"Man kann das nicht beschreiben, wie das passiert ..."

von Matthias Weigel

Berlin, 5. März 2015. 30-jährige Großstädter fühlen sich nicht lebendig, sondern irgendwie unecht und in einer Plastikwelt. Hilfe kommt unter anderem von einer Stimme aus einer anderen Galaxie, einem Gott, einem Delphin oder einem bunten Muster: Von diesen Mächten werden die verirrten Großstadtseelen zum Impuls, zu ihrer Mitte, ihrem blauen Punkt geführt. Und nachdem sie durch die Hölle gegangen sind, können sie sich am Ende in einer innigen Umarmung dem Tod hingeben und in eine andere Galaxie entschweben.

Die schwarze Schlange loswerden

Diese Story könnte eine hübsche Parodie auf zeitgenössische Dramen abgeben, die sich in postmoderner Identitätsfindung verschwurbeln. Es sieht nur leider so aus, als sei Iwan Wyrypajews Auftragswerk "Unerträglich lange Umarmung" für das Deutsche Theater ernst gemeint, und auch Andrea Moses hat der Inszenierung keinen anderen Dreh gegeben. Die Dramaturgie? Muss Urlaub gemacht haben.

umarmung 1 560 arno declair uPlastic people in a plastic world. © Arno Declair

Anders ist es nicht zu erklären, dass der Text zum Ersten überhaupt und zum Zweiten auch noch ungekürzt von den vier tapferen Schauspieler*innen Julia Nachtmann, Franziska Machens, Daniel Hoevels und Moritz Grove gegeben wird. Selbst völlig abstruse Zwischenszenen sind geblieben: Im Wartesaal eines Krankenhauses will ein "Latino" mit Zischlauten "die schwarze Schlange" in Kryštof (Daniel Hoevels) vertreiben (wohl eine der vielen beliebigen Metaphern für das schlechte Leben). Beim Fortgehen raunt er Kryštof bedeutungsschwanger zu: "Entweder du wirst sie los, oder sie frisst dich auf". Und halbepisch geht es weiter: "Wie kann ich die schwarze Schlange loswerden? – schreit Kryštof wieder. Eine Frau schafft das, sagt der Mann, ohne sich dabei noch einmal umzudrehen, und verschwindet in der Tiefe des Korridors."

Die Stimme aus der fernen Galaxie (siehe oben) hat dann einen sehr konkreten Tip parat, erfahren wir aus einem Selbstgespräch Kryštofs:

- Kennst du Monika, Kryštof?
- Nein. Wer ist das?
- Du musst sie anrufen.
- Wer ist das?
- Das merkst du, wenn du anrufst.
- Und wie rufe ich sie an?
- Hier ist ihre Nummer: +19177934321.

Alles klar?

Zuvor übrigens, deshalb ist nämlich Kryštof überhaupt im Krankenhaus, hat Emmy versucht sich umzubringen. Und zwar während sie mit Kryštof Analsex hatte: "Jetzt kommt Kryštof. Er schlägt die Augen auf und betrachtet Emmy, er versucht zu begreifen, was sie fühlt. Emmy, ich glaube ich liebe dich, – sagt Kryštof, in diesem Moment versteht er noch nicht, dass sein Schwanz im Hintern einer Frau steckt, die tot ist." Uff.

Andrea Moses hat eine typische Uraufführungs-Inszenierung eingerichtet: ein Material (weiße Plastikplane, passend zur "Plastewelt"), Konzentration auf die Sprache, statische Monologe, starke Positionen im Raum. Obwohl es im Verlauf der knapp zwei Stunden immer unwitziger, zäher, redundanter und langweiliger wird, kann immerhin Daniel Hoevels aus seiner Großstadttourist-Figur noch ein paar komische Momente herausholen.

Ein unglaubliches Muster wird immer unglaublicher

Der Russe Iwan Wyrypajew wurde mit dem Stück "Sauerstoff" im deutschsprachigen Raum bekannt, gründete 2001 in Moskau das regierungskritische "Teatr.doc" für zeitgenössisches Theater, schrieb unter anderem für das Chemnitzer Theater die Stücke Illusionen und Wespen stechen auch im November. Wyrypajew schreibe trotz der Formenvielfalt inhaltlich an einem einzigen, großen zusammenhängenden Stück, wird sein Übersetzer im Programmheft zitiert.

Bleibt nur zu hoffen, dass die Berliner Episode ein Ausrutscher war. Auf dass auch diese Krankenhaus-Halluzination von Emmy bald in Vergessenheit gerate: "Ein unglaubliches Muster verwandelt sich in ein noch unglaublicheres. Und plötzlich, genau da drin, genau in der Mitte von diesem Muster vereinigen sich Emmy und Charlie. Man kann das nicht beschreiben, wie das passiert. Dafür gibt es keine Worte. Wie als würden Millionen lebende Zellen die da 'Ich liebe dich, Charlie' heißen, mit anderen Millionen lebenden Zellen die 'Verzeih Emmy, ich liebe meine Frau Monika' heißen, zusammenprasseln."

 

Unerträglich lange Umarmung
von Iwan Wyrypajew
aus dem Russischen von Stefan Schmidtke
Uraufführung
Regie: Andrea Moses, Bühne: Rebecca Ringst, Kostüme: Svenja Gassen, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Moritz Grove, Julia Nachtmann, Franziska Machens, Daniel Hoevels.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Mehr von Iwan Wyrypajew? Sein Stück Betrunkene wurde 2014 am Düsseldorfer Schauspielhaus vom russischen Regiestar Viktor Ryschakow inszeniert.

 

Kritikenrundschau

"Viel prätentiöser Schwulst", der aus Sicht von Hartmut Krug in der Sendung "Kultur heute" vom Deutschlandfunk (6.3.2015) "von unfreiwilliger Komik geprägt ist". Dabei fragte sich der Kritiker bereits nach der Lektüre, "warum und wie dieses Stück überhaupt auf die Bühne gebracht werden musste und konnte". Zwar habe die Regisseurin den Text am Anfang sogar noch ganz gut in den Griff bekommen. Leider aber habe sie ihn völlig ungekürzt spielen lassen. "Da dieser aber immer redundanter und peinlich bedeutungsschwangerer war, wurde die Aufführung so zäh wie langweilig und insgesamt eher zu einem theatralen Desaster."

"Es gibt Abende im Sprechtheater, da sitzt man im Dunkel des Zuschauerraums und wünscht sich, es würde einfach weniger gesprochen auf der Bühne (...) – alles, nur nicht weiter so (un)sinnschwanger geredet", beginnt Doris Meierhenrich ihre Kritik in der Berliner Zeitung (7.3.2015). Man habe das bei einem Autor wie Wyrypajew, dessen "Sauerstoff" sie lobt, "kaum für möglich gehalten". In dem Erfolgsstück allerdings hätten die Sprecher etwas zu sagen gehabt, während man im DT nun "in kleinen Sehnsuchtshöllen privater Wünsche" schmore. Keine der Figuren werde "mit einem halbwegs analytischen Blick ausgestattet", "scharfsinniges, unkonventionelles Denken kommt nicht vor". Diese "zweistündige Sprech-Blase" nehme Andrea Moses leider wörtlich und verstärke "das pseudoanalytische Konstrukt".

"Unerträglich lange Umarmung" sei "weniger ein Stück als vielmehr ein Zeige-Text, ein narratives Werk in dramatischer Umverpackung", schreibt Katharina Granzin milder gestimmt in der tageszeitung (7.3.2015). Bedeutung gewinne das orientierungslose Figuren-Streben "nach dem Sich-lebendig-Fühlen" dadurch, "dass drei von ihnen eigentlich Osteuropäer sind" – denn "wie sonst ließe sich die dem eigentlichen Leben entfremdete, erlebnisgeile Seinsweise, die der Autor in den westlichen Metropolen vermutet, besser vorführen, als wenn man ein paar überforderte osteuropäische Emigranten hineinverpflanzt?" Eine "bilateral aufteilende Sichtweise", die Granzin "durchaus ein wenig erschreckend" findet. Wyrypajews "dicht gewebter, komplex strukturierter Text" entwickle allerdings "einen starken Eigensog", wiewohl er von Moses nur halbherzig bebildert wird.

"Die Erkenntnis, die durch die Dialoge geistert", sei, so Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (7.3.2015), "eine der alten Griechen: Dass nämlich für die Sterblichen das Beste sei, nicht geboren zu werden." Bei den Figuren gehe es "nicht um konkrete Individuen, sondern um Platzhalter für eine ganze Generation". Dass drei von vier "einen Migrationshintergrund haben, spielt keine Rolle", es verbinde sie "ihre Desorientiertheit, ihr Leiden an der Welt". "Gut möglich, dass Wyrypajew uns das alles nur erzählt, um uns zu sagen: Seid anders als die da auf der Bühne, zeigt Verantwortung! Aber dafür ist die Häufung von Banalitäten zu aufwendig gemacht." Die Regie packe das Stück "ziemlich pragmatisch an – und viel zu brav", während die Spieler sich redlich bemühten, "aus ihren Charakterhülsen individuelle Funken zu schlagen. Es hilft wenig, die knapp zwei Stunden ziehen sich unerträglich hin."

"Wegen der konsequent eigenständigen Regie und der herausragenden Leistungen des Darsteller-Quartetts geriet die Umarmung keineswegs zum unerträglich langen Theaterabend sondern zum philosophischen Kurztrip 'Einmal Jenseits und zurück'", so lobt Stefan Grund in der Welt (8.3.2015) diese Inszenierung. Wyrypajews Stück stehe in einer "weitreichend unseligen und uneinheitlichen Tradition der Zivilisations- und Kulturkritik von Spengler, Freud und Heidegger bis hin zu Adorno und Castaneda".

Kommentare  
Unerträglich lange Umarmung, Berlin: dystopische Vision
Es gehört zu den Stärken von Wyrypajews Text, dass er verschiedene Ebenen parallel laufen lässt, die Ernsthaftigkeit behält, während er sie zugleich mit skurrilem Humor ironisiert, die Nähe zur Sinnsuche dieser Verlorenen aufrecht erhält, ohne die kühle Distanz zu ihnen aufzugeben. So lässt sich Unerträglich lange Umarmung als existenzielle Sinnsuche, als dystopische Vision der Ausweglosigkeit der Menschheit, aber auch als scharfe Abrechnung mit eskapistischer Weltablehnung und dumpfer Kulturkritik lesen, als Appell gar, sich, verf…t nochmal mit der Welt zu befassen, wie sie ist und nicht, wie man sie gern hätte. All das ist hier angelegt, nichts gewinnt die Überhand, das Publikum – und der Regisseur – muss seine eigene Interpretation im Dickicht der gelegten Fährten finden.

Andrea Moses gelingt es leider nur streckenweise, diese Komplexität, das Schweben der Bedeutungsebenen auf die Bühne zu bringen. Das Bühnenbild (Rebecca Ringst) ist etwas zu plakativ geraten, der Humor insbesondere in der zweiten Stückhälfte reduziert, dafür das metaphysische Spiel genüsslichste ausgewalzt. Das Ensemble überzeugt im Balanceakt zwischen Realismus uns Karikatur, Vergegenwärtigung und Distanzierung, der Inszenierung gelingt das nicht immer. So hat der Abend gegen Ende so manche Länge, hätte ein entschiedenerer und auch ironischerer Regiezugang nicht geschadet, bietet sich für künftige Inszenierungen durchaus etwas Kürzunngspotenzial. Moses nimmt sich vielleicht zu sehr zurück und verweigert damit dem Stück die Haltung, die es braucht. Und doch gelingt es dem Text zu scheinen, zu faszinieren und zu irritieren, die Aufmerksamkeit zu halten und auf die Nerven zu gehen. Vergessen zumindest wird man ihn so bald nicht.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/03/06/verf-te-bedeutung/
Unerträglich lange Umarmung, Berlin: Frage
Wieso hat die Dramaturgie Urlaub gemacht, wenn die Regisseurin dem Stück keinen "anderen Dreh" verliehen hat?
Unerträglich lange Umarmung, Berlin: fast wie im Literarischen Quartett
Entschuldigen Sie, Herr Karasek, entschuldigen Sie, Frau Löffler, aber das ist schlicht und einfach ein miserabler Text, grauenvoll schlechte Literatur. Wir sehen betroffen - der Vorhang fällt - und alle Fragen offen.
Lange Umarmung, Berlin: Schwachsinn
Vielleicht mal nicht ganz vergessen, das ist ein Auftragswerk des DT, nicht der Regisseurin, die war Gast und leichtfertig genug, den Unsinn zu inszenieren. Nicht leichtfertig sondern ausnehmend dumm dagegen die Damen und Herren der Dramaturgie des DT und der Hausherr selbst. Herr Khuon ist wohl doch nicht befugt ein nicht ganz unbedeutendes Theater gänzlich dem literarischen Schwachsinn auszuliefern. Aber, auch das will bedacht sein: vor zehn Jahren wäre der Autor hochgelobt worden von denen, die sich jetzt über ihn erregen. Warum? Na weil er so mystisch angehaucht russisch daher kommt, heute geht das natürlich aus bekannten Gründen nicht...
Unerträglich lange Umarmung, Berlin: vom Programmheft inspiriert
Wow, Stefan Grund von der Welt fällt wohl so wenig ein, dass er sich vom Programmheft inspirieren lassen muss.

WELT:
"„(…) in diesem Stück, das in der weitreichend unseligen und uneinheitlichen Tradition der Zivilisations- und Kulturkritik von Spengler, Freud und Heidegger bis hin zu Adorno und Castaneda steht, (…)“

Und im Programmheft schreibt Claus Caesar:
„Unerträglich lange Umarmung steht in einer Tradition der Zivilisationskritik, die von Leo Tolstoi über Martin Heidegger bis hin zu Carlo Castaneda und den Theoretikern des New Age reicht."

Anders kann man wohl auch nicht auf diese absurde Positivkritik kommen...
Unerträglich lange Umarmung, Berlin: Brei aus Weisheiten
Die vier Protagonisten in "Unerträglich lange Umarmung", das der russische Autor und Theater-Direktor Iwan Wyrypajew im Auftrag des Deutschen Theaters Berlin geschrieben hat, haben eine Marotte, die wir von Lothar Matthäus kennen: sie sprechen von sich selbst am liebsten in der dritten Person. Und sie haben noch etwas mit Lothar Matthäus gemeinsam: Das Publikum fragt sich, meinen die ihre wortreichen Ausführungen wirklich ernst?

Regisseurin Andrea Moses und die vier Schauspieler Julia Nachtmann, Franziska Machens, Moritz Grove und Daniel Hoevels konfrontieren das Publikum mit einem zähen Brei aus Lebensweisheiten von Menschen Anfang 30, die an der Konsumkultur und der “Plastewelt” leiden und sich in Gesprächen mit dem Universum nach Impulsen, einer besseren Alternative zu ihrem bisherigen spirituellen Vakuum und wahrer Gemeinschaft in einer anderen Galaxis sehnen. So geht das fast zwei Stunden, die schlimmsten Stilblüten hat Matthias Weigel treffend zusammengefasst.

Der lohnendere Teil des Abends war die Einführung des Dramaturgen Claus Caesar mit interessanten Hintergrundinformationen zum Werk und Weltbild des Autors.

http://e-politik.de/kulturblog/archives/24470-unertraeglich-lange-umarmung-dt-auftragswerk-verliert-sich-in-esoterik-und-langweiligen-dialogen.html

PS: Die oben zitierte innere schwarze Schlange, von der sich die Daniel Hoevels-Figur befreien muss, ist eine der Stellen, an denen der schamanische Einfluss von Castaneda aus # 5 sichtbar wird.
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