Warten auf Amerika

von Stefan Schmidt

Luxemburg, 5. Februar 2015. Ausgrabungen sind mit Risiken verbunden. Nicht immer lässt sich dabei ein Schatz zu Tage fördern. Manche vielversprechende Grabkammer entpuppt sich nach ihrer Öffnung als leer. Insofern beweist Frank Hoffmann, der Direktor des Luxemburger Nationaltheaters, durchaus Forschermut, wenn er sich auf seiner Erkundungsreise durch die theatralen Räume des George Tabori jetzt auch noch dessen Frühwerk "Flucht nach Ägypten" zuwendet, das bei seiner Uraufführung 1952 am Broadway gefloppt ist und überhaupt erst neuerdings auf Deutsch zu kaufen ist. Dass ein gleichwohl keineswegs verschollenes Stück eines derart profilierten Autors und Spielmachers (wie er sich selbst gern nannte) erst Jahre nach dessen Tod seine Europäische Erstaufführung erlebt, ist natürlich kein Zufall und liegt wohl nicht nur in einer möglicherweise unglücklichen Ur-Inszenierung in den USA (durch Elia Kazan) begründet.

flight to egypt 1952 560 arthur rosenfeld ny public library of performing artsProbe zur Broadway-Produktion "Flight to Egypt", 1952, mit George Tabori (links),
den Hauptdarstellern Gusti Huber (rechts außen) und Paul Lukas (sitzend neben ihr)
sowie dem Regisseur Elia Kazan zwischen ihnen.
© Arthur Rosenfeld / New York Public Library of Performing Arts
In einem Kairoer Hotel des Jahres 1949 lässt George Tabori eine ganze Reihe komischer Typen, teils wahre Prachtexemplare von veritablen Knallchargen, um eine junge österreichische Familie kreisen, die nach einer Odyssee durch Europa hier auf die Ausreise nach Amerika wartet. Nur ist deren Oberhaupt Franz Engel als Krüppel aus einem Konzentrationslager zurückgekehrt und entpuppt sich immer mehr als Klotz am Bein seiner hübschen jungen Frau und seines Sohnes, die trotz allem zu ihm stehen.

Sich für Träume erniedrigen

Um das Geld für Unterhalt, Medikamente und Aufenthaltserlaubnis zusammenzukratzen, pumpt, bettelt und schmeichelt Lili Engel, was das Zeug hält, macht gut Wetter in der sengenden Hitze bei dem korrupten Polizisten, dem geldgeilen Hotelbesitzer, dem wohlhabenden fetten Paar, dem nihilistischen Arzt, dem sexgeilen französischen Machosoldaten und anderen. Und von Station zu Station zu Station bestätigt sich: Diese Frau erniedrigt sich für einen Traum, der nicht (mehr?) ihrer ist.

Regisseur Frank Hoffmann spielt diese irgendwann reichlich vorhersehbare Szenenfolge mit einem großzügigen Ensembleaufgebot voll aus und lässt sich dabei keine potentielle Pointe entgehen. Theaterhistorisch ist das nicht unspannend, weil dabei immer wieder der groteske, absurde, manchmal zynische, entlarvende (Galgen-)Humor durchscheint, den Tabori im Laufe der Jahrzehnte immer weiter perfektioniert hat.

flucht 1 560 bohumil kosthoryz uIm Grabkammersystem: "Die Flucht nach Ägypten" © Bohumil Kosthoryz

Auch der präzise, scharfzüngige Dialogkünstler ist da spürbar, aber trotzdem bleibt das Gefühl, dass wir uns durch das hohle Grabkammernsystem einer Pyramide bewegen: ein Schacht nach dem anderen, alle einander ähnlich, aber das Eigentliche, das Heiligtum, bleibt erstmal verborgen. Das Tempo stimmt, der Rhythmus auch, aber Schauspieler wie Handlung changieren zwischen blass und grell. Da hilft auch der gut gemeinte (aber allzu offensichtliche) Hinweis aus dem Programmflyer wenig, dass es heute in Europa mehr Flüchtlinge denn je gebe.

Auslese vor den Toren Amerikas

Dann kommt es aber zur Auferstehung des Heikko Deutschmann. Dieser Schauspieler verbringt als Franz Engel einen großen Teil des Abends lauthals stöhnend im Krankenbett. Doch als der Arzt des US-amerikanischen Konsulats überprüfen soll, ob Engel fit genug ist für das junge, schöne, reiche Amerika, da bäumt sich dieser Mann auf, versucht, seinen desolaten Gesundheitszustand zu überspielen wie weiland die Alten im KZ. Er wird bei dieser gruseligen Auslese nicht bestehen können, das weiß oder ahnt er, aber er bemüht sich nach Kräften, die Fassade aufrecht zu erhalten. Das ist großes Theater der kleinen Gesten, der zitternden Mine.

Und auf einmal, spät, sind wir im Zentrum dieser Geschichte angelangt, bei dem, was abseits von Zeitkolorit und Seitenhieben auf Hollywoodemigranten zu holen ist in diesem Stoff: Es geht um Liebe und Aufopferung, Realitätsflucht als Irrweg und Selbstlosigkeit als Problem. Passend zu dieser Diagnose singt dann auch noch die Schauspielerin Maria Gräfe im knallrot überzeichneten Kleid ihrer Nebenfigur unvermittelt wie passend, gebrochen wie kitschig Edith Piafs Liebeshymne "If you love me, really love me", ein bittersüßer Kommentar zum Ende der Hoffnung durch die Umstände, und der Abend hat mit einem Mal eine düstere Poesie.

Licht-und-Schattenspiele

Wenn sich die Inszenierung zum Ende hin derart verdichtet, erschließt sich ihr Licht- und Bühnenkonzept: Zwei Sessel, ein Barhocker, ein Ventilator, ein Radio, ein Beistell- und ein Nachttisch machen selbst mit einer Grünpflanze als Deko wenig her. Statt auf Möbel und Bauten setzt Frank Hoffmann auf das so genannte "Tracking": eine Verfolgertechnik, die es zulässt, die Schauspieler digital automatisiert im Scheinwerferfokus zu halten, wenn sie sich bewegen. flucht 3 560 bohumil kosthoryz uIn Lichtkegel getaucht: "Die Flucht nach Amerika" © Bohumil Kosthoryz 

Das Darumherum bleibt dann weitgehend dunkel. Über weite Strecken wirkt das vor allen Dingen kalt, unbarmherzig, vereinzelnd. Es werden weniger Räume geöffnet als geschlossen: Jeder kämpft (und agiert) für sich allein. So weit, so plakativ. Diese Technik lässt sich aber auch differenzierter einsetzen: Als klar und ausgesprochen ist, dass Franz Engel wohl nicht mehr gesund wird, dass die Zukunft seiner Familie nicht mehr seine ist, nähert er sich ein letztes Mal seiner Frau. Sein Spot ist schon aus, ihrer leuchtet, sie weicht zurück, er folgt, die Pistole in der Hand, mit der er sich erschießen wird. Eine berührende Choreographie aus Licht und Schatten, kein praller Schatz, aber ein wertvoller Bühnenmoment. Im Frühjahr auch zu besichtigen bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, deren Intendant bekanntlich wiederum Frank Hoffmann ist, ein entdeckungsfreudiger Pragmatiker der Theaterkunst.

 

Flucht nach Ägypten
von George Tabori, Deutsch von Ursula Grützmacher-Tabori
Regie: Frank Hoffmann, Raumkonzept: Jasna Bosnjak und Frank Hoffmann, Kostüme: Jasna Bosnjak, Licht: Daniel Sestak, Dramaturgie: Andreas Wagner, Musik: Andreas Wagner frei nach Motiven von Charlie Parker, Oum Kalthoum und Abdel Halim Hafez.
Mit: Heikko Deutschmann, Maria Gräfe, Ulrich Kuhlmann, Marc Limpach, Marco Lorenzini, Arash Marandi, Tatiana Nekrasov, Roger Seimetz, Raoul Schlechter, Yuri Schmitz, Maik Solbach, Serge Wolf
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.tnl.lu

 

Kritikenrundschau

Frank Hoffmann vermeide in seiner Inszenierung von Taboris Stück "Flucht nach Ägypten" "eine exzessive und moralistische Über-Theatralisierung des Stoffes" und verweigere "sich derart einem aktionistischen 'Empört euch endlich!', schreibt Samuel Hamen im Lëtzebuerger Journal (7.2.2015). "Einem solch kurzsichtigen und pseudo-engagierten Aufschrei setzt er eine Aufführung entgegen, die sich stattdessen und zu Recht auf die beeindruckenden schauspielerischen Stärken des 13-köpfigen Ensembles verlässt." Der Abend werde trotzdem nicht "zur Nabelschau der eigenen dramatischen Fähigkeiten", die "Konzentration auf das Schauspiel" erlaube vielmehr "den tiefgreifenden Nachvollzug dessen, was eine heimatlose und ohnmächtige Familie, unabhängig ihrer zeitlichen und räumlichen Fixierung, auf der Flucht zu erleiden hat."

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