Im Sog der Präzision

von Regine Müller

Köln, 22. Februar 2008. Als wäre ein Problem nicht genug, hat am Kölner Schauspielhaus Regisseur Laurent Chétouane gleich zwei Werk-Fragmente zusammengesperrt, die auf den ersten Blick bis auf das Schicksal des Unvollendetseins wenig gemein zu haben scheinen: Friedrich Hölderlins in drei Entwürfen vorliegendes Trauerspiel "Der Tod des Empedokles" und Bertolt Brechts "Fatzer"-Fragment, das mehr als 500 Seiten umfasst.

Hölderlins monolithischer Text kreist um die letzten Tage des vorsokratischen Philosophen Empedokles, des "großen Sicilianers", der sich "in seiner kühnen Lebenslust (...) in die herrlichen Flammen" des Ätna stürzte. Brechts Titelheld "Fatzer" dagegen ist ein Deserteur des Ersten Weltkriegs, der durch gerissenen Egoismus auffällt, sich gemeinsam mit drei Kameraden durchschlägt und schließlich von diesen ermordet wird.

Nachbarn im Theaterorbit
Empedokles und Fatzer: zwei Außenseiter, wie sie verschiedener nicht sein könnten. Und doch werden sie bei Laurent Chétouane unversehens zu Wahlverwandten, zu Nachbarn im Theaterorbit, deren Sprachen sich verblüffend nahe kommen. Und das nicht nur, weil Hölderlin und Brecht in Köln durch Chétouanes Textanalyse-Säurebad gegangen sind und die vom Regisseur angeordnete Austreibung von Psychologie, Pathos und handelsüblicher Deklamationskunst hinter sich bringen mussten.

Formal trennt Chétouane die Texte deutlich voneinander ab: eine Passage aus Empedokles steht im Zentrum des Abends und spielt auf der durch den Eisernen Vorhang auf ihr vorderes Viertel verkürzten Bühne, während zwei Teile aus Fatzer – auf der ganzen Bühnentiefe gespielt – den Rahmen bilden. Ein kahler Baum, ein paar Plastikstühle, ein bisschen Gerümpel auf der rechten Seite, mehr gibt es nicht zu sehen.

Eine Ästhetik der Enthaltsamkeit, die sich auch dem modischen Trash-Chic konsequent verweigert. Nichts lenkt ab von Chétouanes berüchtigtem Texttheater, das an diesen Doppelabend ganz zu sich selbst zu kommen scheint, denn sowohl Brechts als auch Hölderlins Stoff sind zuallererst und vor allem Text und sehr viel später, vielleicht auch gar nie wirkliches Theater.

Der Druck der Bedeutung
So entkleidet Chétouane die Texte in aller Ruhe zu neuer Kenntlichkeit, lässt sie in Zeitlupe sprechen, lässt am Zeilenende irritierende Pausen und Sinn verwirrende Betonungen setzen. Mal leiert das Metrum, dann rollen altmeisterliche Zungen-R's, selbst der gefürchtete hohe, oratorische Ton, das große Bühnenpathos darf hin und wieder bemüht werden. Oder geschieht das zufällig, gar irrtümlich? Wohl kaum.

Die Rollen verteilen sich auf zwei Schauspieler, der tragende und prägende Protagonist des Abends ist wieder einmal Fabian Hinrichs, nachdem er bereits in "Hamlet", "Iphigenie auf Tauris" und "Lenz" als Meister des Chétouane-Theaters auftrat und hier von Jan-Peter Kampwirth vorzüglich sekundiert wird.

Aus Hinrichs virtuos unvirtuosen Hölderlin-Monologen entweicht der Bedeutungs-Überdruck wie heißer Wasserdampf und macht Platz für Beiläufiges, Zärtliches, Komisches, dann wieder überraschend Impulsives. Einen eigensinnigen Gegentext sprechen stets die Körper: wie ferngesteuert führen sie abgezirkelte Bewegungen aus, wollen etwas ausführen, halten inne, zucken zurück. Mal sind es große Bewegungen, dann nur ein fahriges, hilfloses Tasten. Immer jedoch entstehen so zusätzliche, sanfte Irritationen, die den ganzen Abend auf einem enormen Spannungsniveau halten, das schließlich auch noch den letzten Huster im Saal zur Ruhe bringt.

Das Leuchten der Texte
Chétouane schafft es mit seiner Text-Andacht, dass mit der Zeit das Interesse an einer äußeren Handlung fast völlig erlischt und die Aufmerksamkeit bereitwillig hinaufklettert in abstrakte Regionen. Die Texte gewinnen durch diese Künstlichkeit eine eigenartige, leuchtende Faszination, die vor allem bei Hölderlin beinahe betäubend wirkt. So betäubend, dass sich die Moral von der Geschicht', nämlich die Frage, wo der sich für auserwählt haltende Empedokles und der Egoist Fatzer sich denn nun eigentlich wirklich treffen, einfach in Nichts aufgelöst hat.

Dennoch: Ein faszinierender, höchst präzis inszenierter, virtuos gespielter Abend.

 

Empedokles // Fatzer
Von Friedrich Hölderlin/ Bertolt Brecht
Regie: Laurent Chétouane, Bühne: Marie Holzer, Kostüme: Imke Schlegel, Musik: Leo Schmidthals, Licht: Jürgen Kapitein.
Mit: Fabian Hinrichs, Jan-Peter Kampwirth, Sigal Zouk.

www.schauspielkoeln.de


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Kritikenrundschau

Was Chétouane an der Begegnung Fatzer/Empedokles interessiert hat, bleibt für Andreas Rossmann in der FAZ Sonntagszeitung (24.2.2008) ein Geheimnis. Erstens sind die beiden Texte aus seiner Sicht ohnehin mehr Konstrastfiguren als Wahlverwandte. Auch setze Chétouane sie in seiner mehr Rezitation als Theater bietendenden Inszenierung kaum miteinander in Beziehung. "Die Ebenen, auf der die Inszenierung die Figuren zusammenführt, ist die Sprache, die Chétouane so behandeln lässt, dass die Sinnschwere des Textes von ihrem Ausdruck entkoppelt wird: Die zerklüfteten Verse Hölderlins lassen da andere Schönheiten aufscheinen als die nüchterne Lakonik Brechts." In Köln werde so zweieinhalb Stunden lang lediglich "einer fremden Langeweile und Ehrfurcht gegenüber dem Text" gehuldigt, während Bedeutung und Berührung auf der Strecke blieben.

Stefan Keim weiß in der Frankfurter Rundschau (25.2.2008) die Analogien zu würdigen, die Chétouane bei Hölderlin und Brecht findet. Der vorangesetzte "Fatzer"-Text erleichtere den Weg zu Hölderlin, weil man sich schon eingehört habe "in die nüchterne Textgestaltung, eingesehen in die Bilderwelt, die jede Illustration verweigert". Auch wenn der Regisseur sein Publikum mit der radikalen Stilisierung wie immer "aufs Äußerste" fordere, hätten Sprechweisen und Bewegungen "ihren eigenen Rhythmus", seien "ein virtuos eingesetztes Mittel, um die Texte zu reinigen, zu ihrem Kern vorzudringen". Wer sich darauf einlasse, erlebe "wie sich Konventionen und Erwartungen langsam auflösen und schließlich Offenheit entsteht." So sei der Abend "eine Zumutung der produktiven Art, ein Denkdrama, in dessen Kargheit nicht nur Sinn, sondern auch eine überraschende Sinnlichkeit" sowie in manchen Momenten gar "eine Spur galligen Humors" stecke.

Ob der beckettsch-kargen Einrichtung der Bühne wähnt sich Christian Bos zunächst im falschen Theater. Am Ende kann er im Kölner Stadt-Anzeiger (25.2.2008) aus dem "schauspielerisch grandiosen" Abend dann die "interessante Gleichung: Hölderlin + Brecht = Beckett" ziehen. Von den Schauspielern vereinzelt aus dem Mund geträufelte Worte würden mit Bedeutung aufgeladen und mit Gesten begleitet, die "nur willkürlich mit dem Inhalt dieser verbunden zu sein" schienen. Es gehe Chétouane dabei "um das eingehende Verständnis für den Text". Das sei zwar anstrengend, aber "lohnenswert, schön und einleuchtend". Ein "Schwachpunkt von Chétouanes Herangehensweise" liegt für Bos allerdings darin, dass jener "die weite Spanne zwischen den Dichtern, zwischen Naturmystik und Sozialrevolution" eine: "Zwingend erscheint diese Zusammenführung nie. Ein wenig Dialektik wäre spannender gewesen."

In der Kölnischen Rundschau (25.2.2008) bewundert Günther Hennecke Chétouanes Mut zur Verzahnung von Empedokles und Fatzer und den Mut zum Artifiziellen dieses "auf hohem sprachlichen Niveau stehenden Abends". Diesem drohe jedoch "der Absturz in die Langeweile". In "ihrer kaum nachvollziehbaren Verschränkung" verlören sich die "an der Grenze des Verständlichen" befindlichen Texte "mehr und mehr im Unverbindlich-Ungefähren". Trotz "beeindruckend agierender" Darsteller, gelinge dem Regisseur "kein Theater-Sieg, sondern allenfalls, dank sprachlicher Dichte und Konzentration, ein Produkt höchster Künstlichkeit." Den Zuschauer ohne Textkenntnis glaubt Hennecke verloren. "Was die Regie erreichen will, Brecht und Hölderlin auf einer vergleichbar exzentrischen Bahn zusammen zu bringen", führe "zwangsweise in ermüdende Monotonie".

Chétouane sei nicht der erste, der versuche, Brechts "Fatzer"-Fragment mit anderen Texten zu konfrontieren und weiter aufzusprengen. Schon bei der Uraufführung 1976 an der Westberliner Schaubühne, weiß Bernhard Doppler vom Deutschlandradio Kultur (22.2.2008), wäre dem Brecht-Text die Inszenierung von "Empedokles. Hölderlin lesen" vorausgegangen. Im "hohen poetischen Ton der Ode" hört er "ein Skandieren des Denkens". "Doch so wichtig das oft statuarische Psalmodieren und die Wortdeutlichkeit" sei, "die Aufführung könnte auch in einer unverständlichen Fremdsprache gespielt werden", denn der Sinn bleibe "geheimnisvoll unklar". Kein "politischer Bezug" enträtsele sich. "Alles also nur Bluff?" fragt Doppler, findet aber, dass Chétouanes Verfahren bei Brechts Fragment einleuchte und glaubt, dass Heiner Müller "mit dem Abend wohl zufrieden gewesen" wäre.

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