Ein Traum von einer Oper

von Falk Schreiber

Hamburg, 18. Januar 2015. In zeitgenössischen Heldenerzählungen ist meist der zweite Teil am spannendsten. "Star Wars", "Herr der Ringe", die zweite Staffel von "Game of Thrones": Da leisten sich die Drehbücher Abschweifungen, da werden die Helden brüchig, da kann noch einmal alles umgeschmissen und neu erzählt werden, außerdem muss man in zweiten Teilen so wenig ein Setting aufbauen wie man Handlungsstränge zu einem Ende führen muss. Wenn man also bei Wagners "Ring des Nibelungen" "Das Rheingold" als Vorabend sieht und "Die Walküre" als ersten Tag, dann darf man den zweiten Tag, "Siegfried", als zweiten Teil sehen. Und kann sich entsprechend freuen auf "Der Ring 2", den zweiten Teil von Antú Romero Nunes' "Nibelungen"-Verknappung am Hamburger Thalia, deren erster Teil Ende Oktober noch ein wenig ziellos im Popmythologischen waberte.

Mit popkultureller Unbekümmertheit

Zum "Siegfried"-Einstieg kämpft sich erst einmal Alberich (mit Gollum-hafter Aasigkeit: André Szymanski) durch das Klingendickicht von Matthias Kochs Bühne, wirft sich in einen nachlässig geschneiderten Frack und – dirigiert eine Zusammenfassung des ersten Abends, previously on Nibelungenlied. Und mit einem Schlag stellt sich ein, was man von Nunes' Regie erwartet (und was "Der Ring 1" nicht so recht einlösen wollte): ein Theater, das seine Vorlage gekonnt dekonstruiert und die Einzelteile dann mit einerseits popkultureller Unbekümmertheit, andererseits durchaus vorhandenem Interesse am Stück wieder zusammensetzt.

siegfried1 560 armin smailovic hSpoiler: Es endet blutig (Philipp Hochmair als Siegfried). © Armin Smailovic

Hier heißt das, dass zwar auf Wagners Musik (mit Ausnahme einer weniger Samples) verzichtet wird, der Komponist aber gleichzeitig von Szymanskis Dirigentenkarikatur wieder in die Inszenierung zurückgeholt wird. Der Regiezugriff ist also ein durchaus ernsthafter, auch wenn die Figuren wild durcheinandergewürfelt sind – Mime etwa wird durch Alberich ersetzt, was im "Nibelungen"-Kosmos keinen Sinn macht, die Übersichtlichkeit des radikal gekürzten Epos aber halbwegs garantiert.

Politische Fallstricke

Das Problem dabei ist, dass der Inszenierung eine echte Haltung zum Stück fehlt. Über weite Strecken hat man den Eindruck, Nunes möchte den "Ring des Nibelungen" in einer griffigen Form für das "Game of Thrones"-Publikum erzählen, weiß im Grunde auch um die politischen Fallstricke der Vorlage, traut sich aber nicht, mit diesen Fallstricken mutig umzugehen. Symptomatisch ist eine E-Mail im Programmheft, in der der Dramatiker Wolfgang Lotz sich entschuldigt, keinen Aufsatz beizutragen: weil sich bei solch einer stoffbegeisterten Inszenierung gar nicht fassen lasse, wo man den Stoff denn kritisch sehen könnte.

Kritik entsteht entsprechend eher aus dem Zuschauerraum heraus: Dort weigert man sich nämlich, einen ernst gespielten "Ring" anders zu verstehen außer als Persiflage. Und so wuselt der Drache Fafner minutenlang als chinesisches Drachenspiel schwarzlichtbestrahlt über die Bühne, bis Siegfried (Philipp Hochmair) gar nicht anders kann als den "schlimmen Wurm" zu erstechen. War einfach nicht mehr mitanzusehen, dieser Mummenschanz.

Schlagerschmelz, Heimorgel und nackte Puppe

Kriemhild (Cathérine Seifert) bringt schließlich die Inszenierung auf den Punkt: "Ich habe geträumt, dass ich in einer Oper mitspiele!" Nunes' "Ring" ist der Traum von einer Oper, ein Traum, in dem Handlung und Form in Grundzügen vorhanden sind, während die Musik als zentrales Element der Oper verschwunden ist. Und doch: Alles in diesem Traum bleibt der "Ring", zumindest bis zum Ende des zweiten Tages. Bis Siegfried von Hagen gemeuchelt wird, von Hagen, den Barbara Nüsse in einem darstellerischen Kraftakt vom personifizierten Bösen zum melancholischen Machtpolitiker umdeutet. Pause, nach gerade mal zwei Stunden.

Der Beginn der "Götterdämmerung" dann ist eine One-Man-Show von König Etzel (Thomas Niehaus). Der gibt zunächst eine literaturwissenschaftliche Einführung ins Versmaß des "Nibelungenlieds" und dann eine Zusammenfassung dessen, was wir zuletzt sahen, inklusive Schlagerschmelz, Heimorgel und Siegfried als nackter Handpuppe. Was durchaus unterhält, allerdings Nunes' Regieposition nahezu sträflich verschenkt – war "Siegfried" (wie auch "Rheingold" und "Walküre") eine unorthodoxe, aber sympathiegetragene Wagner-Einfühlung, so startet die "Götterdämmerung" bestenfalls postdramatisch zerhackt, schlechtestenfalls läppisch vereinfacht.

Tödliche Umarmung

Nach einer Weile aber fängt sich die Inszenierung wieder: Immer mehr Text stammt jetzt aus Friedrich Hebbels "Die Nibelungen", zeitweise fühlt man sich wie in einer konventionellen, sacht modernisierten Klassikerinszenierung. Der Abend biegt auf die Zielgerade, mit Schwung und ausreichend Tempo, um auch noch ein, zwei holprige bis langweilige Passagen zu meistern, aber die eigenartige Wagner-Traum-Stimmung der vorherigen dreieinhalb Stunden ist weg, und ohne diese Stimmung wird überdeutlich, dass Nunes wohl nicht allzuviel echtes Interesse an diesem Stoff gehabt haben mag. "Komm mal her, Ortlieb", ruft Hagen Kriemhilds kleinen Sohn in eine tödliche Umarmung. "Weißt du denn, wie das Nibelungenlied endet?" Achtung, Spoiler: Es endet blutig.

 

Der Ring: Siegfried/Götterdämmerung
nach Richard Wagner und Friedrich Hebbel
Regie: Antú Romero Nunes, Ausstattung: Matthias Koch, Licht: Christiane Petschat, Musik: Johannes Hofmann, Musikalische Mitarbeit: Anna Bauer, Choreinstudierung: Joanna Merete Scharrel, Dramaturgie: Sandra Küpper.
Mit: Marina Galic, Philipp Hochmair, Thomas Niehaus, Barbara Nüsse, Cathérine Seifert, Rafael Stachowiak, André Szymanski.
Dauer: 3 Stunden 35 Minuten, eine Pause

www.thalia-theater.de

 

Mehr zum Hamburger Nibelungen-Projekt? Hier geht es zum ersten Teil. Ab 31. Januar zeigt das Thalia beide Abende am Stück, als Theatermarathon unter dem Titel "Nibelungen! Der ganze Ring".

 

Kritikenrundschau

Gerade noch attestiert Joachim Mischke im Hamburger Abendblatt (19.1.2015) Philipp Hochmair noch ein "textilarmes, aber beeindruckendes, mitreißendes und oft höchst amüsantes Kraftpaket-Solo" als Siegfried, da muss er schon – an der Nahtstelle von "Götterdämmerung" zu "Kriemhilds Rache" – "Quatsch" entdecken: "Schlimmen, unentschuldbar schlimmen Quatsch." Und von diesem Tiefpunkt erhole sich "die letztlich sehr zwiespältige Wirkung des gesamten Abends nicht mehr (…). Dabei fing es durchaus gut, vielversprechend und geradezu packend an." Je näher aber "das Abschlachten der von Kriemhild so verhassten Verräter kam, desto karger wurden die Regie-Ansätze. Nunes' 'Ring'-Marathonlauf ging auf seinen letzten Metern nicht nur die Puste, sondern auch die ebenbürtigen Bilder aus."

"Wenn es nur um den deutschen Superhelden gegangen wäre, es wäre ein donnernder Erfolg geworden", schreibt auch Werner Theurich auf Spiegel online (Zugriff 19.1.2015) über Hochmair. "Der finale Hebbel-Teil dieser 'Nibelungen'" aber kranke "ganz entschieden an zu leichtgewichtigen Ideen." Die Bühne wirke "ständig zu groß für die Darstellung", und die "abschließende Todesschlacht als chorische Darstellung vor den eisernen Bühnenvorhang zu verlegen", wirke dann "trotz intensiver Personenregie und gemeinschaftlichen Blutbades fast wie eine Notlösung".

Je mehr sich Nunes von Wagner löse und sich am Nibelungendrama von Friedrich Hebbel orientiere, "desto mehr zerfällt der Abend. Die Schauspieler haben tolle Szenen, aber ein Konzept, eine übergreifende Idee, ist nicht zu erkennen", meint Heide Soltau auf ndr.de (Zugriff 19.1.2015). Nunes habe "sich mit dem Stoff offenbar doch übernommen. Der Abend mit den ersten beiden Teilen" sei "sehr viel bildmächtiger und facettenreicher" gewesen. Letztlich hätte man "sich mehr Souveränität  im Umgang mit dem Stoff gewünscht. Die Ansätze waren ja da."

"Die Fortsetzung des „Rings“ am Hamburger Thalia-Theater durch den Regisseur Antú Romero Nunes hält also, was der Auftakt letztes Jahr versprochen hatte", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (23.1.2015): "Nach 'Rheingold / Walküre' damals bot jetzt auch 'Siegfried / Götterdämmerung' eine rundum flache Blödelei voll unverkrampft komischer Einfälle – die Briegleb im übrigen ausführlich beschreibt, u.a. Philipp Hochmairs Siegfried als "Mischung aus Parsifal, Pumuckl und Pipi-Prinz".

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