Verpönte geköpfte Könige

von Falk Schreiber

Hamburg, 7. Februar 2015. Abstrakter kann man das Macbeth-Schloss kaum darstellen. Annette Kurz hat ein riesiges Mobile aus Stahlrohren gebaut, dazu wabert ein wenig Bühnennebel, und im Bühnenhintergrund fällt Licht durch ein riesiges Tor. Ein Tor, durch das nach und nach alle Protagonisten auftreten und fortan keinen Ausweg mehr finden: Willkommen in Inverness. Beziehungsweise in St. Petersburg, am Baltiysky Dom Theater, wo Luk Percevals Shakespeare-Inszenierung im Mai 2014, parallel zur Eskalation der Ukraine-Krise, Premiere hatte.

Zum Abschluss der Hamburger Lessingtage bringt Perceval "Macbeth" als Gastspiel an sein Stammhaus, das Thalia Theater – und spannt das Publikum erst einmal auf die Folter, mit einem radikal entschleunigten Einstieg, der alle Figuren extrem langsam ihren Platz in der Bühneninstallation finden lässt: Sechs Hexen, bis auf üppige Haarpracht nackt. Duncans Hofstaat, Karrierekrieger in globaler Businessuniform. Schließlich Macbeth, ein gehetzter, unsicherer Typ, der nicht durch Moral gehemmt ist, sondern gerade mal durch die eigene Angst – und sobald er keine Angst mehr hat, kennt so jemand keine Grenzen mehr. Der zögernde Anfang braucht seine Zeit, aber nachdem er absolviert ist, haben wir alle Charaktere verstanden. Theoretisch könnte jetzt der Vorhang fallen: Wir wissen ja, was folgt.

Gefangene des Schicksals 

Auch Perceval kennt das Stück sehr gut, die St. Petersburger Arbeit ist schon seine dritte Beschäftigung mit "Macbeth". Zuletzt inszenierte er den Stoff im Herbst 2011, als Koproduktion zwischen Ruhrtriennale und Thalia Theater. Reduzierte er Shakespeare schon damals mit zwei Stunden Spieldauer auf seinen (damals als buddhistische Philosophie interpretierten) Kern, so setzt diese jüngste, gerade mal knapp eineinhalb Stunden lange Inszenierung noch einen drauf: Nahezu jegliche Aktion wird ins Off verlagert, umfangreiche Passagen fallen dem Rotstift zum Opfer, ohne Kenntnis des Stoffes ist man aufgeschmissen.

Der Einbruch des Bösen in Macbeths Welt ist ein dunkler, fiebriger Sexualakt, die Hexen-Einflüsterungen sind das Selbstgespräch eines Halbirren, vieles funktioniert über eine sehr musikalisch motivierte Tonregie, die den Darstellern erlaubt, virtuos zwischen Flüstern, Zischen, Murmeln zu wechseln, während ein Gitarrist düstere Drones über die Bühne schickt. Alles ist mehr Stimmung als Handlung, das aber durch die Bank überzeugend.

macbeth1 560 lukperceval info uWuchtig, durch Ängste gehemmt: Leonid Alimov als Macbeth © Thalia Theater Hamburg

Und dann ist da noch Leonid Alimov, als Macbeth das unangefochtene Zentrum dieser Inszenierung (dem Maria Shulga als Lady Macbeth mit allzu forciertem Spiel wenig entgegenzusetzen hat). Wuchtig, breit, kein Machtmensch, sondern ein Gefangener des bösen Schicksals, der nicht versteht, wie ihm geschieht. Alimov trägt den Abend, das ist eine nicht zu unterschätzende Leistung, die auch dadurch nicht geschmälert wird, dass er in seiner Physiognomie und seinem Spiel ein ganz ähnlicher Schauspielertyp ist wie Bruno Cathomas, Percevals Macbeth vor dreieinhalb Jahren.

Keine Lösung, kein Ausweg

In die Tatsache, dass der Ukrainer* Alimov an einem russischen Theater engagiert ist, sollte man hingegen nicht unbedingt ein politisches Statement interpretieren, zumal sich die Inszenierung trotz aller Freiheiten gegenüber dem Text politisch eher uneindeutig gibt: Macbeth ist (natürlich) nicht Putin, so billig macht es einem Perceval nicht. Einzig das Motiv einer korrumpierenden Machtfülle und die Skrupellosigkeit der Figuren lassen Rückschlüsse darauf zu, dass die Regie durchaus weiß, in welchem historischen Kontext diese Inszenierung stattfindet. Allein, klare Gut-Böse-Zuordnungen wie im Stück sind ihre Sache nicht: "Zu dieser Krise gibt es keine einfachen Lösungen, trotz einfacher Aussagen der Medien", stellt Perceval im Publikumsgespräch klar.

Gleichwohl, "Macbeth" in Russland zu inszenieren, gerade in solch einer ganz weit von aller Texttreue entfernten Fassung, ist per se ein Politikum. Übersetzerin Marina Koreneva beschreibt die im Zarenreich begonnene und bis heute andauernde Krise der russischen Shakespeare-Rezeption so: "Man wollte nicht so gerne sehen, wie Könige auf der Bühne geköpft werden."

Putin als glücklicher Mensch?

Die Folge war, dass Shakespeare lange Jahre von den russischen Spielplänen verschwand – und die Tatsache, dass das renommierte Baltiysky Dom Theater aktuell unter massiven Mittelkürzungen leidet, kann man auch so interpretieren, dass man man heute wohl keinen König sehen will, der von seiner zunächst unbedroht scheinenden Herrschaft in Selbstüberschätzung und Wahnsinn getrieben wird. "Man darf die unglücklichen Menschen nicht an die Macht bringen!", zitiert Koreneva Tolstoi – dass Macbeth unglücklich ist, bezweifelt nach Percevals Inszenierung niemand mehr. Die Frage ist: Kann man sich eigentlich Wladimir Putin als einen glücklichen Menschen vorstellen?

* Dass Leonid Alimov ukrainischer Staatsangehöriger ist, entnahm unser Autor dem Programmheft des Thalia Theaters. Inzwischen wurden wir darauf hingewiesen, dass Leonid Alimov russischer Staatsangehöriger sei. 

 

Macbeth
von William Shakespeare, Deutsche Übersetzung von Thomas Brasch, ins Russische übertragen von Marina Koreneva
Regie: Luk Perceval, Bühne: Anette Kurz, Kostüme: Irina Rjabow, Musik: Pavel Mikheev, Licht: Mark Van Denesse.
Mit: Anatolii Dubanov, Leonid Alimov, Maria Shulga, Dmitrii Girev, Yurii Elagin, Alexander Muravitskii, Elena Karpova, Anna Budanova, Natalia Kolesnichenko, Yulia Gorbatenko, Evgenia Chetvertkova, Natalia Zhestovskaya, Yulia Rudina, drei Kindern.
Spieldauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.baltic-house.ru
www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Allein in dem Fakt einer "in Hamburg gastierenden russischen Shakespeare-Bearbeitung eines belgischen Regisseurs" sieht Maike Schiller "gelebte Völkerverständigung über diverse (nicht nur sprachliche) Grenzen hinweg" und wiegt im Hamburger Abendblatt (9.2.2015) ab: In der Inszenierung selbst fehlten allerdings direkte Hinweise auf die konkrete politische Situation in und um Russland. "Vielleicht hätte der Regisseur das zu plump gefunden, uninteressant wäre es in dieser Konstellation sicher nicht gewesen." Aber vermutlich genüge es, so Schiller, das Urthema des Stücks – Macht korrumpiert, Macht verlangt nach mehr Macht, und der Mensch ist angstgesteuert – "so auf die Bühne zu bringen, wie Perceval es hier getan hat: konzentriert, fast choreografisch streng, mit großartigen Schauspielern".

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