Toga und Tränengas

von Simone Kaempf

Berlin, 6. März 2015. Kirchenglocken läuten, im mittelalterlich-fahlen Licht werden Kerzenhalter nach vorne getragen. Eine Gruppe Nonnen rollt einen Sarg mit einer toten Schwester nach vorne, um den letzten Segen zu erteilen. Ihre lateinischen Gesänge füllen den großen Schaubühnensaal, aber auch süßlich-schwerer Duft, der aus einem geschwenkten Weichrauchgefäß aufsteigt und durch die Nase direkt in die Synapsen geht in Romeo Castelluccis Berliner "Ödipus"-Inszenierung.

Es sind tatsächlich Einblicke hinter sonst verschlossene Klostermauern, die Castellucci an diesem Abend auf die Bühne bringt. Bei der Beerdigung, aber auch beim Abendessen, bei der Gartenarbeit oder der Gebetsstunde sieht man die als Nonnen weiß- und schwarzgekleideten Schauspielerinnen. Alltagsszenen einer Welt, die von strengen Regeln geprägt ist, aber auch von Begriffen wie Glaube, Sünde, Leid. Und auch daran erinnern, dass bis übers Mittelalter hinaus Nonnen lange Zeit die einzigen Frauen waren, die ihr Leben mehr oder weniger selbst gestalten konnten.

Mit Lamm im Arm

So assoziationsreich und schön bebildert das ist, wartet man während dieser Darstellung vom Klosterleben doch bald auf die "Ödipus"-Geschichte, die angekündigt ist. Der Einbruch von Gewalt, Mord und Schicksal also – und ja, er kommt, aber doch überraschend zart und wie im Traum.

Castellucci lässt eine Nonne, gespielt von Angela Winkler, Hölderlins Sophokles-Buch unter einem Bett finden. Sie liest daraus, mit stockender, tastender Stimme, und wie auf unsichtbaren Befehl beginnt die Theaterapparatur zu schnurren. Das düstere Kloster verwandelt sich erscheinungshaft zur hell erleuchteten Kapelle. In der thront Ödipus, hier kein König, sondern eine bildschöne Königin in ein weißes Faltengewand gehüllt wie eine Marmor-Statue. Zu ihren Füßen Kreon. Bald auch der dreckige Seher Tiresias, mit einem Fell um die Hüften und einem echten Lamm im Arm.

Ödipus im Nonnenkleid

Man weiß von Castellucci, dass er eine große Vorliebe für Hölderlin-Texte hat, für dessen Sprache, die sich immer in höheren Sphären bewegt und noch das niedrigste Motiv edel bekränzt. Der Text zusammen mit dem hellen künstlichen Raum und den griechischen Gewändern sind Zutaten, die zusammen jedoch sehr hermetisch und im Grunde fast nur zeichenhaft daher kommen. Was treibt Ödipus wirklich um? Es lässt sich nicht heraushören aus den statischen Versen, nur mühsam aus der Inszenierung herauslesen. Erst als Ursina Lardi als Ödipus ein weißes Nonnenkleid überzieht, weiß man, dass es die unentrinnbare Schuld ist, für die sie nun Sühne und Büße leistet.

oedipus3 560 arnodeclair uUrsina Lardi als Ödipus: eine hochkontrollierte Herrscherin. © Arno Declair

Im Original sticht sich Ödipus am Ende die Augen aus. Castellucci zeigt das in einem dritten Teil, der als Video eingeblendet wird. Der Regisseur selbst ist es, der sich darin Tränengas in die Augen sprühen lässt. Sichtlich mitgenommen wankt er durch ein Badezimmer, man sieht, wie er sich am Wasserhahn mühsam die Augen ausspült, ein Sanitäter hilft mit Augentropfen und Kompressionswatte. Diese Selbstverletzung liefert starke Momente, lässt sie doch einen körperlichen Schmerz echt werden und das Martyrium des Ödipus zumindest erahnbar, der sich mit einer Haarnadel die Augäpfel verwundet.

Frauenbild-Zelebration

Der Film bleibt inmitten des Abends jedoch ein loses Ende, das sich mit dem Kloster- und griechischen Tempelleben nicht verbindet. Das alles sind zwar starke optische Behauptungen, doch man ahnt nur, dass es um unterschiedlichen Umgang mit Schuld in Christentum und Antike geht, auf das alles wieder ins Reine kommt.

Vordergründig spielt der Abend auch mit weiblichen Heiligenbildern. Hier die arbeitssamen, schweigsamen, Verzicht übenden Klosterfrauen, da die idealisiert schönen Griechinnen in weißen Faltengewändern. Zwei Dutzend Chor-Statistinnen und Schauspielerinnen sind beteiligt, darunter Angela Winkler als auf Erkenntnis bedachte Kloster-Äbtissin. Ursina Lardi spielt eine hochkontrollierte Herrscherin, sehr stolz und beherrscht, mit entblößter zarter Brust. Oder Jule Böwe als Kreon, das Unheil stets ernst erahnend. Aber von einem neuen Blick auf das "Urbild familiärer und sexueller Traumata und Tabus", wie es angekündigt ist, bleibt das alles meilenweit entfernt. Man nimmt Castellucci die Faszination ab für die Frauenbilder aus Antike und Christentum, aber er zelebriert sie verdammt statuarisch und feierlich, ohne Kraft daraus zu gewinnen.

 

Ödipus der Tyrann
nach Sophokles / Friedrich Hölderlin
Regie, Bühne und Kostüme: Romeo Castellucci, Künstlerische Mitarbeit: Silvia Costa, Mitarbeit Bühne: Mechthild Feuerstein, Musik: Scott Gibbons, Video: Jake Witlen, Dramaturgie: Piersandra Di Matteo, Florian Borchmeyer, Licht: Erich Schneider, Korrepetition: Timo Kreuser, Dolmetscherin: Nora Hertlein, Skulpturen auf der Bühne: Giovanna Amoroso, Istvan Zimmermann – Plastikart Studio.
Mit: Bernardo Arias Porras, Iris Becher, Jule Böwe, Rosabel Huguet, Ursina Lardi, Angela Winkler. Chor: Malene Ahlert, Amelie Baier, Ursula Cezanne, Sophia Fabian, Eléna Fichtner, Margot Fricke, Eva Günther, Rachel Hamm, Andrea Hartmann, Annette Höpfner, Nadine Karbacher, Sara Keller, Pia Koch, Feline Lang, Marion Neumann, Monika Reineck, Vanessa Richter, Helga Rosenberg, Ria Schindler, Janine Schneider, Regina Törn, Christina Wintz. Solistinnen: Sirje Aleksandra Viise / Eva Zwedberg.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause.

www.schaubuehne.de

 

Schon einmal inszenierte Romeo Castellucci an der Schaubühne Hölderlin: Mit Hyperion. Briefe eines Terroristen nämlich, präsentiert beim F.I.N.D.-Festival 2013. Und auch bei seiner Rothko-Bebilderung The Four Seasons Restaurant, die er im Herbst 2012 beim Festival Foreign Affairs zeigte, wurde ein bisschen Hölderlin gesprochen.

 

Kritikenrundschau

Am meisten Spaß machte André Mumot vom Deutschlandradio Kultur (6.3.2015) das köttelnde Schäfchen. Die Schafskacke gebe einen schönen Kontrast "auf der perlwollweißen Bühne und den ebenso weißen Nonnengewändern". Ansonsten sei es vor allem "weihevoll und getragen" zugegangen. Hölderlins Übersetzung komme Castellucci entgegen, weil ihm die "ästhetische Eigenmächtigkeit" der Sprache mehr am Herzen liege als ihr "kommunikatives Element". Besonders unangenehm sei, wenn der Regisseur selbst in einer Videoprojektion sich zum Schmerzensmann stilisiere. Das Fazit: "Kunstgewerbe, nicht viel mehr als eine staunenswert formvollendete Flatulenz".

"Die christliche Ikonografie und die Religiosität des all dem zugrunde liegenden Dichters Sophokles in ein Bild zu zwängen, ist der verwegene Ansatz Castelluccis an diesem Abend", erklärt Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (7.3.2015). Weil sich Castellucci selbst opfere, bleibe das "hehre Hölderlin-Ritual und seine Metaphysik" unangetastet, "ein Gottesdienst der Sprache, in der kein Blut fließen darf und keine Tränen". Nur am Ende der "etwas zu heiligen Kunstanstrengung" erlaube sich Castellucci mit seinen grunzenden Fleischklumpen "einen kleinen Gag".

"Castelluccis Idee, ausgerechnet die stumme Klosterwelt mit der nunmehr in Gang kommenden talking cure des thebanischen Königs zu verknüpfen, ist von ausdrücklich gewollter Schrägheit", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (8.3.2015). Die künstlerische Strategie, Klarsicht durch Entfernung zu provozieren statt durch falsch verstandene Nähe, sei grundsätzlich zu begrüßen. "Aber für Castelluccis symbolschwangere und mit heiligem Ernst zelebrierte tableux vivants (...) braucht man natürlich auch einen langen Atem. Außerdem ist ein Sinn für unfreiwillige Komik hilfreich."

Irene Bazinger schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.3.2015) von "heiligstem Bierernst" und "angestrengtester Bedeutungsschwere". Castellucci stilisiere sich "wieder einmal zum Hohepriester der elitären Theaterkunst". Vielleicht weil Castellucci die Sprache Hölderlins als weiblich empfinde, würden bis auf Teiresias alle Figuren durch Frauen dargestellt. Gespielt werde kaum, deklamiert "moderat feierlich", und bei der Wahrheitsfindung rumpele ein leeres Bett. "Hochtrabendes Kunstgewerbe", "unfreiwillig komische Missionierung der Antike", "katholische Kolonisation des Mythos", "blasiert-wichtigtuerisches Pseudobühnenweihefestspiel" – Unzufriedenheit bei der Kritikerin.

In der taz schreibt Katrin Bettina Müller (9.3.2015), Castellucci gelängen einige "starke und vielschichtige" Bilder. "Dennoch prägen sie den Abend viel weniger als der Eindruck des Nichtzusammenpassenden und des Fremdelns mit dem Text." Die "gleichmütige Welt der Nonnen" und die "tragisch aufgewühlte des Dramas" bildeten zwei Sphären, die "sich fremd gegenüberstehen und emotional auseinanderstreben". Das mache es "mühsam, dem Abend zu folgen". Es wäre wohl einfacher, mutmaßt Müller, "Bedeutung nicht zu suchen und sich den Bildern und Tönen zu überlassen", wären nicht so viele der von Castellucci benutzten Zeichen "so traditionell christlich aufgeladen".

"Wenn man nun in der Schaubühne sitzt und der neuesten Theaterzeremonie Castelluccis im Setting einer Klosterwelt beiwohnt, kommt einem der Verdacht, dass er seine Arbeit mittlerweile auf Oberflächenwirkung hin produziert", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (9.3.2015). Was aufklärerisch rebellisch gemeint ist, "erweist sich schnell als aufgeblasenes Kunstgewerbe – wenn auch mit den herrlichsten Schauspielerinnen in den Rollen.

In der Süddeutschen Zeitung (10.3.2015) fragt sich Mounia Meiborg, was wohl der Tiefpunkt der Inszenierung ("klingt nach Groschenroman") gewesen sei. "Castellucci, dem Ästheten, gelingen trotz des Aufwands keine starken Bilder." Alles wirke ungelenk und falsch. Und: "Das Ganze wird mit einem Ernst zelebriert, als handle es sich um einen Gottesdienst."

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