In der Ohrmuschel des Heute

von Friederike Felbeck

Köln, 8. März 2015. Auf dem Gelände des Carlswerks, des früheren Kabelwerkes Felten & Guillaume, das vom Schauspiel Köln während der umfassenden Sanierungsmaßnahmen als Interimsspielstätte genutzt wird, haben Mitarbeiter des Theaters einen Garten angelegt: In Kabelkisten und -trommeln wurde – natürlich biologische – Muttererde gefüllt, und nun ragen Setzlinge und Kräuter empor. Unter einem begehbaren grünen Hügel ist die Flanke eines Containers zu sehen. Es ist der Eingang zur kleinsten Spielstätte des Schauspiels Köln, ein Spalier von mehreren in den Erdhügel eingefassten Containern, in die nun ein wie dafür geschaffener Heiner Müller-Doppelabend eingezogen ist. Das Minidrama "Herzstück" paart sich mit dem Revolutionsstück "Mauser" und erzählt paradigmatisch vom Leben und Sterben des typischen Revolutionärs.

Ganz nah dran

Schon einmal wurde Müllers "Mauser", 1980 von Christof Nel im Bühnenbild von Erich Wonder, zu einem Kölner Theaterabend und diente zur Vorlage einer dreieinhalbstündigen Szenencollage – "Die-Heiner-Müller-Horror-Show" titelte damals die Wochenzeitung Die Zeit. Der unverstellte Blick der jungen, 1989 in Österreich geborenen Regisseurin Andrea Imler, die nach eigenen Inszenierungen in Wien in der vergangenen Spielzeit als Regieassistentin ans Schauspiel Köln kam, folgt Müllers Texten an ganz kurzer Leine, aber nicht ohne mutig Ruhe und Pausen zuzulassen und den Texten so Luft zum Atmen zu geben. Die etwa 60 Zuschauer sitzen eng beieinander auf Holzbänken und sind dem Geschehen ganz nah: auf einem Podium aus weiß getünchten Steinen liegt ein schwarz gekleideter Mann wie ein Leichnam. Hinter ihm steht eine Frau in Trauerkleidung. Die beiden geben, ohne Gesten, pointiert und messerscharf Müllers knappen Dialog "Herzstück" – wie oft an diesem Abend lacht das Publikum über den Wortwitz und die überraschenden Wendungen des Textes.

Revolutionsstück mit Schreckenshof

Der darauf folgende "Mauser" spickt das Verhör des Revolutionärs A mit Rückblenden auf Krieg und Überlebenskampf. Imlers Inszenierung verlegt die Stimme des Chors, gesprochen von Annika Schilling, in einen scheppernden Lautsprecher. Sie stellt die "Wissenschaft des Tötens" klar heraus und verleiht dem Stück dabei einen assoziativen Schreckenshof zu ISIS-Kämpfern oder – ganz aktuell – dem Opfertod eines der vermeintlichen Mörder von Boris Nemzov, der sich der Festnahme entzieht, indem er eine Handgranate zündet und dadurch selbst zu Tode kommt.

herzstueck mauser4 560 schauspiel koeln uNiklas Kohrt macht eine charakteristische Handbewegung  © Schauspiel KölnDer Schauspieler Niklas Kohrt, der nach Stationen am Deutschen Theater Berlin und dem Schauspielhaus Zürich nach Köln kam und 2008 von der Zeitschrift Theater heute für seine Darstellung des Bruno Mechelke in Hauptmanns "Die Ratten" zum Nachwuchsschauspieler des Jahres gewählt wurde, gibt eine roboterhafte Menschmaschine, die fremdbestimmt und brain-washed dem Auftrag der Revolution folgt und das Töten zu seiner vornehmsten Aufgabe macht. Erst der rauschhafte Mord an einem seiner Kameraden weist ihn als durchgeknallten Soldaten aus, der für die "Sache" nicht mehr zu gebrauchen ist und hingerichtet werden muss.

Der Mutterschoß, Müllers Schreckenshöhle

Eine burleske Rückblende zeigt Friedrich den Großen, gespielt von der Schauspielerin Lou Strenger, die dem schlichten "Müller aus Potsdam" in einer Lehr-Szene mit Clownsnase den Widerstand gegen die Obrigkeit beibringt und so seinen eigenen Tod provoziert. In einem letzten Tableau lässt Müller den verurteilten Revolutionär in den Armen seiner Mutter enden. Lou Strenger spielt diese übermächtig und monströs, wie sie "den kleinen Victor" wieder zu sich in den Schoß stopfen will – vor der vollständigen Nacktheit des Entwaffneten weicht die Inszenierung zurück. Das nachgesetzte "Landschaft mit Argonauten" liest Kohrt zuerst liegend von pink markierten Textbuchseiten ab und macht es sich dann freisprechend zur eigenen Trauerrede.

Es ist ein distanzierter und kühl-analytischer Abend, der Müllers Texte bis ins Heute verlängert, indem Imler sie schält und abstrahiert. Um wieder volle Fahrt aufzunehmen, fehlt ihnen indes der Boden unter den Füßen oder aber der Link zu dem kleinen Schreibtisch mit Whiskeyflasche(n) und dicken Zigarren, an dem die Zuschauer eingangs vorbeigegangen sind und der wohl der von Heiner Müller sein soll. "Die Grotte", wie das Schauspiel Köln diese spektakuläre Spielstätte tauft, wirkt mit ihren scharf reflektierenden Metallwänden wie eine Ohrmuschel für Müllers Texte, die aus ihrer Entstehungszeit gefallen sind und nun eine beunruhigende Eigendynamik entwickeln.

 

Herzstück / Mauser
von Heiner Müller
Regie: Andrea Imler, Bühne: Franziska Harm, Kostüme: Oscar Sahlieh, Musik: Kai Krösche, Dramaturgie: Nina Rühmeier, Nadja Gross.
Mit: Niklas Kohrt, Lou Strenger und Annika Schilling (Audio). 
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause 

www.schauspielkoeln.de

 

Mehr zu Heiner Müller: Die Gegenwart sieht den einstigen Großdramatiker vorzugsweise in den kleineren Theatern der Peripherie. Im September 2014 inszenierte Pedro Martins Beja das Leben Gundlings in Osnabrück und im Oktober 2014 führte das Theater Plauen-Zwickau Der Auftrag auf.

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