Karrieristen in Dubai

von Anja Baumgart-Pietsch

Wiesbaden, 7. März 2015. Die Weiber, die Weiber! Man vertändelt gar zu viel Zeit mit ihnen. So eine Sentenz am Vorabend des Internationalen Frauentages! Sie stammt von Goethe. Sein Clavigo, der diesen Ausspruch tätigt, ist wahrhaftig kein "Mann mit Eiern", wie es sein Freund Carlos von ihm verlangt. In der bearbeiteten Neufassung des gleichnamigen Trauerspiels von Hakan Savaş Mican und Oliver Kontny am Wiesbadener Staatstheater ist Clavigo ein eher larmoyanter, unentschiedener und unausgesetzt weinerlich dreinblickender Möchtegern-Karriere-Junkie, der über die Leiche seiner Beziehung zu Marie gehen will, um es in Dubai ordentlich zu etwas zu bringen. Dubai? Ja, Regisseur Mican hat das bürgerliche Trauerspiel Goethes nicht nur um ein paar Jahrhunderte in die Gegenwart transportiert, sondern auch um den halben Erdball, von Madrid in die Nahost-Boomtown der heutigen Zeit, wo alle möglichen Europäer versuchen, vom Geld der Ölmagnaten Honig zu saugen.

Dieser Kunstgriff mag zunächst befremden, ist indes Goethe gar nicht so fern, denn auch dieser hatte sich als 24-Jähriger einer literarischen Vorlage bedient, nämlich der Memoiren des Dichters Beaumarchais. "Moderne Aneckdote dramatisirt mit möglichster Simplizität und Herzenswahrheit; mein Held ein unbestimmter, halb gros halb kleiner Mensch", so schrieb Goethe selbst über sein Stück. Eigentlich hat Mican auch nichts anderes getan. Denn ein "unbestimmter Mensch", das ist auch sein Clavigo, Journalist wie im Original. Nur eben kein "königlicher Archivarius", sondern "Medienberater" am Hof des Scheichs. Mit der deutschen Journalistin Marie hat der "kleine Türke mit einem MBA aus Frankfurt" eine Onlinezeitung gegründet. Sie hat ihm zum Berater-Job verholfen, dann ließ er sie fallen, denn eine (spieß)bürgerliche Heirat hätte seinen Ambitionen im Wege gestanden.

clavigo1 560 lena obst uGoethe-Pop unterm Kandelaber © Lena Obst

"The sky's the limit", das wiederholt Clavigo immer wieder, sekundiert von seinem Freund Carlos, der gemeinsam mit ihm eine steile Karriere anstrebt. Frauen sind da nur im Weg. Doch es erscheint ihr Bruder Beaumarchais, der Clavigo erpresst und zu seiner Schwester zurücktreibt, die psychisch labil und tablettensüchtig "die ganze Nacht weint und twittert". Und wieder zweifelt Clavigo. Doch heiraten? Oder nicht? Auf den ersten Blick lockt die sofort willige Marie. Aber dann? Er zaudert, diskutiert, monologisiert... und lässt sich von Karrierist Carlos wieder beeinflussen. Zweite Trennung. Bei Goethe stirbt Marie an gebrochenem Herzen, Clavigo wird vom Bruder im Fechtkampf erstochen. So ein Ende geht natürlich in dieser Fassung gar nicht. Stattdessen trifft man sich irgendwie, Jahre später, wieder, könnte auch online sein, so vage bleibt das Ganze. "Ich bin übrigens nicht weit weg", so der Schlusssatz Maries, und wieder fällt Clavigo keine Antwort ein – dann ist Schluss.

Hakan Savaş Mican inszeniert zum ersten Mal am Wiesbadener Staatstheater. Der 37-Jährige hat sich sowohl als Filmemacher wie auch als Autor und Regisseur am Berliner Ballhaus Naunynstraße und am Gorki-Theater einen Namen gemacht. Sein "Clavigo" basiert nur noch auf Motiven Goethes, der Originaltext ist durchsetzt vom Vokabular der Digital Natives, dem Denglisch der Consultants und dem Zynismus derer, die an nichts mehr glauben außer ans eigene Ego. Das geht nicht immer gut: Viele Szenen bergen ein enormes Pathos, das gelegentlich in unfreiwillige Komik umschlägt. Das merkt dann auch das Premierenpublikum.

clavigo3 560 lena obst uKaputte Marir, schlecht gelaunter Clavigo: Barbara Dussler und Christian Erdt © Lena Obst

Die sechsköpfige Schauspielerriege wird vom Regisseur mit einem schrillen Standbild eingeführt. Historisierende Anklänge bei den Kostümen (Miriam Marto) und eine weiträumige Bühne, die bis auf Kronleuchter, ramponiertem Flügel (auf dem jeder mal spielen darf) und leise flatternden Vorhängen leer ist (Sylvia Rieger), erzeugen einen eher vagen optischen Eindruck, der dem Text die Hauptrolle überlässt. Die Charaktere überzeichnet Mican bewusst heftig. So spielt Christian Erdt einen Clavigo mit ständiger Flunsch im Gesicht, Ulrich Rechenbach einen aalglatten Carlos, Felix Mühlen einen extrem wütenden Beaumarchais, Toomas Täht einen trotz knallpinkem Pullover eher blassen Buenco, Barbara Dussler eine völlig kaputte Marie und Kruna Savic eine durchtriebene Sophie. Echte Gefühle nimmt man keinem ab, oft drohen die Figuren an Manierismen zu ersticken. Elegischen Gesang und tanztheaterartige Einlagen gibt es auch.

Wenn am Ende statt des doppelten Todes der Rückzug ins Private wartet, fragt man sich, ob es tatsächlich ein Schrebergarten und der samstägliche Flamenco-Kurs sein muss. Hier greift Mican unnötig tief in die Klischee-Kiste. Aber vielleicht war der finale Tod beider am eigenen Liebes- wie Erfolgs-Anspruch gescheiterten Protagonisten zu Goethes Zeiten ja nicht weniger klischeebehaftet.

 

Clavigo
von Johann Wolfgang Goethe
in einer Bearbeitung von Oliver Kontny & Hakan Savaş Mican
Regie: Hakan Savaş Mican, Bühne: Sylvia Rieger, Kostüme: Miriam Marto, Musik: Enik, Dramaturgie: Katharina Gerschler.
Mit: Barbara Dussler, Kruna Savić, Felix Mühlen, Christian Erdt, Ulrich Rechenbach, Toomas Täht.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-wiesbaden.de

 

Kritikenrundschau

Viola Bolduan schreibt im Wiesbadener Kurier (9.3.2015), die Aktualität von Goethes Trauerspiel habe der Regisseur für Wiesbaden herausgearbeitet, aber es hätten zu wenige aus der Generation U-30 im Premieren-Publikum gesessen. Das Drama sei an den Persischen Golf emigriert. Da habe der Regisseur "versetzt, aber aktuell gedacht" und thematisiere mit dem Paar Marie/Clavigo zusätzlich "das Problem deutsch-türkischer Integration". "Schöne Ironie verkehrter Verhältnisse": Der Türke sei der Karrierist und eine begabte deutsche Journalistin die zweimal Betrogene. "Wie schlüssig aber ist das?" Es sei eine "Goethe-Fassung für Digital Natives und Immigranten – für Ü-50er verzichtbar, sofern sie nicht neugierig sind auf die Gaze-Vorhänge, durch die hier Fremdes und Neues auf die Bühne weht."

Weniger freundlich Astrid Biesemeier in der Frankfurter Neuen Presse (9.3.2015): "Clavigo" gehöre sicherlich nicht zu "den stärksten Stücken Goethes". Die Aktualisierungen, die der Regisseur und sein Textbearbeiter vorgenommen hätten, machten es aber auch nicht besser. "Im Gegenteil. Der Versuch, die Zerrissenheit zwischen Liebe und Karriere als Begleitumstände von karrieresüchtigen und egomanen Wirtschaftsflüchtlingen zu inszenieren", mache die ganze Sache "eher klein statt aktuell". Aus dem Trauerspiel werde eine "weltläufige Seifenoper von heute".

"Es ist im Grunde albern und auch oberflächlich, konstruiert, nachlässig in der logischen Durchführung. Aber warum ist es trotzdem ganz schön gewitzt?", fragt sich Judith von Sternburg von der Frankfurter Rundschau (11.3.2015). Weil a) der Hauptdarsteller Christian Erdt als "heiterer Intellektueller" Clavigo überzeugt; und weil b) die "Grundidee", Clavigo in die Emirate als Medienberater des Scheichs zu verlegen, "nicht unpfiffig ist und im Theater auch noch nicht überstrapaziert". Zwar "gehen die Aktualisierungsversuche zum Teil gar nicht auf". Doch: "Schnell, wenn auch nicht gerade geistreich wird man dennoch kichern beim Medienkommunikations-Sprech zwischen dem Goethe-Text."

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