten ein reales Äquivalent zur Ibsen-Figur. Und fanden: Margot nimmt auf der Bühne Platz. Allerdings nur im Videoformat, denn Margot ist tot. Anders als Osvald hat sie nicht ihre Mutter, sondern eine Sterbehilfeorganisation gebeten, sie in den Freitod zu begleiten. Markus & Markus haben ihre letzten 30 Tage dokumentiert und inszeniert.

Warum will Margot sterben?
Es war nicht leicht, Margot zu finden, berichten die Theatermacher. Viele Sterbehilfeorganisationen hätten Bedenken gehabt, ihnen jemanden zu vermitteln, "Suizidversuchsprävention" sei wichtiger, zitiert der eine Markus aus einem Briefwechsel mit der Sterbehilfeorganisation Dignitas. Eine andere Organisation warnte vor dem "Werther-Effekt". So etwas dürfe man nicht auf die Bühne bringen.

Währenddessen sehen wir Margot beim Essen, Margot beim Spaziergang mit dem Rollator, der nun auf der Bühne steht, Margot beim Plausch im Kreis der fünf jungen Theaterleute. Immer lachend, immer lebensfroh. Warum will Margot sterben?

"Ich kann die jahrelangen Schmerzen nicht mehr ertragen", liest Margot aus ihrem "Schwierigsten Brief meines Lebens" vor. Sie nimmt Abschied von all ihren Lieben, nicht nur in Briefform, sondern auch mit einem Abschiedsfest. Parallel dazu zählt ein Markus zwei Dutzend Leiden auf, die Margot bescheinigt werden. Drei Ärzte müssen unabhängig voneinander entscheiden, ob der Sterbewillige wirklich austherapiert ist und sein Leiden den Sterbewunsch erklärt. Ein unglaublicher bürokratischer Aufwand ist so ein "sauberer" Freitod, wie ihn Margot sich wünscht. Niemandem zur Last fallen. Alles selbst organisieren. Mit einem Enthusiasmus dem eigenen Tod entgegenfiebern, dass es die engsten Freunde erschüttert.

Zum Abschied ein Schokoladenherz
Während all der Videosequenzen spielen Markus & Markus auf der Bühne Szenen aus Margots Leben nach. Zerschneiden Hundeleckerli mit der Schere. Decken die Festtafel. Schlucken Pillen. Spielen – viel zu selten – Nebelgeräusche und Tinituspfeifen ein, zum Ahnen, wie schwierig das Hören – und damit auch das soziale Leben – für die extrem geräuschempfindliche Margot ist. Viel zu oft werden die Videos mit kitschiger Musik unterlegt. Ja, es ist rührend, wie viel Aufmerksamkeit diese alleinstehende einundachtzigjährige Dame von ihren kurzfristigen Adoptivenkeln bekommt. Es gemahnt daran, die eigene Grossmutter auch einmal so interessiert zu befragen. Aber muss dieser Kitsch sein? Ist der unerträgliche Tod nur so erträglich?

Die Theaterleute begleiten Margot aus Düsseldorf bis nach Basel, ihrem Sterbeort. Margot schenkt ihren jungen Begleitern noch ein letztes Schokoladenherz, sagt "Dankeschön!" in alle Richtungen und dreht selbst an der Infusion, um sich tödlich zu vergiften. Die Kamera läuft. Es sind Bilder, die man nicht unbedingt sehen möchte. Doch wo genau liegt das Tabu, einen Menschen im selbstgewählten Sterben zu beobachten? Es sind aber auch friedliche Bilder. Ein weiches Bett. Eine warme Hand, die hält; eine andere, die streichelt. Wie schön, so einschlafen zu können. Nicht unbedingt friedlich, sondern auch ein wenig heftig, wie von einer Welle plötzlich weggetragen. Aber schlafen, ohne Qual. Im Kreise der liebsten Angehörigen. – Ist hier ein Werther-Effekt zu befürchten?

Gespenster
nach Henrik Ibsen
Ein Projekt von Markus&Markus
Mit: Markus Schäfer, Markus Wenzel, Katarina Eckold, Lara-Joy Hamann, Manuela Pirozzi. Dauer: Eine Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.gessnerallee.ch

 

Kritikenrundschau

Radikaler könne Dokumentartheater kaum sein, schreibt Martina Läubli in der Neuen Zürcher Zeitung (19.1.2015). Der Hildesheimer Theatergruppe gehe es nicht nur darum, eines der letzten gesellschaftlichen Tabus zu demontieren und das Sterben den Zuschauern bis zur letzten schmerzhaften Konsequenz vor Augen zu führen, sondern auch darum, Hauptdarstellerin Margot ein Denkmal zu setzen. So entschieden sie ihr eigenes Ende organisiert habe, "so transparent kommuniziert sie es – beispielsweise im Abschiedsbrief an die Freunde –, so kalkuliert ist der Moment des Todes". Mit einem parodistischen schauspielerischen Rahmenprogramm versuchten Markus & Markus, die Pathosgefahr zu umgehen. Peu à peu werde begreiflich, warum sich eine so strahlende Person den Tod wünscht.

"Mit fragwürdigen Methoden schaffen es Markus & Markus, randständige Figuren der Gesellschaft zu ProtagonistInnen zu machen", resümiert Kornelius Friz anlässlich einer Ibsen-Produktionsschau in Hildesheim in der tageszeitung (24.11.2015). Dabei grenze es in "Gespenster" an ein Wunder, "dass das Theaterkollektiv Margot trotz der albernen Powerpoint-Präsentation mit Henkersmaske, trotz der tausenden Häschenfiguren, trotz des erbrochenen Kunstblut-Sekt-Gemischs und trotz närrischer 'Dinner for One'-Verweise ein würdiges Denkmal geschaffen hat."

 

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