Der Idiot - Am Stuttgarter Staatstheater zieht Martin Laberenz Dostojewski in die Länge
Wunder sind nicht zu erwarten
von Verena Großkreutz
Stuttgart, 28. Februar 2015. Sie quarzen, was das Zeug hält. Vor allem der todkranke Ippolit raucht eine nach der anderen. Das ganze Theater ist zudem eine einzige mit Kunstnebel befeuerte Dunstwolke, und später kommt noch ein qualmendes Öfchen dazu. Dostojewski selbst soll beim Schreiben ja auch eine Zigarette nach der anderen geschmaucht haben. Die verbliebenen elf Protagonisten von Dostojewskis Roman "Der Idiot" in der Stuttgarter Inszenierung und Bühnenbearbeitung von Martin Laberenz umweht also so etwas wie der Urnebel ihrer Schöpfung.
Knutschender Außenseiter aus dem Sanatorium
Was macht Laberenz aus dem "Idioten", aus Fürst Myschkin, der wegen seiner "angeborenen" Krankheit, einer Art Epilepsie, in kindlichen Verhaltensmustern und einer nur schwach ausgeprägten Libido steckengeblieben ist, der aber die Dinge durchschauen kann, offen, ehrlich, direkt und mit Empathie auf Menschen zugeht, von den einen geliebt, von anderen gehasst? Der aus der völligen Isolation eines Schweizer Sanatoriums in Erbschaftsangelegenheiten in seine Heimat Petersburg zurückkehrt und dort in die wohlhabende, aber verdorbene Adelsgesellschaft gerät, sich in tragische Beziehungsgeflechte verfängt und daran zerbricht?
Manolo Bertling spielt Myschkin als einen schlaksigen Jüngling in rotem Wams und Kniebundhose. Einer, der denen, die er mag, ständig im Gesicht rumtatscht und ihnen feuchte Küsse auf die Lippen presst. Ein infantiler Außenseiter, der meist nicht so recht weiß, wie ihm geschieht, und doch Kluges sagt, wenn er ins Schwallen gerät. Und dann plötzlich doch mal tätig wird und eingreift. Myschkin endet hier nicht verdämmernd im Sanatorium wie im Roman, sondern versackt im Chaos, das er selbst – ungewollt – angerichtet hat. Der Abend endet mit dem zuvor bereits vorweggenommenen Tod der schönen Nastassja, die Myschkin aus Mitleid heiraten wollte, womit er sich zum Konkurrenten seines Freundes Rogoschin machte. Myschkin hatte es lächelnd vorausgesehen: dass Rogoschin seine Geliebte töten wird.
Nackter Yoga-Hund
Wunder darf man hier nicht erwarten: "There will be no Miracles here", prangt die Leuchtschriftskulptur des britischen Künstlers Nathan Coley im Hintergrund der an Seilen schwebenden Bühne. Zu sehr sind die Protagonisten mit ihren Gefühlen beschäftigt, die meist im krassen Gegensatz stehen zu ihren "kapitalen Zielen". Hier geht's ums Heiraten zwecks sozialen Aufstiegs.
Keine Magie zu erwarten: "Der Idiot" auf der Schwebebühne © Conny Mirbach
Als Höhepunkt des komplizierten Liebesgewirrs initiiert der reiche Rogoschin, von Paul Schröder als Aggro-Proll in Zuhälter-Outfit gespielt, die "Versteigerung" Nastassjas an den Höchstbietenden, was zu einer skurrilen Striptease-Szene aller vier beteiligten Männer führt: "Guck ma, wie das aussieht", brüllt der splitternackte Rogoschin, auf seine weißen Westernstiefel zeigend. Derweil entledigt sich Ganja seiner Kleider und macht Yoga: den "herabschauenden Hund". Und während der General beim Ausziehen "Hop, hop, hop" ruft, stopft sich Ferdystschenko nackt Pralinen rein. Nur Myschkin steht, in Kleidern, abseits. Wer ist hier der Idiot? Die vier Nackten schmiegen sich an Nastassja, die abwesend die Geschichte ihrer finsteren Jugend als Mätresse und Sklavin des reichen Totzkijs erzählt. Bis Myschkin eingreift.
Die Inszenierung kokettiert mit der Probensituation, dem Unfertigen, lässt in Improvisationen die Schauspieler aus der Rolle heraustreten, thematisiert den Bearbeitungsstatus ("Meine Mutter ist gestrichen. Wir müssen sparen!"). Dadurch wird aber die Struktur, die die Bühnenadaption angesichts eines derart umfangreichen und komplexen Romans schaffen muss, aufgeweicht. So gelingt es Laberenz wie vielen anderen vor ihm nicht, den komplizierten Plot in eine gut verständliche und doch stringente Handlung zu überführen.
Sich selbst auffressen
Zwar versucht Laberenz durchaus, neben den kolportageartigen Handlungselementen die visionären Gedanken des Romans über Gier, Geld, Töten, Sterben und Glauben einzubauen. Aber dem starken ersten Teil folgt nach der Pause ein schwacher zweiter, der vergessen hat, was im ersten schon gesagt wurde, der das Tempo nicht anzieht, sondern immer träger wird, immer stärker ausfasert. Das Hin und Her der Liebesbekundungen, der Heiratsanträge und ihrer Rücknahme, der Gefühlsausbrüche und Hassattacken – schon nach der Pause ist einem eigentlich egal, wer mit wem, warum oder auch nicht.
Längen verursachen auch die selbstdarstellerisch arg ausgereizten Impros von Ippolit Peter René Lüdicke: Der lange angekündigte Vortrag findet nicht statt, dafür Endlos-Auslassungen über die Lichtskulptur oder Albernheiten und Slapsticks beim Spielen seines Suizidversuchs. Selbst die Kollegen und Kolleginnen wirken da arg müde, als er schon lange nach Mitternacht über die Funktion von Roman-Haupt- und Nebenfiguren sinniert. Nein, diese über fünf Stunden müssten wirklich nicht sein. Drei würden reichen. Ein durchweg bravouröses Ensemble – aber ein Abend, der sich selbst auffrisst.
Der Idiot
nach dem Roman von Fjodor Dostojewskij; neu übersetzt aus dem Russischen von Swetlana Geier, Theaterfassung von Martin Laberenz.
Regie: Martin Laberenz, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Aino Laberenz, Musik: Friederike Bernhardt, Dramaturgie: Katrin Spira.
Mit: Manolo Bertling, Matthias Breitenbach, Christian Czeremnych, Caroline Junghanns, Manja Kuhl, Peter René Lüdicke, Abak Safaei-Rad, Susanne Schieffer, Christian Schneeweiß, Paul Schröder, Friederike Bernhardt.
Dauer: 5 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Martin Laberenz gehe es "primär nicht darum, diesen Klassiker der Weltliteratur schlüssig, spannend und substanziell auf die Bühne zu bringen, sondern er erklärt den Vorgang, einen Roman auf die Bühne zu bringen, selbst zum Konzept", schreibt Adrienne Braun in der Stuttgarter Zeitung (2.3.2015). Er analysiere "nicht die Beziehungen der Figuren untereinander, sie haben weder Tiefe noch sind sie zu Typen zugespitzt, sondern (…) bleiben konturlos, zerrieben im ständigen Wechsel zwischen Rolle und selbstreferenzieller Bespiegelung". In einzelnen Szenen (etwa von Peter René Lüdicke) sehe man zwar auch "großartiges Theater", doch es bleibe " höchst ärgerlich, wie hier das Ensemble über Stunden kämpft und ringt um eine Konzeption, der jegliche inhaltliche und intellektuelle Dimension abgeht".
Laberenz sei offenbar von Dostojewskis Roman begeistert, meint Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (2.3.2015), wirft jedoch die Frage auf, ob ihn die Konstellationen auch im Einzelnen interessiert hätten. "Ja, ja und: ja. Er begeistert sich für alles, aber für alles nur ein bisschen. Viele Szenen werden oberflächlich, hektisch angespielt. Das hat zur Folge, dass diese – so enorm gekürzt – ihre Kraft verlieren." Trotzdem: Bis zur Pause halte Laberenz’ Regiearbeit "die Balance zwischen Spiel und Rede über das Spiel." Danach aber sei die Inszenierung "eigentlich beendet. Es folgt ein zweistündiges Bonusprogramm, wie man es von Film-DVDs kennt." Und so schleppe "sich der Abend dahin (…) mit Kommentaren über die Kostüme von Aino Laberenz und die Bühne von Volker Hintermeier, bis man wieder an dem Punkt ist, an dem der Abend verheißungsvoll begonnen hatte: Beim Mord an Nastassja Filipowna."
An Ideen mangele es nicht, meint Otto Paul Burkhardt auf Südwest Presse Online (2.3.2015), "toll auch die Musik von Friederike Bernhardt." Die Inszenierung habe "spannende Momente zwischen Nonsens und Philosophie, Blödsinn und Transzendenz. Doch in mehr als fünf Stunden zerfleddert vieles – auch die Ideenvielfalt – zwischen Erzähltheater und Geduldsprobe."
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Der Vollständigkeit halber sei erinnert, dass die Viertelstunde wortlosen Zigarettenqualmens für Die Reise eine unübertrefflich starke Eröffnung gebildet hatte; im Idioten nun kam alle tragikomische Selbstreferentialität überhaupt ins Spiel, indem Ippolit Lüdicke "echt" rauchen, anbieten und angeschnorrt werden durfte.
Bis dahin mussten sich die anderen Russen ja mit Luftzigaretten lächerlich machen, mit verpuffender inszenierungsübergreifender Selbstironie also; ihr Dostojewskijdeutsch aber schien immer gut betont.
An den von Armin Petras geleiteten Häusern fiel und fällt mir das jedoch besonders auf: früher am Gorki, jetzt in Stuttgart, auch bei seiner Gast-Inszenierung "Der geteilte Himmel" an der Schaubühne.
geänderter Schluss bei "Das Versprechen"?
Bitte informieren Sie sich doch besser, bevor sie solche Nebelkerzen zünden.
Das ist der Originalschluss, sowohl bei Dürrenmatt als auch bei der kongenialen Verfilmung von Sean Penn mit Jack Nicholson in der Hauptrolle.
Lediglich die Verfilmung mit Heinz Rühmann, die Sie sicher meinen, hielt sich nicht ans Original.
Gerade dieser zutiefst desillusionierende Schluss ist doch was den Roman, die Verfilmung und das Stück ausmacht.
Ich kann verstehen dass SIe den Stil von Petras nicht mögen, aber das heisst ja noch lange nicht, dass er schlecht ist.
Frage an die Redaktion: Wird Der Idiot in der nächsten Spielzeit eigentlich noch gespielt, weil heute, morgen und übermorgen die letzten Aufführungen in dieser Spielzeit stattfinden. Relativ ungewöhnlich, wo die Premiere ja erst ein paar Tage her ist..
Da schaffe ich es leider nicht mehr aus Berlin anzureisen :sad:
Zunächst mal ein paar Daten zur zweiten Vorstellung: Die Pause war nach 2 Std 15 Minuten und das Stück war gestern abend schon um 00:30 Uhr beendet, also nicht die im Spielplan angegebene Endzeit 1:00 Uhr. Bis zum Ende hat ca. die Hälfte der Zuschauer ausgehalten, die meisten sind in der Pause verschwunden.
Die musikalische Untermalung war ein echtes Highlight. Das hat mir sehr gut gefallen. Auch die diversen Gesangseinlagen des Enselmbles (besonders sei hier Caroline Junghanns erwähnt) waren eine Bereicherung für das Stück.
Die Gestaltung der Bühne war sehr schlicht, ich finde sowas immer recht ansprechend, da die schauspielerische Leistung dadurch noch deutlicher wird. Es war nur eine Zwischendecke eingezogen und sonst war da eigentlich nur noch das Sofa von echter Relevanz. Rauchig war es schon die ganze Zeit, aber mich hat das eigentlich nicht gestört (obwohl ich schon eher militanter Nichtraucher bin). Es war ein ständiges "rauf- und runterklettern", da hatte ich mich schon etwas an "Die Reise" erinnert.
Zu den Schauspielern kann ich nur sagen "Hut ab". Nicht nur Paul Schröder, Caroline Junghanns, Manolo Bertling, Christian Schneeweiß und Abak Safaei-Rad waren brilliant (das hatte ich erwartet, da ich die alle schon oft gesehen habe und immer begeistert an ihren Lippen und ihrem Ausdruck "hing"). Mir hat hier auch Manja Kuhl sehr gut gefallen (die ich bisher nur selten gesehen hatte) und die mir bisher unbekannten (zwei waren Schauspielschüler, wenn ich das richtig mitbekommen habe) Schauspieler sind überhaupt nicht aus dem Rahmen gefallen, sondern haben sich sehr gut integriert. Das ist ein echtes Lob, denn z.B. in Herbstsonate haben die beiden Damen den Herrn schon ganz schön "an die Wand gespielt" fand ich. Wie gesagt, gestern war das nicht so, die Truppe hat mich als Ganzes überzeugt.
Zum Stück und wie es umgesetzt wurde, kann ich gar nichts sagen, denn ich hab den Roman nie gelesen. Aber trotz der doch seeehr langen Dauer, habe ich nie auf die Uhr geschaut (das ist für mich immer das Zeichen, wenn mich ein Stück langweilt - dann schaue ich nach wie lange ich noch durchhalten muss). Insofern fand ich es trotzdem "kurzweilig" und war jederzeit voll dabei. In lange Stücke ging ich bisher eigentlich nicht, aber nach Osage County und nun der Idiot, werde ich diese Einschränkung nochmals überdenken.
Wie eingangs schon erwähnt, hatte ich vor Beginn durchaus in Betracht gezogen, die Pause für meinen Abgang zu nutzen. Dies kam auch aus der Tatsache, dass mir "die Reise" so gar nicht gefallen hatte und somit Matrin Laberenz bei mir schon mal eine "Minus" hatte. Aber ... zweite Chance sehr gut genutzt und damit ist er für mich (anders als Robert Borgmann, der nach "Onkel Wanja" dann mit "Richard III" sich für mich ins Aus manövriert hat) wieder auf der "neutralen Liste".
Lieber Herr Müller, vielen Dank für den so nett und differenziert geschriebenen Kommentar, der als begeisterte Gegenmeinung meine eher negative Kritik sinnvoll ergänzt. Und es ist zudem tatsächlich auch sehr interessant zu erfahren, wie es mit so einer Inszenierung nach der Premiere weitergeht. Wir KritikerInnen besuchen für die Berichterstattung naturgemäß immer die erste Vorstellung, in der alle Beteiligten in einer ziemlich stressbeladenen Ausnahmesituation stehen. Dass sich so ein Abend weiterentwickelt (und das hat "Der Idiot" in der zweiten Vorstellung offenbar schon getan) kann in der Praxis leider nicht berücksichtigt werden. Danke also für die so sinnvolle Nutzung der Kommentarfunktion!