Die Schweiz an und für sich

von Christoph Fellmann

Zürich, 20. Februar 2015. Wo beginnen? Ach, warum nicht vorne. Beim Werbefilm also für Wohlstadt, den ruhigen Ort, der auf Platz sieben der beliebtesten Orte der Schweiz rangiert. (Ein Hinweis an die Leserinnen und Leser: Es gibt diesen Ort nicht wirklich, er wurde für die Bühne erfunden von Dani Levy.) Und als man noch denkt, Wohlstadt, das klinge ja fast wie Wohlstand, da öffnet sich die Szenerie hin auf ein todschickes, modernes Doppel-Einfamilienhaus, in dem auf der linken Seite der Prokurist Balz Häfeli lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern, von denen der Jüngste gerade die Sexualität entdeckt, die Mittlere die Lyrik und der Älteste die Finanzbranche. (An dieser Stelle ist wohl der Hinweis nötig, dass die Schweiz für eine starke Finanzbranche bekannt ist, die wiederum den Wohlstand von Orten wie Wohlstadt befördert. Sex und Lyrik sind weitere, aber unbedeutendere Geschäftsfelder.) Rechterhand zieht der Abteilungsleiter Max Brenner mit seiner Frau ein. (Kinderlos, da, der Hinweis drängt sich womöglich auf, die Karriere bei Karrieristen wie bekannt wichtiger ist als die Produktion von Kindern.)

Zwei Bewerber, ein Arbeitsplatz

Wo waren wir? Genau. Häfeli (dessen schweizerischer Name gemeinhin einen niedrigen Status anzeigt, notabene auf der Theaterbühne, wo Namen durchaus auf den Charakter vorausweisen können) und Brenner (höherer Status, aber man beachte auch den destruktiven Grundklang) sind also Nachbarn. Und wie es der Zufall will (der natürlich ein Einfall ist), wurde Brenner auf jene Arbeitsstelle befördert, auf die sich auch Häfeli beworben hatte. (Und wer sich, hier angelangt, wundert, dass bisher vor allem von den Männern die Rede war, wird sich womöglich nicht wundern, dass Rosa Häfeli – Rosa wie rosa – den Moment bzw. die Regieanweisung gekommen sieht, um "It's A Man's World" von James Dings zu singen.)schweizerschoenheit1025 560 tanjadorendorftt uNachbarn im Bungalowidyll: "Schweizer Schönheit" © Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Vielleicht sollte man auch erwähnen, dass, während Häfelis pubertierender Sohn Fredi die Autosexualität entdeckt, es Vater Balz mit der Drittsexualität seiner Ehefrau enggeführt genau gleich ergeht. (Man könnte hier natürlich wohlfeil denken, dass Geld nicht glücklich macht). Der hart zupackende Text aber formuliert den Befund durchaus drastisch: "Ich halte es nicht aus in Wohlstadt!", sagt Balz Häfeli, während Tochter Vanessa, ihre Rolle ist existenzialistisch angelegt, zur Metapher findet: "Irgendwas braut sich zusammen, wie'n Gewitter, ich spür das." Dass das Publikum es nun auch spürt, ist schon sehr gut gemacht.

Rechte Sicherheits-, linke Wirtschaftspolitik

Wie geht es also weiter. Die wie beschrieben als unglücklich entlarvten Bewohner von Wohlstadt sehen sich mit der dramatischen Wende konfrontiert, dass einer aus ihrer Mitte den Wohlstand zurückweist. (Es ist Balz Häfeli.) Sie selber stellen sich mit Alkoholika und Antidepressiva ruhig. (Dabei handelt es sich um eine nicht nur in der Schweiz verbreitete Kulturtechnik der Verdrängung, die hier nun aber durch die Livedarbietung von "We Are the Champions" von Queen kontrapunktisch zur Kenntlichkeit entstellt wird.)

Es entgeht dem Publikum aber auch nicht, dass diese Anspielung auf Queen und damit auf die Homosexualität des Sängers Freddie Dings vorweg nimmt, wen Abteilungsleiter Max Brenner später in einem unbeobachteten Moment bedrängen wird. (Es ist Urs der Bär – nein, pardon, der Banker.) Unbeobachtet übrigens darum, weil so ein Brenner eine Ehefrau nicht nur in der Funktion als Abteilungsleiter benötigt, sondern auch in jener als Vorsitzender einer Partei, die wiederum die althergebrachten Machtverhältnisse in Wohlstadt aufbricht. So bildet sich im Stück eine Koalition aus rechter Sicherheits- und neoliberaler Wirtschaftspolitik, die folglich lesbar wird als Parabel auf jene Koalition aus rechter Sicherheits- und neoliberaler Wirtschaftspolitik, welche "die Schweiz retten" will, wie es im Stück heisst. (Wie hier auf die SVP, eine real existierende Partei, angespielt wird, das ist schon sehr gut gemacht.)    

Rasenmähen im Gewitter

Aber was ist denn nun mit Balz Häfeli. (Seine Interpretation von "Smells Like Teen Spirit" von Kurt Dings gibt erste Hinweise, bereitet aber mit nichts auf die Überraschung vor, die eintritt, als er schon bald seinen fahrbaren Rasenmäher durch das Gewitter steuert – was normale Menschen, dieser Hinweis sei erlaubt, nicht tun.) Der sexuell frustrierte, von der Entlassung bedrohte Prokurist bezieht den Geräteschuppen im Garten. (Es geschieht an seinem 50. Geburtstag, was ein ebenso hilfreicher Hinweis auf den Ernst der Lage ist wie das Fett um seine Hüften, das hier – schon sehr gut gemacht – durch Kissen dargestellt ist.)

schweizerschoenheit1215 560 tanjadorendorftt uAttacke: alles auf den falschen Muezzin © Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Viel mehr sollte man an diesem Punkt der Geschichte wohl nicht verraten. Aber ein paar Hinweise seien noch erlaubt. Balz Häfeli errichtet ein Minarett. (Was, wie man in Deutschland und Österreich vielleicht nur am Rande mitbekommen hat, in der Schweiz gegen die Verfassung verstösst.) Er sagt: "Niemand bleibt, wie er ist", und übt prompt Bluesakkorde auf der elektrischen Gitarre seines Sohnes und spielt Muezzingesänge ab.

Bis zur Bürgerwehr

Was in der Schweiz vor 22 Uhr auch in einem Geräteschuppen nicht verboten ist, was aber als Fingerzeig verstanden werden kann auf eine gewisse, latente, man könnte auch sagen fast schon unterschwellige Fremdenfeindlichkeit der Schweizerinnen und Schweizer. Aber damit nicht genug: Wie sich der Unmut über das Fremde und Unangepasste nun bildstark, den Slogan "Je suis Balz" notabene ignorierend, zu einem Fackelzug der Bürgerwehr aufschaukelt: Das ist schon sehr gut gemacht, auch wenn einem das Lachen im Ansatz stecken bleibt. Und so weiter.

Schweizer Schönheit
von Dani Levy
Uraufführung
Regie: Dani Levy, Bühne: Henrike Engel, Kostüme: Sabine Thoss, Licht: Markus Keusch, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger, Video: Andi A. Müller, Musik: Jojo Büld.
Mit: Margot Gödrös, Joshua Maertens / Marc Baumann, Dagna Litzenberger Vinet, Thomas Loibl, Miriam Maertens, Michael Neuenschwander, Nicolas Rosat, Carol Schuler, Pierre Siegenthaler, Johannes Sima, Susanne-Marie Wrage.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.ch

 


Kritikenrundschau

Bei diesem freien Auftrag des Zürcher Schauspielhauses für Dani Levy sei "etwas irgendwie – Überzuckertes" herausgekommen, ein Abend, der so "angenehm störungsfrei" verlaufen sei, "dass sich am Ende Eidgenossenschaft, Bühnenpersonal und Regisseur jubelnd und gerührt in den Armen lagen", berichtet Cornelie Ueding für den Deutschlandfunk (21.2.2015). Die Kritikerin bemängelt den "klischeehaft" eingerichteten Plot dieser "als rabenschwarz, aberwitzig, abgründig fundamentalistisch leider nur angekündigten Komödie". Fazit: "Dass der Filmemacher Dani Levy von den Möglichkeiten und der Komplexität des Theaters fasziniert ist, wird deutlich. Wie fremd ihm die Mittel des Theaters sind – ebenfalls."

In der Neuen Zürcher Zeitung (23.2.2015) schreibt Barbara Villiger Heilig, ein erstes Highlight sei der "munter abschnurrende, mit bitterbösen Pointen gespickte erste Akt: grosses Kino, sozusagen." Der Anfang sei perfekt, "Screwball-Comedy besten Stils. Jede Requisite ein Volltreffer." Danach gerate der Autor-Regisseur ins Schleudern. "Die Kritik an der saturierten, gleichgeschalteten, karrieresüchtigen, geldgierigen Schweiz, um die es Dani Levy geht, leidet bei aller Ironie unter den ad infinitum addierten Klischees.

Martin Halter schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.2.2015), Levys Stück sei nur flachster Boulevard. "Statt dramatischer Konflikte gibt es kunstlos aneinandergereihte Standardsituationen, statt differenzierter Figuren grobgerasterte Typen aus dem Baukasten des Besserwisser-Kabaretts, statt großer Bilder (...) Klischees und schlüpfrige Witze aus der Klamottenkiste des Aufklärungstheaters." Die alten Gesten des "Anarcho-Klamauks" seien nur noch anachronistische Zitate und matte Reprisen, "und die filmisch-realistische Erzählsprache ist erschreckend bieder".

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