Wunder sind nicht zu erwarten

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 28. Februar 2015. Sie quarzen, was das Zeug hält. Vor allem der todkranke Ippolit raucht eine nach der anderen. Das ganze Theater ist zudem eine einzige mit Kunstnebel befeuerte Dunstwolke, und später kommt noch ein qualmendes Öfchen dazu. Dostojewski selbst soll beim Schreiben ja auch eine Zigarette nach der anderen geschmaucht haben. Die verbliebenen elf Protagonisten von Dostojewskis Roman "Der Idiot" in der Stuttgarter Inszenierung und Bühnenbearbeitung von Martin Laberenz umweht also so etwas wie der Urnebel ihrer Schöpfung.

Knutschender Außenseiter aus dem Sanatorium

Was macht Laberenz aus dem "Idioten", aus Fürst Myschkin, der wegen seiner "angeborenen" Krankheit, einer Art Epilepsie, in kindlichen Verhaltensmustern und einer nur schwach ausgeprägten Libido steckengeblieben ist, der aber die Dinge durchschauen kann, offen, ehrlich, direkt und mit Empathie auf Menschen zugeht, von den einen geliebt, von anderen gehasst? Der aus der völligen Isolation eines Schweizer Sanatoriums in Erbschaftsangelegenheiten in seine Heimat Petersburg zurückkehrt und dort in die wohlhabende, aber verdorbene Adelsgesellschaft gerät, sich in tragische Beziehungsgeflechte verfängt und daran zerbricht?

Manolo Bertling spielt Myschkin als einen schlaksigen Jüngling in rotem Wams und Kniebundhose. Einer, der denen, die er mag, ständig im Gesicht rumtatscht und ihnen feuchte Küsse auf die Lippen presst. Ein infantiler Außenseiter, der meist nicht so recht weiß, wie ihm geschieht, und doch Kluges sagt, wenn er ins Schwallen gerät. Und dann plötzlich doch mal tätig wird und eingreift. Myschkin endet hier nicht verdämmernd im Sanatorium wie im Roman, sondern versackt im Chaos, das er selbst – ungewollt – angerichtet hat. Der Abend endet mit dem zuvor bereits vorweggenommenen Tod der schönen Nastassja, die Myschkin aus Mitleid heiraten wollte, womit er sich zum Konkurrenten seines Freundes Rogoschin machte. Myschkin hatte es lächelnd vorausgesehen: dass Rogoschin seine Geliebte töten wird.

Nackter Yoga-Hund

Wunder darf man hier nicht erwarten: "There will be no Miracles here", prangt die Leuchtschriftskulptur des britischen Künstlers Nathan Coley im Hintergrund der an Seilen schwebenden Bühne. Zu sehr sind die Protagonisten mit ihren Gefühlen beschäftigt, die meist im krassen Gegensatz stehen zu ihren "kapitalen Zielen". Hier geht's ums Heiraten zwecks sozialen Aufstiegs.

deridiot2 560 conny mirbach uKeine Magie zu erwarten: "Der Idiot" auf der Schwebebühne © Conny Mirbach

Als Höhepunkt des komplizierten Liebesgewirrs initiiert der reiche Rogoschin, von Paul Schröder als Aggro-Proll in Zuhälter-Outfit gespielt, die "Versteigerung" Nastassjas an den Höchstbietenden, was zu einer skurrilen Striptease-Szene aller vier beteiligten Männer führt: "Guck ma, wie das aussieht", brüllt der splitternackte Rogoschin, auf seine weißen Westernstiefel zeigend. Derweil entledigt sich Ganja seiner Kleider und macht Yoga: den "herabschauenden Hund". Und während der General beim Ausziehen "Hop, hop, hop" ruft, stopft sich Ferdystschenko nackt Pralinen rein. Nur Myschkin steht, in Kleidern, abseits. Wer ist hier der Idiot? Die vier Nackten schmiegen sich an Nastassja, die abwesend die Geschichte ihrer finsteren Jugend als Mätresse und Sklavin des reichen Totzkijs erzählt. Bis Myschkin eingreift.

Die Inszenierung kokettiert mit der Probensituation, dem Unfertigen, lässt in Improvisationen die Schauspieler aus der Rolle heraustreten, thematisiert den Bearbeitungsstatus ("Meine Mutter ist gestrichen. Wir müssen sparen!"). Dadurch wird aber die Struktur, die die Bühnenadaption angesichts eines derart umfangreichen und komplexen Romans schaffen muss, aufgeweicht. So gelingt es Laberenz wie vielen anderen vor ihm nicht, den komplizierten Plot in eine gut verständliche und doch stringente Handlung zu überführen.

Sich selbst auffressen

Zwar versucht Laberenz durchaus, neben den kolportageartigen Handlungselementen die visionären Gedanken des Romans über Gier, Geld, Töten, Sterben und Glauben einzubauen. Aber dem starken ersten Teil folgt nach der Pause ein schwacher zweiter, der vergessen hat, was im ersten schon gesagt wurde, der das Tempo nicht anzieht, sondern immer träger wird, immer stärker ausfasert. Das Hin und Her der Liebesbekundungen, der Heiratsanträge und ihrer Rücknahme, der Gefühlsausbrüche und Hassattacken – schon nach der Pause ist einem eigentlich egal, wer mit wem, warum oder auch nicht.

Längen verursachen auch die selbstdarstellerisch arg ausgereizten Impros von Ippolit Peter René Lüdicke: Der lange angekündigte Vortrag findet nicht statt, dafür Endlos-Auslassungen über die Lichtskulptur oder Albernheiten und Slapsticks beim Spielen seines Suizidversuchs. Selbst die Kollegen und Kolleginnen wirken da arg müde, als er schon lange nach Mitternacht über die Funktion von Roman-Haupt- und Nebenfiguren sinniert. Nein, diese über fünf Stunden müssten wirklich nicht sein. Drei würden reichen. Ein durchweg bravouröses Ensemble – aber ein Abend, der sich selbst auffrisst.

 

Der Idiot
nach dem Roman von Fjodor Dostojewskij; neu übersetzt aus dem Russischen von Swetlana Geier, Theaterfassung von Martin Laberenz.
Regie: Martin Laberenz, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Aino Laberenz, Musik: Friederike Bernhardt, Dramaturgie: Katrin Spira.
Mit: Manolo Bertling, Matthias Breitenbach, Christian Czeremnych, Caroline Junghanns, Manja Kuhl, Peter René Lüdicke, Abak Safaei-Rad, Susanne Schieffer, Christian Schneeweiß, Paul Schröder, Friederike Bernhardt.
Dauer: 5 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Martin Laberenz gehe es "primär nicht darum, diesen Klassiker der Weltliteratur schlüssig, spannend und substanziell auf die Bühne zu bringen, sondern er erklärt den Vorgang, einen Roman auf die Bühne zu bringen, selbst zum Konzept", schreibt Adrienne Braun in der Stuttgarter Zeitung (2.3.2015). Er analysiere "nicht die Beziehungen der Figuren untereinander, sie haben weder Tiefe noch sind sie zu Typen zugespitzt, sondern (…) bleiben konturlos, zerrieben im ständigen Wechsel zwischen Rolle und selbstreferenzieller Bespiegelung". In einzelnen Szenen (etwa von Peter René Lüdicke) sehe man zwar auch "großartiges Theater", doch es bleibe " höchst ärgerlich, wie hier das Ensemble über Stunden kämpft und ringt um eine Konzeption, der jegliche inhaltliche und intellektuelle Dimension abgeht".

Laberenz sei offenbar von Dostojewskis Roman begeistert, meint Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (2.3.2015), wirft jedoch die Frage auf, ob ihn die Konstellationen auch im Einzelnen interessiert hätten. "Ja, ja und: ja. Er begeistert sich für alles, aber für alles nur ein bisschen. Viele Szenen werden oberflächlich, hektisch angespielt. Das hat zur Folge, dass diese – so enorm gekürzt – ihre Kraft verlieren." Trotzdem: Bis zur Pause halte Laberenz’ Regiearbeit "die Balance zwischen Spiel und Rede über das Spiel." Danach aber sei die Inszenierung "eigentlich beendet. Es folgt ein zweistündiges Bonusprogramm, wie man es von Film-DVDs kennt." Und so schleppe "sich der Abend dahin (…) mit Kommentaren über die Kostüme von Aino Laberenz und die Bühne von Volker Hintermeier, bis man wieder an dem Punkt ist, an dem der Abend verheißungsvoll begonnen hatte: Beim Mord an Nastassja Filipowna."

An Ideen mangele es nicht, meint Otto Paul Burkhardt auf Südwest Presse Online (2.3.2015), "toll auch die Musik von Friederike Bernhardt." Die Inszenierung habe "spannende Momente zwischen Nonsens und Philosophie, Blödsinn und Transzendenz. Doch in mehr als fünf Stunden zerfleddert vieles – auch die Ideenvielfalt – zwischen Erzähltheater und Geduldsprobe."

Kommentare  
Der Idiot, Stuttgart: Feststellung
viel nebel um nichts.
Der Idiot, Stuttgart: viel Nebel
viel nebel um viel.
Der Idiot, Stuttgart: rauchen bei Dorrit
In der Adaption von Bernward Vespers "Reise" (Regie: Martin Laberenz) wurde ununterbrochen geraucht. In der Adaption von Dostojewskijs "Idiot" (Regie: Martin Laberenz) wird ununterbrochen geraucht. Und ich frage mich nun seit drei Tagen: was hat Dostojewskij mit Vesper gemeinsam? Aber wahrscheinlich ist das eine unzulässige Frage. So ein Regieeinfall ist wohl einfach zu wertvoll, um in einer einzigen Inszenierung ausgeschöpft zu werden. Demnächst also "Little Dorrit" - rauchend, versteht sich. Und vielleicht mit Betonung auf der letzten Silbe, als Ausgleich für Nastassja Filipowna, deren Vatersname beharrlich auf der vorletzten statt auf der zweiten Silbe betont wurde. Wie soll man auch bei so viel Rauch die Zeit finden, sich bei einem Russen zu erkundigen? Und bei Vesper oder Dickens kommt der Name eh nicht vor.
Der Idiot, Stuttgart: es stank
Mehr stank mir das nicht endende Rauchen des russischen Kanonenofens.

Der Vollständigkeit halber sei erinnert, dass die Viertelstunde wortlosen Zigarettenqualmens für Die Reise eine unübertrefflich starke Eröffnung gebildet hatte; im Idioten nun kam alle tragikomische Selbstreferentialität überhaupt ins Spiel, indem Ippolit Lüdicke "echt" rauchen, anbieten und angeschnorrt werden durfte.
Bis dahin mussten sich die anderen Russen ja mit Luftzigaretten lächerlich machen, mit verpuffender inszenierungsübergreifender Selbstironie also; ihr Dostojewskijdeutsch aber schien immer gut betont.
Der Idiot, Stuttgart: rauchen bei Petras
Zigarettenqualm, der von der Bühne ins Publikum zieht, ist ein ziemlich weit verbreitetes Phänomen.

An den von Armin Petras geleiteten Häusern fiel und fällt mir das jedoch besonders auf: früher am Gorki, jetzt in Stuttgart, auch bei seiner Gast-Inszenierung "Der geteilte Himmel" an der Schaubühne.
Der Idiot, Stuttgart: schlechtes Beispiel
Mich verärgert diese Qualmerei auf der Bühne ebenfalls. Zuletzt war ich im Düsseldorfer Schauspielhaus: "Ein Sommernachtstraum". - Leider wurde auch da auf der Bühne geraucht. Sieht man einmal davon ab, dass es sich um eine arge Rücksichtslosigkeit handelt (selbst Goethe beklagte sich schon darüber), ist es auch völlig überflüssig und selbst dramaturgisch absolut entbehrlich. Und selbst wenn daran irgendein Zweifel bestehen könnte, müsste man doch zumindest die Frage aufwerfen, warum es dann nicht mit bloßen Dummys geschehen könnte, denn scharf geschossen wird ja auf der Bühne ebenfalls nicht. Letztlich dient es lediglich der Tabakindustrie ihr Tod und Elend bringendes Produkt in ein gutes Licht zu rücken, es als selbstverständlich (was es nicht ist) erscheinen zu lassen und unter Kindern und Jugendlichen ein schlechtes Beispiel abzugeben, dem sie dann leider allzuoft nacheifern.
Der Idiot, Stuttgart: Liste der Regieeinfälle
Tja, die Regieeinfälle unter Petras. In Stuttgart dürfen wir sie immer wieder geniessen: z.B. wie schon von anderen erwähnt, qualmen (Zigaretten, Kamin),Bühnennebel( falls der andere Qualm nicht ausreicht), Blenden der Zuschauer durch starkes Scheinwerferlicht, wehende Pimmel an unnötigen Stellen, laute Musik oder andere Geräusche (falls die Zuschauer eingeschlafen sein sollten???)an ebenso unpassenden Stellen, textundeutliches Sprechen, teilweise in Richtung Bühnenhintergrund.Von herausgenommen Texten und irgendwelchen anderen eingefügten Texten ganz zu schweigen. Auch vor geändertem Schluss schreckt man nicht zurück (Das Versprechen). Eigentlich macht es keinen so richtigen Sinn mehr, ins Theater zu gehen!!
Der Idiot, Stuttgart: inhaltlich?
Liebe Frau Henzler, waren sie in Der Idiot? Dann haben sie vielleicht etwas dazu zu sagen oder schreiben? Ich meine inhaltlich, auseinandersetzend, kritisch? Ihren persönlichen Geschmack in allen Ehren, aber erwarten sie bitte nicht, dass das Theater dessen Dienstleister oder Erfüllungsmaschine ist. Mit den besten und gespanntesten Grüssen.
Der Idiot, Stuttgart: Originalschluss
Liebe Frau Henzler,

geänderter Schluss bei "Das Versprechen"?
Bitte informieren Sie sich doch besser, bevor sie solche Nebelkerzen zünden.
Das ist der Originalschluss, sowohl bei Dürrenmatt als auch bei der kongenialen Verfilmung von Sean Penn mit Jack Nicholson in der Hauptrolle.
Lediglich die Verfilmung mit Heinz Rühmann, die Sie sicher meinen, hielt sich nicht ans Original.
Gerade dieser zutiefst desillusionierende Schluss ist doch was den Roman, die Verfilmung und das Stück ausmacht.
Ich kann verstehen dass SIe den Stil von Petras nicht mögen, aber das heisst ja noch lange nicht, dass er schlecht ist.
Der Idiot, Stuttgart: bitte Kummerkasten aufstellen
Eine ganze Weile geht das jetzt so, dass Premieren in Stuttgart auf Nachtkritik missbraucht werden, um dem eigenen Befinden, nostalgischen Erinnerungen und allgemeiner Empörung Gehör zu verschaffen. Was soll der Quatsch? Bitte stellen Sie doch einen Kummerkasten vor dem Theater auf oder wenden sich an den Besucherservice! Dann kann man hier endlich über die jeweilige Inszenierung diskutieren. Über aktuelle Inszenierungen, nicht über zehn Jahre alten Kaffee. Bitte!
Der Idiot, Stuttgart: Leipziger Ausmaße?
So langsam nimmt das hier tatsächlich Leipziger Ausmaße an, was aber lediglich für das Stuttgarter Staatstheater spricht.
Frage an die Redaktion: Wird Der Idiot in der nächsten Spielzeit eigentlich noch gespielt, weil heute, morgen und übermorgen die letzten Aufführungen in dieser Spielzeit stattfinden. Relativ ungewöhnlich, wo die Premiere ja erst ein paar Tage her ist..
Da schaffe ich es leider nicht mehr aus Berlin anzureisen :sad:
Der Idiot, Stuttgart: Gelegenheit nicht versäumen
In der Kammer des Staatstheaters wird immer in Blöcken gespielt, dh nach diesem Block wird es sicher noch einen zweiten geben, allerdings um einiges später. Dann sollten sie den Weg aber nicht scheuen, es lohnt sich, sie werden sehen.
Der Idiot, Stuttgart: Silbenbetonung im Russischen
Werter Herr Rothschild, hängen wir die Sache doch nicht an der Aussprache des Namens Nastassja Filipowna auf. Den Vatersnamen auf der vorletzten Silbe zu betonen, scheint mir eine lässliche Sünde, zumal das eine verbreitete Tradition in Deutschland sein dürfte. (Wie war das denn damals bei Castorf, weiß das noch jemand?) Und Hand aufs Herz: Betonen Sie Mussorgsky wirklich auf der ersten Silbe, wie es die Russen tun, aber fast niemand im deutschen Sprachraum, wo man die Hebung auf die zweite Silbe legt? Sprechen Sie Gogol richtig aus, indem Sie das zweite, unbetonte o nicht als o sprechen, sondern den Namen, wie es korrekt wäre, in Richtung eines hessischen Gockels schielen zu lassen? Sicher, man könnte sich bei einem Russen erkundigen. Aber oft genug (wie etwa im Falle Mussorgskys) käme man gar nicht darauf, dass das nötig sein könnte.
Der Idiot, Stuttgart: das bisschen Mühe
Lieber Opa Verdi, Ihre besorgte Frage verdient eine seriöse Antwort. Wie jemand im privaten Verkehr einen Namen ausspricht, ist belanglos. Ich betone Mussorgskij tatsächlich auf der ersten Silbe, aber ich verlange das niemandem anderen ab - so lange er nicht auf der Bühne steht. Das ist der springende Punkt: Im Theater oder auch in der Tagesschau darf man schon die richtige Aussprache von Namen erwarten, zumal sie ein Indikator ist - und darauf kam es mir an -, ob und wie weit man sich (im aktuellen Fall: auf Dostojewskij) eingelassen hat. Wären Sie auch so nachsichtig, wenn ein Tartuffe durchgängig auf der ersten Silbe betont würde? Ich gebe zu: die Welt bricht bei falscher Betonung nicht zusammen (ebenso wenig wie bei schlechter Regie). Aber das bisschen Mühe - und übrigens auch der Respekt vor Sprachen jenseits von Englisch und Französisch - darf schon gefordert werden. Halten Sie mich für einen beckmesserischen Spinner. Das nehme ich hin. Aber ich bleib dabei: wer sich nicht drum kümmert, wie man Namen ausspricht, hat sich vielleicht auch wenig Gedanken über die Funktion von Rauchen bei einem spezifischen Stoff gemacht. Darum, nur darum ging es mir.
Der Idiot, Stuttgart: Unbekümmertheit als Stilmittel?
@14 Und diese vermeintliche Unbekümmertheit könnte nicht auch als Stilmittel gedeutet werden? Es affiziert Sie ja schließlich auf eine Weise, welche das ganze Stück in ein spezielles Licht taucht, für Sie vermutlich eher ein negatives, aber doch ein spezielles. Ich verstehe gar nicht, wie auf dieser Ebene eine Kritik überhaupt möglich ist. Die Menschen auf der Bühne tun Dinge, welche wiederum etwas mit mir tun. Da können Fragen des Geschmacks doch eigentlich keine wirkliche Bedeutung haben.
Der Idiot, Stuttgart: Hut ab vor den Schauspielern
Ich habe mir gestern, am 4. März, die zweite Vorstellung dieses Stückes angeschaut. Wie so oft fand ich im Vorfeld die Beschreibung von Verena Großkreutz äußerst hilfreich. Ich habe mich auf einen langen Abend eingestellt und die Möglichkeit in Betracht gezogen, in der Pause zu verschwinden. Aber es kam anders.
Zunächst mal ein paar Daten zur zweiten Vorstellung: Die Pause war nach 2 Std 15 Minuten und das Stück war gestern abend schon um 00:30 Uhr beendet, also nicht die im Spielplan angegebene Endzeit 1:00 Uhr. Bis zum Ende hat ca. die Hälfte der Zuschauer ausgehalten, die meisten sind in der Pause verschwunden.
Die musikalische Untermalung war ein echtes Highlight. Das hat mir sehr gut gefallen. Auch die diversen Gesangseinlagen des Enselmbles (besonders sei hier Caroline Junghanns erwähnt) waren eine Bereicherung für das Stück.
Die Gestaltung der Bühne war sehr schlicht, ich finde sowas immer recht ansprechend, da die schauspielerische Leistung dadurch noch deutlicher wird. Es war nur eine Zwischendecke eingezogen und sonst war da eigentlich nur noch das Sofa von echter Relevanz. Rauchig war es schon die ganze Zeit, aber mich hat das eigentlich nicht gestört (obwohl ich schon eher militanter Nichtraucher bin). Es war ein ständiges "rauf- und runterklettern", da hatte ich mich schon etwas an "Die Reise" erinnert.
Zu den Schauspielern kann ich nur sagen "Hut ab". Nicht nur Paul Schröder, Caroline Junghanns, Manolo Bertling, Christian Schneeweiß und Abak Safaei-Rad waren brilliant (das hatte ich erwartet, da ich die alle schon oft gesehen habe und immer begeistert an ihren Lippen und ihrem Ausdruck "hing"). Mir hat hier auch Manja Kuhl sehr gut gefallen (die ich bisher nur selten gesehen hatte) und die mir bisher unbekannten (zwei waren Schauspielschüler, wenn ich das richtig mitbekommen habe) Schauspieler sind überhaupt nicht aus dem Rahmen gefallen, sondern haben sich sehr gut integriert. Das ist ein echtes Lob, denn z.B. in Herbstsonate haben die beiden Damen den Herrn schon ganz schön "an die Wand gespielt" fand ich. Wie gesagt, gestern war das nicht so, die Truppe hat mich als Ganzes überzeugt.
Zum Stück und wie es umgesetzt wurde, kann ich gar nichts sagen, denn ich hab den Roman nie gelesen. Aber trotz der doch seeehr langen Dauer, habe ich nie auf die Uhr geschaut (das ist für mich immer das Zeichen, wenn mich ein Stück langweilt - dann schaue ich nach wie lange ich noch durchhalten muss). Insofern fand ich es trotzdem "kurzweilig" und war jederzeit voll dabei. In lange Stücke ging ich bisher eigentlich nicht, aber nach Osage County und nun der Idiot, werde ich diese Einschränkung nochmals überdenken.
Wie eingangs schon erwähnt, hatte ich vor Beginn durchaus in Betracht gezogen, die Pause für meinen Abgang zu nutzen. Dies kam auch aus der Tatsache, dass mir "die Reise" so gar nicht gefallen hatte und somit Matrin Laberenz bei mir schon mal eine "Minus" hatte. Aber ... zweite Chance sehr gut genutzt und damit ist er für mich (anders als Robert Borgmann, der nach "Onkel Wanja" dann mit "Richard III" sich für mich ins Aus manövriert hat) wieder auf der "neutralen Liste".
Der Idiot, Stuttgart: Kritikerin dankt für Ergänzung
@16
Lieber Herr Müller, vielen Dank für den so nett und differenziert geschriebenen Kommentar, der als begeisterte Gegenmeinung meine eher negative Kritik sinnvoll ergänzt. Und es ist zudem tatsächlich auch sehr interessant zu erfahren, wie es mit so einer Inszenierung nach der Premiere weitergeht. Wir KritikerInnen besuchen für die Berichterstattung naturgemäß immer die erste Vorstellung, in der alle Beteiligten in einer ziemlich stressbeladenen Ausnahmesituation stehen. Dass sich so ein Abend weiterentwickelt (und das hat "Der Idiot" in der zweiten Vorstellung offenbar schon getan) kann in der Praxis leider nicht berücksichtigt werden. Danke also für die so sinnvolle Nutzung der Kommentarfunktion!
Der Idiot, Stuttgart: kein Vokabeltest
@14 Das sind wirklich sehr eitle Rückzugsgefechte, die sie da führen. Riecht nach: Richtig/falsch. Sich in der Auseinandersetzung derart an der Oberfläche aufzuhalten, hat keine Inszenierung der Welt verdient Theater ist doch kein Vokabeltest! Und für einzelne Stilmittel bedarf es auch keiner angefügten Erklärung, sonst kann man ja gleich zu Hause bleiben. Abgesehen davon: das Rauchen auf der Bühne für sie einer spezifischen Funktion bedarf, spricht schon dafür, sie erst recht nicht zu liefern. So ist es nämlich eine Spiel-, sprich: menschlicher Vorgang und kein vernünftiger. Und das wiederum könnte mit sehr nah bei Dostojewski sein.
Der Idiot, Stuttgart: das Original
Sehr geehrtes rotes Kleid, das eigentliche "Original" zu "Das Versprechen" ist das von Dürrenmatt und dem Regisseur verfasste Drehbuch "Es geschah am hellichten Tag" (mit H. Rühmann). Aus verschiedenen Gründen (die an dieser Stelle keiner Erläuterung bedürfen) schrieb Dürrenmatt auf der Grundlage seines eigenen Filmscripts anschließend den Roman "Das Versprechen" mit dem im Vergleich zum Film geänderten Schluss.
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